Von Bernadette Conrad
Gleich hinter Neuruppin beginnt der Kuckuck zu rufen. Man hat den Seedamm gequert und blickt von einer malerischen Uferwiese auf der Ostseite des Ruppiner Sees noch einmal zurück.
Nicht, dass es im brandenburgischen Städtchen laut zugegangen wäre. Ganz im Gegenteil scheinen die auffallend breiten Straßen, an denen die zweistöckigen Häuser aus dem 18. Jahrhundert noch zierlicher aussehen, eher nach mehr Betrieb und Geschäftigkeit zu verlangen. Neuruppin wurde als Garnisonsstadt nach einem Brand neu erbaut und tatsächlich war hier bis 1994 Militär präsent. In Fontanes Augen glich die zu seinen Lebzeiten 5000 Seelen zählende Stadt »einem auf Aufwuchs gemachten großen Staatsrock, in den sich der Betreffende, weil er von Natur klein ist, nie hineinwachsen kann. Dadurch entsteht eine Öde und Leere, die zuletzt den Eindruck der Langenweile macht.« Hans-Dieter Rutsch, dessen lebendig geschriebene Biografie Der Wanderer den Dichter vom Neuruppiner Beginn an als Ruhelosen beschreibt, merkt an: »Fontane und Neuruppin hatten es nie leicht miteinander.«
Wie würde Fontane heute auf die Stadt blicken? Würde ihm »Fontane.200« gefallen, die aufwendige Ausstellung, deren Signalgelb überall in der Stadt die wenigen Menschen am heutigen Werktag ins Museum zieht, in der er als ingeniöser Sprachschöpfer gefeiert wird? Wie stünde er zwei Ecken weiter vor seinem Geburtshaus, der Löwen-Apotheke mit dem stattlichen Löwen über der Eingangstür, altmodischen Gardinen im ersten Stock und noch immer Arzneimitteln in den Schaufenstern? Hier meint man sich tatsächlich vorstellen zu können, wie im März 1819 die frischgetrauten Eheleute Emilie Labry und Henri Fontane aus der Kutsche gestiegen waren, um mit dem Hochzeitsgeschenk der väterlichen Familie – der Apotheke – die Familienexistenz zu begründen. Neun Monate später, am 30. Dezember 1819, wurde Theodor als ihr erstes Kind geboren.
»Apotheker auf der Flucht« nennt Iwan-Michelangelo D’Aprile in seinem detailreichen und spannend geschriebenen Buch Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung vielsagend das erste Kapitel. Auf der Flucht vor dem Beruf war zunächst der Vater, Henri Fontane, leidenschaftlicher Autodidakt, der das großstädtische Berliner Leben vermisste und, da ungeheuer belesen, die Studierten »in die Tasche steckte« – wie sein Sohn es später formulierte –, Henri, der aus der Langeweile und Leere des provinziellen Lebens und einer unglücklichen Ehe in die Spielsucht floh. Die erste dieser Fluchten war noch glücklich: Nach dem Verkauf der Löwen-Apotheke erwarb er günstig eine andere im weltoffenen Ostseebad Swinemünde – zumindest für den 8-jährigen Theodor war es ein »Tor zur Welt«: »Daß die Bewohnerschaft allem Spießbürgertum so durchaus fremd war, hatte sicher in manchem seinen Grund, vorwiegend aber wohl darin, daß die gesamte Bevölkerung von ausgesprochen internationalem Charakter war«, schreibt er später. Härter traf es dann den 12-Jährigen, dass die Mutter ihn beim Eintritt ins Gymnasium zurück nach Neuruppin schickte. Nur ein knappes Jahr später wurde er vom Vater abgemeldet und auf eine Berliner Gewerbeschule gegeben, um den Apothekerberuf zu erlernen. Emotional schufen die häufig streitenden Eltern »Verhältnisse, in denen nie etwas stimmte«, so Fontane. In seinem Buch, das neben dem Schriftsteller auch zahlreiche Grundzüge des 19. Jahrhunderts porträtiert, stellt D’Aprile die Frage, ob die große geistige Weite Fontanes, zu der die prinzipielle Skepsis als ein Grundzug gehörte, »eine Einerseits- und Andererseits-Disposition« – ob für diese Persönlichkeitsentwicklung nicht möglicherweise der Grunddissens der Eltern eine wesentliche Rolle gespielt hat. Hier der unkonventionelle, geistig wache, aber auch verführbare Vater, dort die auf Sicherheit bedachte Mutter, der, wie Fontane konstatierte, nicht selten »die Verhältnisse recht gaben«.
