Wolfgang Alber
Poesie ist Gedankenflug. Gustav Mesmer baute Fluggeräte, mit denen er die Schwerkraft zwar nicht überwinden, aber in einen Phantasiehorizont aufsteigen konnte. Nun zeigt ein opulenter Band mit über tausend Werken aus dem Nachlass, wie der 1994 gestorbene »Ikarus vom Lautertal« mit Objekten, Zeichnungen und Texten sein poetisches Gedankengebäude errichtete.
Zu den zahlreichen Veröffentlichungen kommt ein Opus magnum hinzu, mit dem die Kirchentellinsfurter Gustav Mesmer Stiftung bislang unveröffentlichte Arbeiten zugänglich macht: Skizzen, Porträts, Landschaftsbilder, schwarzweiß oder farbensatt, eigenwillige Gedichte und Traktate. Die (teilweise transkribierten) Handschriften zeigen einen Schreiber, der Gedanken in Bild-Text-Erzählungen verfertigt. Als besonderer Clou ist dem Band der »Tagesfilm« beigegeben: Eine ursprünglich 14 Meter lange Tapetenrolle mit Flugrad-Konstruktionszeichnungen, die sich wie ein Filmstreifen abspulen lässt, wurde auf knapp 5 Meter verkleinert.
Das Buch gibt einen Einblick in Mesmers Imaginationsvermögen und Entwicklungsphasen, erklärt, ohne zu verklären, denn spätestens nach der Weltausstellung in Sevilla 1992, auf der sein Flugrad zu sehen war, wurde Mesmer zu einer Ikone der Art brut, der Kunst von Außenseitern. Damit verbunden ist vielfach das Klischee einer aus dem Raster fallenden, verrückten Sichtweise; und auf der Suche nach der verlorenen Unschuld kindlicher Phantasie finden sich Projektionen vom naiv-unbewussten, letztlich empfindsameren Zugang zur Welt.
Mesmers Werk lässt sich indes ohne Stilisierung weitgehend biografisch erklären aus einer Lebenslinie zwischen Bevormundung und Befreiung, Erkrankung und Eigenständigkeit. Die Vision des in sich gekehrten Mannes resultiert aus dem Überwinden äußerer Hindernisse, dem Überschreiten einengenden Denkens.
Mesmer kommt 1903 als eines von zwölf Geschwistern im oberschwäbischen Altshausen zur Welt. Er verdingt sich zunächst bei Bauern, dann lässt er sich zum Eintritt ins Kloster Beuron überreden. Sechs Jahre hinter Mauern, »bis alle Himmelsherrlichkeit zerfiel, Krank wurde, halb Geistesgestört«, schreibt er 1962 in seiner »Biographi unbekannt« mit der ihm eigenen, unorthodoxen Orthografie. Als er dann noch das Sakrileg begeht, einen Gottesdienst zu stören, wird er in die Psychiatrie nach Schussenried eingewiesen, ein Arzt diagnostiziert Schizophrenie. 35 Jahre lang ist Mesmer weggesperrt, in der Anstaltsbuchbinderei entkommt er mit Glück den NS-Euthanasiemorden.
Fluchtversuche bleiben erfolglos, aber als Mesmer in einer Illustrierten Flugräder sieht, überwindet er die Grenzen seines Daseins. 1932 findet sich ein Vermerk in der Krankenakte: »Hat eine Flugmaschine erfunden, gibt entsprechende Zeichnungen ab.« Erst 1964 wird Mesmer in ein selbstbestimmtes Leben ins Landheim Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb entlassen. Dort arbeitet er als Korbflechter, konstruiert in seiner Freizeit Musikinstrumente wie die »Trompetengitarre«, Sprechgeräte wie die »Schwätzmaschine«, vor allem aber Aeroplane aus Recyclingmaterial wie das »Doppeldrachen Flugrad« oder den »Schirmhubschrauber«.
Seine Entwürfe erscheinen wie ein Plädoyer für ökologisch-flexiblen Individualverkehr und lassen an den Schirm denken, mit dem der fliegende Robert im Struwwelpeter in die Lüfte entschwindet, allerdings in Mesmers Fall mit Absicht: »Ich will mit meinem Fahrrad von Ort zu Ort fliegen, wohin ich will.« Dass er tatsächlich in die Luft ging, lässt sich aufgrund des schweren Fluggeräts bezweifeln; Phantasie ist das eine, Physik das andere. Einmal, so hat er mir erzählt, habe ihn eine Windböe erfasst und mit seinen Schwingen 50 Meter weit getragen: »Aber es war zu schnell vorbei.«
Schon als Junge hatte der im nahen Apfelstetten aufgewachsene Herausgeber Stefan Hartmaier den Tüftler in Buttenhausen kennengelernt und Mesmer wurde zum Lebensthema des Grafikers und Fotografen. Er organisierte Ausstellungen, publizierte Bücher und gründete die Gustav Mesmer Stiftung, die sich um die Erschließung und Erhaltung der Dokumente und Objekte kümmert.
Im Zürcher Verleger Patrick Frey, dessen Publikationen mehrfach als schönste Schweizer Bücher prämiert wurden, hat Hartmaier einen Gleichgesinnten gefunden. Mit dem großformatigen Band ist beiden ein Gesamtkunstwerk gelungen: Die großzügige Layoutgestaltung und brillante Fotos von Stefan Hartmaier und Franco Zehnder machen daraus ein Lese- und Schauvergnügen.
