Von Gunther Nickel
Mit der Feststellung, er sei »so etwas wie der Geschichtenerzähler der Nation«, beginnt ein 2001 veröffentlichtes Interview, das der Journalist und Literaturwissenschaftler Ernst Grohotolsky mit Michael Köhlmeier geführt hat. Diese Charakterisierung war (und ist) in gewissen Kreisen nicht unbedingt ein Lob. Jedenfalls sei, so damals Grohotolsky, in der Zeit, als Köhlmeier mit dem Schreiben begonnen habe, »das Geschichtenerzählen ja geradezu verpönt« gewesen. Köhlmeier stimmte dem zu und erläuterte: »Es war da […] diese Doktrin, dass man hinter die Erzählhaltung eines Joyce nicht zurückkann, wobei ich mir sicher bin, dass das auch so ist. Aber Joyce ist nicht schulfähig.«
Sicher war sich Köhlmeier schon 1999 in einem Gespräch mit Alexandra Binder aber auch, dass »das Bedürfnis zu erzählen und erzählt zu bekommen […] nicht gebrochen werden kann«. Das ist ein Grund, warum er damit begann, im Rundfunk Sagen des klassischen Altertums, biblische Geschichten oder die Nibelungensage nachzuerzählen. Das Publikumsinteresse war so groß, dass Verlage aus diesen Nacherzählungen Bücher machten, die dann Bestseller wurden. Zwar mag Erzählen, wie Walter Benjamin in seinem Essay Der Erzähler befand, durch »säkulare geschichtliche Produktivkräfte« anachronistisch geworden sein, eine eminente soziale Funktion kann es immer noch erfüllen, und das ganz ohne sich mit engagierter Literatur in irgendeiner Weise zu verschwistern. Das Erzählen als performative Veranstaltung hat Köhlmeier immer weiter perfektioniert. Er liest nicht etwa nur aus Büchern vor, sondern er erzählt auch ohne Manuskript auf offener Bühne mythische Erzählungen oder Märchen nach, dabei wie ein Jazzmusiker immer ein bisschen improvisierend. Mit dem Philosophen Konrad Paul Liessmann tritt er zudem im Duo auf: Erst erzählt Köhlmeier eine Geschichte, dann interpretiert sie Liessmann – ebenfalls ohne Manuskript.
In einem Roman kann Erzählen, wie Köhlmeier immer wieder zeigt, jedoch noch mehr als fesseln und unterhalten. In Spielplatz der Helden (1988) etwa lässt er drei Teilnehmer einer Grönland-Expedition nacheinander von ihren Erlebnissen berichten und zeigt, dass dieselben Geschehnisse sich aus unterschiedlichen Perspektiven deutlich anders darstellen.
Mit dem 2007 erschienenen Roman Abendland erfuhr die bis dahin für Köhlmeier charakteristische Polyperspektivierung lebensgeschichtlicher Erzählungen eine Erweiterung ins Autoreflexive und Metafiktionale, die aber nie so aufdringlich wird, dass sie die Anmutung erzählerischer Fülle und Leichtigkeit gefährdet. In Abendland tritt mit Sebastian Lukasser, einem fiktiven Schriftsteller, auch erstmals eine Figur in Erscheinung, die in drei weiteren Romanen eine mal mehr, mal weniger tragende Rolle spielt: in Madalyn (2010), in Die Abenteuer des Joel Spazierer (2013) und in Bruder und Schwester Lenobel (2018).
In Abendland berichtet Lukasser darüber, wie der fiktive Mathematiker Carl Jacob Candoris kurz vor seinem Tod den Wunsch nach einer Biografie an ihn heranträgt und wie er ihn zu erfüllen versucht. Zunächst führt er Gespräche mit Candoris, die er mit einem Tonbandgerät aufzeichnet, unternimmt aber auch Recherchen und notiert Überlegungen zum biografischen Schreiben und eigene Erinnerungen.