Nicht zuletzt aber habe Fontane, so D’Aprile, »aus seiner Kindheit neben solchen Ängsten und Unsicherheiten den Mut, das Selbstwertgefühl und die Unabhängigkeit des ziemlich frei und relativ autonom aufgewachsenen Autodidakten mitgenommen, der sich neugierig und selbstbewusst zwischen den unterschiedlichen Lagern bewegt und, wann immer es geht, zu Reisen an unbekannte Orte aufbricht«.
Reisen und Schreiben. Nicht zuletzt die Verbindung von beidem bildet den roten Faden durch Theodor Fontanes Leben. Zwar ist er noch eine Weile in renommierten Apotheken in Berlin, Leipzig und Dresden tätig, nimmt aber spätestens aus der ersten England-Reise 1844 den dringenden Wunsch mit, sein Leben in einer größeren geistigen Weite zu führen, als sie ihm ein »Normalarbeitsverhältnis« gewähren würde. Nahezu ununterbrochen wird er von nun an Reisefeuilletons verfassen und journalistisch tätig sein; politisch hellwach und in Deutschland kämpferisch aktiv auf Seiten der Revolution. Zeitgleich findet dann mit der wirtschaftlichen Insolvenz und der Trennung der Eltern im Jahr 1850 eine Festlegung der eigenen Verhältnisse statt: Als sich ihm die Möglichkeit einer Anstellung im »Literarischen Kabinett« eröffnet, schreibt er an seine Verlobte Emilie Rouanet-Kummer: »Wenn’s Dir paßt, im Oktober Hochzeit.«
In den 1850er Jahren dann beginnt Fontane, längst fest in Berlin installiert, seine alte Heimat journalistisch zu bereisen. 1861 werden die vielfach als sein Hauptwerk beschriebenen Wanderungen durch die Mark Brandenburg erstmals erscheinen, jene intime, grundlegende Vor-Ort-Auseinandersetzung mit der für ihn so ambivalenten Gegend. Die Mark sei auch eine »Ängstlichkeitsprovinz«, schreibt Fontane; so lieb er sie habe, sie werde »den alten Popelinski-Charakter« nicht los.
Am heutigen Frühlingstag folgt man, am östlichen Ufer des Ruppiner Sees entlangradelnd, nur zu gern dem Ruf des Kuckucks. Verschwiegene Badeplätze mit Wiesen voller Amseln und Gänseblümchen warten, Dörfer mit Fontane-Reminiszenzen: In Wuthenow macht eine Tafel darauf aufmerksam, dass man nach dem gleichnamigen Gutshof aus Fontanes Novelle Schach von Wuthenow vergeblich suche, den habe der Dichter erfunden. Dafür hängt vor dem mittelalterlichen Feldsteinkirchlein in Karwe die Reproduktion einer Seite aus Fontanes Notizbuch, auf der er detailliert Friedhof und Kirche skizziert hat.
In zahlreichen Publikationen wird auf ganz unterschiedliche Weisen das literarische Nachreisen in der Mark Brandenburg versucht. Sehr unterhaltsam liest sich Robert Rauhs Fontanes Ruppiner Land, der nicht nachlässt, bis er genau dieselbe Strecke über den See bis nach Karwe rudern kann, die Fontane beschrieben hat. Seine Hartnäckigkeit führt zu Begegnungen mit ExpertInnen und – wie das beim Reisen so ist – tausend Zufallserlebnissen. Hier verliert sich das joviale Erzählen öfter ins Beliebige. Wo Rauh zu viel preisgibt, ist Therese Schneider, deren sehr spannenden Touren durch die Mark Mit dem Fahrrad auf Fontanes Spuren man gerne folgt, etwas karg mit Informationen. Hier hätten ein paar der vielen auf dem Weg liegenden Fontane-Details gut die Wetterberichte ihrer eigenen Fahrten ersetzen können. Wie sehr gerade in Brandenburg mit seinen kleinen Dörfern, noch existierenden Gutshöfen und Schlössern die Zeiten übereinanderliegen, wird auf schöne Art in Lorenz Kienzles Brandenburger Notizen anschaulich. Darin werden Fontane-Sätze mit Fotos von Heinz Krüger aus den Jahren 1963 und 1970 einerseits und aktuelle, ebenfalls schwarz-weiße Bilder des Fotografen Kienzle andererseits kombiniert und vielerorts scheinbar eingefrorene Zeit eingefangen.
