Von Irene Ferchl
Nora Krugs ungewöhnliches Heimatbuch
Auf Seite 29 – ungefähr, denn es gibt in diesem Buch keine Paginierung – steht der Satz »Wie kann man begreifen, wer man ist, wenn man nicht versteht, woher man kommt?« Der Satz ist geteilt, halb steht er im Himmel, halb auf dem dunklen Grund, dazwischen der Wanderer über dem Nebelmeer aus Caspar David Friedrichs Gemälde, 1818, vor zweihundert Jahren entstanden. Auf der gegenüberliegenden Seite findet sich die Definition des Begriffs »Heimat« aus dem Brockhaus, handschriftlich notiert.
Heimat lautet der Titel des vermutlich ungewöhnlichsten Buchs aus der letzten Zeit, das, mit »Ein deutsches Familienalbum«, untertitelt jegliche Genrezuweisung sprengt, nichts und gleichzeitig alles ist: Entwicklungsroman, Vergangenheitsrecherche, Spurensuche, Kindheitserinnerung, Dokumentensammlung, mit Fotos und Zeichnungen illustriertes Tagebuch – kurzum: eine riesige Collage über die Geschichte einer Familie im Zweiten Weltkrieg und das, was bis heute damit zusammenhängt.
Darin finden sich Sätze wie: »Auch die Heirat mit meinem jüdischen Mann ändert nichts an meinem Schamgefühl.« Aber auch: »Nach meinen zwölf Jahren in Amerika fühle ich mich deutscher als jemals zuvor.« Die so empfindet und es ungeschützt formuliert, ist die 1977 in Karlsruhe geborene, in New York lebende Autorin, Illustratorin und Design-Professorin Nora Krug, in den USA mit Graphic Novels, Film-Animationen und Bildergeschichten unter anderem für die New York Times bekannt geworden.
Die fast dreihundert Seiten hat sie Buchstabe für Buchstabe eigenhändig geschrieben, Bilder gezeichnet, Fundstücke eingeklebt und diese »Handarbeit« macht das Buch auf besondere Weise authentisch, neben der lesenswerten Geschichte und den dazwischengestreuten Seiten »Aus dem Notizbuch einer heimwehkranken Auswanderin« mit einem Katalog der deutschen Dinge von Hansaplast über den Wald, das Brot und die Gallseife bis zu Uhu oder den »Flohmarktfunden einer Erinnerungsarchivarin.«
Vielleicht lässt sich Heimat überhaupt nur individuell und subjektiv auf den Begriff bringen?
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Michael Roes und Markus Daum im Dialog
»Meine Heimat ist ein Körper, der sich offen in einem Gegenüber spiegelt – mehr Frage als Antwort, aber noch lange nicht fragend genug.« Diesen Satz setzt der Bildhauer Markus Daum gewissermaßen als Motto über das Katalogbuch, das gemeinsam mit und auf der Basis des Essays Der Körper des Fremden von Michael Roes entstanden ist. Angeregt von diesem Text, der wiederum von zwei Romanen – Daniel Defoes Robinson Crusoe und Michel Tourniers Freitag oder Im Schoß des Pazifik – beeinflusst wurde, hat Markus Daum in den vergangenen zwei Jahren einen Zyklus von Tuschezeichnungen geschaffen, die je nach Blickwinkel Köpfe, Leiber, Engel, Körperlandschaften darstellen, oft starkfarbig und nah an der Abstraktion.
Es bedarf beim Betrachten der Ausstellung im Gaienhofener Hesse Museum und beim Blättern im sehr erlesenen gestalteten Katalog intellektueller und assoziativer Anstrengung, um das Gemeinschaftsprojekt zu würdigen und überhaupt zu begreifen – allzu leicht erscheint es einem sonst als lieber schnell beiseite zu legender Fremdkörper.
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Ivan Turgenev, Russland und Europa
Mit Heimat und Fremde hat, wenn auch in völlig anderer Art, die Ausstellung anlässlich des 200. Geburtstags von Ivan Turgenev zu tun, die das Stadtmuseum Baden-Baden gemeinsam mit der Universität Freiburg konzipiert hat. Ihnen ist eine reizvolle und besuchenswerte Inszenierung im ganzen Haus geraten, in der einerseits das Leben und Schaffen des großen Schriftstellers gewürdigt und seine Freundschaften zu KünstlerInnen dargestellt, andererseits die kulturellen Beziehungen zwischen Russland und West-Europa in ihren Gemeinsamkeiten und Konflikten thematisiert werden. Man nimmt hier gern ausliegende Blätter mit Turgenev-Textauszügen und eine Vielzahl von Eindrücken über unterschiedliche Lebens- und Denkweisen, das Reisen oder die Kommunikation im 19. Jahrhundert mit.
Zum Weiterlesen und Schauen:
Nora Krug, Heimat. Ein deutsches Familienalbum. Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House, München 2018. 288 Seiten, 28 Euro
HALB INNER HALB AUSSER HALB. Der Körper des Fremden. Essay von Michael Roes, Zeichnungen von Markus Daum.
Die Ausstellung ist bis 10. Februar im Hesse Museum Gaienhofen zu sehen (www.hesse-museum-gaienhofen.de), die gleichnamige Publikation (drei Bände im Schuber) erscheint in einer limitierten Auflage im modo Verlag, Freiburg i. Br. 2018. 362 Seiten, 98 Euro
Russland in Europa. Europa in Russland. 200 Jahre Ivan Turgenev.
Die Ausstellung ist bis zum 30. März im Stadtmuseum Baden-Baden zu sehen, das Begleitbuch kann man dort oder über die Stadtbibliothek für 20 Euro erwerben (www.stadtmuseum-baden-baden.de).