Weil Candoris ein Freund und Förderer der Familie ist, kennt er Lukasser von Kindheit an, weshalb der Roman mit einer frühen Kindheitserinnerung Lukassers beginnt und neben der Biografie des Schriftstellers auch ausführlich die seines Vaters ins Blickfeld nimmt, eines Wiener Jazzmusikers, den Candoris unterstützt hat. Das biografische Unterfangen wird indes zunehmend heikel. Zum einen gewinnt Lukasser den Eindruck, Candoris habe ihn bei den Gesprächen über sein Leben manipuliert. Zum anderen beginnt Lukasser an der Authentizität seiner eigenen Erinnerungen zu zweifeln: »Ich erinnere mich – und das heißt wohl auch, ich lüge mir eine Ordnung in die Dinge.«
Die Frage nach der Wahrheit und mit ihr die nach dem Sinn und der Funktion des Erzählens spielt auch in dem Roman Madalyn eine wesentliche Rolle, in dem Sebastian Lukasser über die von vielen Schwierigkeiten begleitete Liebesgeschichte zwischen der 14-jährigen Madalyn Reis und ihrem Mitschüler Moritz berichtet. Moritz dichtet sich immer wieder die Wirklichkeit zurecht und gefährdet damit nicht nur Madalyns Vertrauen in ihn. Was aber, fragt sich Lukasser, unterscheidet diesen dann eigentlich von ihm als Schriftsteller, »dem jeder glaubt, auch wenn er lügt«. Diese Selbstreflexion greift aus bis in schreibtechnische Fragen: Bei einem Interview, das Madalyn mit ihm als Hausaufgabe für die Schule führt, gibt Lukasser Auskunft über den Roman, an dem er gerade arbeitet, »der Geschichte eines Mannes, der im Alter von – ›ja, ungefähr in deinem Alter, Madalyn, ein bisschen älter nur‹ – einen Mord begangen« habe. Dabei sei die größte Schwierigkeit beim Schreiben, wer die Geschichte erzähle: »Der Mörder selbst oder ein allwissender Erzähler, oder ob ich, Sebastian Lukasser, sie erzählen soll.«
Bezogen ist diese Frage unverkennbar auf den drei Jahre nach Madalyn veröffentlichten Roman Die Abenteuer des Joel Spazierer, den dann, zumindest vorgeblich, nicht Lukasser erzählt, sondern der Mörder, ein notorischer Lügner, der es sich zur Maxime gemacht hat, »dass es bei der Beantwortung einer Frage nicht darauf ankommt, die Wahrheit zu sagen«, sondern vielmehr darauf, »den Frager in Erstaunen zu versetzen, indem man genau das sagt, was er hören will«.
Lukasser tritt in diesem Roman als Berater des Ich-Erzählers in Erscheinung. So rät er, »eine ›barocke rhetorische Figur‹ in die Erzählung einzuflechten, auch damit der belesene Leser in seiner Vermutung bestärkt werde, es handle sich […] um einen ›Schelmenroman‹«. Und tatsächlich ist der Roman wie der traditionelle pikarische Roman eine fiktive episodenhafte Autobiografie einer bauernschlauen Figur, die – angeblich – 1949 als András Fülöp in Budapest geboren wurde und den Leser nach über einem Dutzend Identitätswechseln aus ihrer Geschichte entlässt, nachdem sie beschlossen hat, ihr Leben unter dem Namen Ernst-Thälmann Koch in der DDR zu beenden und, wieder einmal, ein neues zu beginnen.
Dass es nicht abwegig ist zu behaupten, Köhlmeiers Prosa lägen literatur- und insbesondere gattungstheoretische Überlegungen zugrunde, zeigt sein Buch Von den Märchen (2018), das auch Auskünfte Köhlmeiers über seinen Bildungsweg und eine Selbstbestimmung als – im Sinne Schillers – zugleich naiver und sentimentalischer Erzähler enthält. Sentimentalisch sei sein Erzählen, weil er beständig über die Gegenstände und die Reaktionen des Publikums nachdenke und aus Beobachtungen und Überlegungen Konsequenzen ziehe. Zugleich bleibe er ein naiver Erzähler: »Der Erzähler muss sich selbst ebenso zum Staunen bringen wie den Zuhörer, er muss sich selbst bezaubern, er muss sich selbst fesseln. […] So gesehen ist Erzählen eine Art Geisteskrankheit.«
In Köhlmeiers vorläufig letztem Roman, Bruder und Schwester Lenobel, ist von einer anderen Form der Geisteskrankheit die Rede, einer, von der ausgerechnet Spezialisten für Geisteskrankheiten nach dem Befund von Robert Lenobel nichts verstehen: »Der Psycholog kann alles und weiß alles, nur verlieben kann er sich nicht. […] Also erklärt er die Liebe zu einer Geisteskrankheit.« Den Robert Lenobel, der sich dergestalt äußert, kennen Köhlmeier-Leser schon aus anderen Büchern von ihm. Erstmals taucht er in Nachts um eins am Telefon (2005) auf. In Abendland berichtet Sebastian Lukasser von Lenobels Ansicht, »gute Philosophen seien Dichter, mit Wahrheit habe ihr Aufwand nicht das Geringste zu tun; der ewige Schmarren aus Wer-bin-ich?, Woher-komme-ich? Und Wohin-gehe-ich? Werde uns immer nur von den Zweit-, Dritt- und Viertrangigen aufgetischt, daran seien diese nachgerade zu erkennen«.