»Romancier im Dienst« nennt Biograf D’Aprile den letzten und bedeutsamsten Lebensabschnitt des Schriftstellers, in dem Berlin als Wohnort und Lebensmittelpunkt, als Stoff und Horizont zentral ist. Unschätzbar, um Fontanes Berlin kennenzulernen, ist deshalb der gleichnamige Band von Bernd W. Seiler, der »Die Hauptstadt in seinen Romanen« vorstellt, indem er so detailversessen wie Fontane selbst in alten Stadtplänen und Fotos Spuren und Zusammenhänge sucht. Was Melanie von Straaten (L’Adultera) sah, wenn sie aus dem Fenster schaute, oder was Effi Briests Mutter meinte, wenn sie feststellte: »Der Geheimrat ist kein Trockenwohner«, Seilers Berlin-Porträt macht die Verortung von Autor und Werk zu einer Lesefreude. Nicht nur am Rande erfährt man, dass Fontane selbst mehrfach ein »Trockenwohner« war, der sich mit vier Kindern ein rundum komfortables Wohnen nicht leisten konnte. »Als Schriftsteller wirtschaftlich erfolgreich war Fontane im Grunde nie«, schreibt Seiler. Ein Vielschreiber nicht nur aus Besessenheit, sondern auch aus Notwendigkeit, verstand er es dennoch immer, seine Weltneugier und Reiseleidenschaft auch für die Arbeit nutzbar zu machen.
Fontanes Sommerfrischen heißt ganz folgerichtig der ebenfalls bildstarke Band, in dem Seiler die vielen Reisen des Dichters ins Riesengebirge, an Ost- und Nordsee, nach Bayreuth, Dresden und Karlsbad und ihre literarischen Erträge beleuchtet.
Dass er ein ganz und gar eigener Kopf war, dem lesend und reisend zu folgen sich bis heute lohnt, wusste Fontane eigentlich schon selbst: »Es ist nichts Auswendiggelerntes, nichts Schablonenhaftes in mir«, äußerte er einmal selbstbewusst, »ich bin ganz selbständig im Leben, Anschauung und Denkungsart.« Davon ist man vor allem überzeugt, wenn man, den Ruf des Kuckucks im Ohr, von Wustrau am Ruppiner See den Zug zurück nach Berlin nimmt.
Iwan-Michelangelo D’Aprile, Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 544 Seiten, 28 Euro
Hans-Dieter Rutsch, Der Wanderer. Das Leben des Theodor Fontane. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 332 Seiten, 26 Euro
Therese Schneider, Mit dem Fahrrad auf Fontanes Spuren. Radwanderungen durch die Mark Brandenburg. be.bra Verlag, Berlin 2019. 256 Seiten, 16 Euro
Robert Rauh, Fontanes Ruppiner Land. Neue Wanderungen durch die Mark Brandenburg. be.bra Verlag, Berlin 2019. 382 Seiten, 26 Euro
Bernd W. Seiler, Fontanes Berlin. Die Hauptstadt in seinen Romanen. Verlag für Berlin Brandenburg vbb, Berlin 2012. 190 Seiten mit zahlreichen Abb., 25 Euro
Ders., Fontanes Sommerfrischen. Quintus Verlag, Berlin 2018. 184 Seiten mit zahlreichen Abb., 28 Euro
Lorenz Kienzle, Brandenburger Notizen. Fontane – Krüger – Kienzle. Mit einem Nachwort von Gabriele Radecke. Verlag für Berlin Brandenburg vbb, Berlin 2019. 160 Seiten, 25 Euro
Theodor Fontane wird zitiert nach der achtbändigen Werkausgabe im Aufbau-Verlag sowie den Autobiografischen Schriften, hrsg. von Gotthard Erler u. a., die im Jubiläumsjahr auch in Einzelausgaben als Aufbau-Taschenbücher erschienen sind.
Seit dem 30. März und bis zum 200. Geburtstag Theodor Fontanes am 30. Dezember 2019 präsentieren zahlreiche Programmpartner aus Kultur, Bildung und Wissenschaft in Brandenburg ein breit gefächertes Veranstaltungsprogramm unter dem Titel »fontane.200«. Neuruppin steht mit der Leitausstellung im Museum, den Fontane-Festspielen, interaktiven Jugendprojekten und einem umfangreichen Rahmenprogramm im Zentrum. Zudem laden eine Sonderausstellung im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam, der Kongress des Theodor-Fontane-Archivs der Universität Potsdam und die Theodor-Fontane-Gesellschaft dazu ein, Fontanes vielfältiges Wirken zu erleben.
Bernadette Conrad, geboren 1963, arbeitet von Berlin aus als Literatur- und Reisejournalistin für DIE ZEIT, das Schweizer Radio SRF u.a. Zuletzt erschien ihr Buch Groß und stark werden. Kinder unterwegs ins Leben. Gespräche mit Cornelia Funke.