Mesmers Kunst lässt sich kaum mit Werken der Prinzhorn-Sammlung vergleichen, auch mit Leo Navratils psychiatrischem Diktum einer »zustandsgebundenen Kunst« ist sie nicht gänzlich zu fassen. Mesmers Erfindergeist ist so spielerisch wie zielgerichtet, darin zeigt sich eine Nähe zu Jules Vernes Science-Fiction. Auch »Ikarus« ist für Mesmer der falsche Begriff, denn im Gegensatz zur griechischen Mythenfigur stürzte er nie ab auf dem Höhenflug, sondern ließ seinen Geist frei schweben. Mit seinen Entwürfen für Bahngleise in der Landwirtschaft oder einen schwebenden Zug ist er eher ein Leonardo vom Lautertal.
Ebenfalls beeindruckend sind lautmalerische Wortschöpfungen wie »Langstelldeck« oder »Trasselgetriebe«, die sich beim Lesen und Betrachten konkretisieren; bisweilen kreiert Mesmer so sinnfällige Wörter wie »beaugapflen«. Manche Gedichte erinnern durch ihren fragmentarischen Charakter an Hölderlin’sche Satzbruchstücke: »Berghoch auf Felsigem Grund Stundet Kapelle alt / Schafeshaus – Kalkweil der Be- / zeichnung, bedeutender Umgebung – Kund.« Mesmer entwirft auch Briefe, so an den damaligen Ministerpräsidenten Hans Filbinger: »Ob Herr Minister President, Interesse u. Lust / Hätten einmal zu fliegen, oder Fahren / mit meinem Konstruierten Flugfahrrad.« Englischkenntnisse setzt er in einem fiktiven Schreiben an den Sender BBC um: »High Honöurable Headmaster of Rundfunk Bisisi!« Wichtig ist ihm schließlich die sprachliche Verbindung von Flugtechnik und Religionsphilosophie, in seinem Kosmos ist Fliegen ein Medium der Transzendenz und Gottesnähe.
Neben Hartmaiers Vorwort erläutern drei Essays Mesmers Welterkenntnis, seine Bildikonografie, Schreib- und Denkstruktur; etwas störend sind dabei biografische Wiederholungen sowie Überschneidungen beim Thema Sprache. Franz Xaver Ott, Autor, Schauspieler und Regisseur am Melchinger Theater Lindenhof, widmet sich mit Mesmers Formulierung »Der unbekannte Geistes Arbeiter« dem schriftlichen ?uvre, das »Formulierungsfindungen« betreibe, um einen Gegenstand angemessen zu beschreiben: »Es fühlt sich beim Lesen so an, als ob Mesmers inneres Sprechen von ihm ganz unverstellt aufs Papier gebracht werden konnte.«
Die Lausanner Kunsthistorikerin Lucienne Peiry beschäftigt sich mit »Fliegen, der Traum vom Ausbrechen und Auffahren«. Sie sieht in Mesmers Maschinen »Werke des Überlebens«, die Flugutopie habe ihm ermöglicht, sein Schicksal zu sublimieren. Peiry erinnert an Jean Dubuffet, der über Art-brut-Künstler sagt: »Die Unwissenheit verleiht ihnen Flügel.« Im Unterschied dazu verfügte Mesmer aber über ein Wissen, das sich aus der Vorstellungskraft speiste.
Die Augsburger Künstlerin Juliane Stiegele überschreibt ihren Beitrag mit dem Mesmer-Satz »Wo die Schule versagt, geht das ganze Leben einen Nebenweg«. Für sie ist Mesmer nicht an der Gesellschaft gescheitert, sondern diese an ihm. Es sei ihm stets um die »Mischung aus realisiertem Traum und Funktionalität« gegangen: »Die Ästhetik rutschte hintennach – und überzeugt doch in traumwandlerischer Sicherheit.« Im Alter sei Mesmer, dem Stiegele auch »visuellen Humor« attestiert, dann »mehr und mehr von Poesie erfüllt«.
Mesmer ist mit einem engen Literatur- und Kunstbegriff nicht zu fassen, seine Bildwelten und Sprachfiguren haben autonome Qualität. Seine Poesie regt Schriftstellerinnen und Schriftsteller an und macht ihn zum literarischen Subjekt: so in Volker Reiles Hörspiel »Gustav Mesmer – Ikarus vom Lautertal genannt« und Michael Lichtwarck-Aschoffs Geschichten Hoffnung ist das Ding mit Federn, oder in Tina Strohekers Gedicht »Gustav Mesmers Flugrad«: »Wir sehen ihm nach / etwas ist schwer an uns / wir atmen tief durch / wir könnten glauben / an Flügel.«
Zum Weiterlesen:
Stefan Hartmaier (Hrsg.), Gustav Mesmer – Ikarus vom Lautertal genannt. Edition Patrick Frey, Zürich 2019. 547 Seiten, rund 400 Abbildungen, 83 Euro
Wolfgang Alber, geboren 1948, war langjähriger Redakteur beim Schwäbischen Tagblatt Tübingen und lebt als freier Autor in Reutlingen. Er ist (Mit-)Herausgeber der Albgeschichten und der Geschichten aus Hohenlohe sowie von Gustav Schwabs Landschaftsbildern. Zuletzt erschienen: Typisch schwäbisch mit Sepp Buchegger und gemeinsam mit Andreas Vogt Württemberger Weingeschichten sowie Schwaben in 33 Zitaten.