In Bruder und Schwester Lenobel wird auch Robert Lenobel von Fragen, die er mal als »ewigen Schmarren« abgetan hat, eingeholt. Er muss nämlich zu seinem großen Erschrecken feststellen, dass er eine Ehe führt und Vater von Kindern geworden ist, ohne seine Frau je geliebt zu haben. »Aber ich habe«, erklärt er, »doch geglaubt, ich liebe sie.« Wie konnte ich, fragt er sich nun, mir das einreden? Robert Lenobel macht sich auf eine Suche nach seinen Wurzeln. In seinem Fall sind es jüdische Wurzeln. Und nicht von ungefähr plant er, ein Buch über den französischen Anthropologen, Philosophen und Literaturwissenschaftler René Girard und dessen Untersuchungen zum Phänomen des Sündenbocks zu schreiben. Denn seine Familiengeschichte ist gekennzeichnet dadurch, dass Nationalsozialisten Juden zu Sündenböcken machten. Die jüdischen Großeltern mütterlicherseits wurden deshalb im KZ ermordet; die jüdischen Großeltern väterlicherseits flüchteten zwar nach Israel, nahmen sich dort dann aber das Leben.
»Ich als Jude«, erklärt Robert Lenobel einmal einem »Gojim«, der ausgerechnet David heißt, »bin anders als Sie, der Sie ein Nichtjude sind. Und umgekehrt.« Wenig später fügt er allerdings hinzu: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich so denke [...]. Manchmal denke ich wirklich so, manchmal spreche ich den Gedanken nur aus, um mich zu vergewissern, daß ich nicht so denke. [...] Man hat so viele Gedanken im Kopf, und sie sind ja nicht mit Farben markiert – rot die fremden, blau die eigenen. Wie soll man sie auseinanderhalten. Es ist so schwer. Man soll sie aussprechen.«
Unausgesprochen bleibt freilich, wie sehr die jüdische Herkunft und das Familienschicksal Robert Lenobel und seine Schwester Jetti überhaupt geprägt haben. Deutlich wird lediglich, dass nicht nur Robert, sondern auch die berückend schöne Jetti Lenobel Liebesbeziehungen eingeht, die keine Liebesbeziehungen sind – bis sie, spät genug in ihrem Leben, eine Liaison mit Sebastian Lukasser beginnt, die tatsächlich glücklich zu werden verspricht. Robert Lenobel dagegen findet am Ende bei seiner Identitätssuche eine dialektische Lösung für sein Problem: »Ich bin der Jude, wie er im Buch steht, nämlich all das, was er nicht ist und nicht sein will.« Ob ihm diese Einsicht weiterhelfen wird, bleibt offen – vorerst jedenfalls. Denn es wäre fast schon erstaunlich, wenn wir in einem der nächsten Romane Köhlmeiers nicht erfahren würden, wie diese Geschichte weitergeht.
Zum Weiterlesen:
Nachts um eins am Telefon. Deuticke Verlag, Wien 2005
Abendland. Roman. 2007
Madalyn. Roman. 2010
Die Abenteuer des Joel Spazierer. Roman. 2013
Bruder und Schwester Lenobel. Roman. 2018
Alle bei C. Hanser, München
Von den Märchen. Eine lebenslange Liebe. Haymon Verlag, Innsbruck 2018
Gunther Nickel lehrt als Professor Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Mainz und ist als Lektor und stellvertretender Geschäftsführer für den Deutschen Literaturfonds e. V. in Darmstadt tätig.