Von Beate Tröger
Behaglich einrichten kann man sich in dieser Literatur nicht, weder in den Bänden des Romanprojekts »Ortsumgehung«, an dem Andreas Maier seit Jahren arbeitet, noch in den vorangegangenen, weniger explizit autobiografischen Büchern. Auch nicht in dem Essayband Bullau. Versuch über Landschaft, den er zusammen mit seiner Frau, der Theologin Christine Büchner, geschrieben hat.
Der studierte Altphilologe, Germanist und Philosoph Andreas Maier, 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren, nach Stationen in Friedberg und Frankfurt am Main heute in Hamburg lebend, schreibt engagiert insofern, als er die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen für sich und die Welt aufwirft. Die Hauptfigur in Kirillow, einem Roman, der im studentischen Frankfurter Milieu der frühen 1990er Jahre angesiedelt ist, fährt zum Demonstrieren nach Gorleben. Im Roman Klausen wollen Umweltaktivisten ein viel befahrenes Viadukt sprengen. Doch mit Öko-Literatur hat das alles trotzdem wenig zu tun: In unterschiedlichen Tonarten, Lebensphasen der Figuren und Umgebungsbedingungen wird dekliniert, wie sich das Ich in der Welt verortet und welches Leben es zu führen in der Lage ist oder zu führen sich wünscht und dabei an der Realität abprallt.
Es gibt eine Welt ohne uns
Maiers Literatur ist eine des Nicht-einverstanden-Seins: mit dem räuberischen Umgang mit der Natur und den Ressourcen, mit Formen menschlichen Handelns. Davon künden auch seine journalistischen Texte im SPIEGEL, in der ZEIT, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in seiner Kolumne »Neulich« im Magazin Volltext. In einem Artikel nach dem Atomunfall von Fukushima waren Sätze zu lesen, die neben einer Kritik an den Lebensbedingungen auch eine melancholische Sehnsucht nach einer Welt, in der es anders wäre, zum Ausdruck bringen: »Der, um es als Eichendorff-Nachfahre zu sagen, entscheidende Erkenntnismoment war etwa folgender. Schlagt die Weltliteratur auf, wo ihr wollt, bis etwa zum Zweiten Weltkrieg […]. Da gibt es reihenweise Katastrophen und Mord und Totschlag, aber immer gibt es jenseits aller Menschendinge Gänge durch eine davon nicht berührte, mächtige, universale, unangefochtene Natur. Es gibt ein Land für die Seele. Immer. Es gibt eine Welt ohne uns, immer.«
Indem Maier sich auf Eichendorff bezieht, den Verlust einer unberührten Natur, einer »Welt ohne uns« beklagt, den Wunsch nach einem »Land für die Seele« utopisch zum Ausdruck bringt, stellt er sich in die Tradition der Romantik. Man könnte für einen Moment versucht sein, das unzeitgemäß oder süßlich zu finden. Doch Maier, der sich in seiner Dissertation an Thomas Bernhard »abgearbeitet« hat, stimmt neben melancholischen gerne auch polemische Töne an, bleibt in der Artikulation der Sehnsucht, bei aller Zartheit vieler Passagen in seinem literarischen Werk, ein distanzierter, reflektierter Beobachter seiner selbst beziehungsweise seiner Figuren. Ein kühles Bilanzieren heftigster Affekte und gelegentliches Ironisieren treibt den Texten alles Süßliche und Kitschverdächtige aus in Maiers Versuch, schreibend wahrhaftig zu sein, ein Anspruch, über den er in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen Ich unter anderem nachgedacht hat.
Tragisches kippt ins Komische
Was im Versuch einer Annäherung an die Grundlagen dieses Schreibens ein wenig hochtrabend klingen mag, ist nicht selten hochkomisch in der Umsetzung. Auch im sechsten, bislang jüngsten Buch der auf elf Bände angelegten »Ortsumgehung«, im Februar 2018 unter dem Titel Die Universität erschienen, stehen Pathos und Ironie, Sinnsuche und Alltagswirren in so krassem Kontrast, dass sich die Fallhöhe einstellt, die es braucht, um Tragisches ins Komische kippen zu lassen. Der Erzähler der »Ortsumgehung« namens Andreas, der seine Geschichte von der frühen Kindheit bis zum Jahr 2009 erzählt, indem er mit der Niederschrift seines Romanprojekts beginnt – und dabei, obwohl hin und wieder ausscherend, im Großen und Ganzen chronologisch vorgeht –, ist in Die Universität ein Studienanfänger. Es sind zum ersten Mal Semesterferien, er träumt von einer Reise in »das Land, wo die Zitronen blühen«, nach Italien. Doch seine innere Stimme, der »Meta-Ebenen-Kuckuck«, hält ihn davon ab, bespottet die Unentschlossenheit des Erzählers. Anstatt wie weiland Hannibal die Alpen zu überqueren, landet Andreas im Stadtpark von Butzbach, wo immerhin Kirschen in voller Blüte stehen, von wo aus er sich aufmacht, in der Bindernagel’schen Buchhandlung die Buchhändlertochter zu suchen, seine Jugendliebe und noch immer Projektionsfläche für das, was man sich jung unter der »großen Liebe« vorstellt. Der Figur der Buchhändlertochter kommt in der »Ortsumgehung« zentrale Bedeutung zu. Sie ist ein Fluchtpunkt der erzählerischen Sehnsucht und die Suche nach ihr zeitigt in Die Universität gleich mehrere tragikomische Momente und einen eindrucksvollen Schluss. Ein weiterer Fluchtpunkt der Sehnsucht ist in der »Ortsumgehung« in gewisser Weise auch Onkel J. Der von Geburt an behinderte Bruder der Mutter des Erzählers mit dem »nazibraunen VW Passant«, einer Vorliebe für Baustellen, einem kindlichen Gemüt, das jede Kränkung wieder vergisst, ist ein Bastler seltsamer Phantasiemaschinen, an denen Jean Tinguely seine Freude gehabt hätte, ein knurrender, stinkender Schrat, der sich gleichermaßen für die Mondlandung, das an Neujahr aus dem Radio tönende Geläut des Wiener Stephansdoms und Pornohefte begeistert. Er erscheint im Werk als Ahnherr des Erzählers, der oft genauso schrullig, linkisch, affektiv beschrieben ist, im Unterschied zum Onkel aber mit einem messerscharfen Verstand gesegnet und verflucht. Dieser versetzt ihn in eine Rolle, in der man von ihm erwartet, seine Affekte zu kontrollieren, seine (musischen) Talente zu gestalten, mit der Umwelt in Beziehung zu treten. Letzteres wird dem Erzähler schon als Kind zum Problem: Zu »kommunizieren« und »interagieren« ist bereits dem kleinen Andreas ein Graus, an dessen seelische Verfassung sich der Erzähler im ersten und zweiten Band der »Ortsumgehung«, Das Zimmer und Das Haus, erinnert. Dem Kindergarten verweigert er sich, doch um die Schule kommt er nicht herum. Die Stunden im Klassenzimmer und im Schulhof sind für Andreas, der am liebsten in seinem Zimmer im Keller sitzt und sich bastelnd mit sich selbst beschäftigt, der reinste Horror.
Auch in den folgenden Bänden, in Die Straße, Der Ort und Der Kreis, wird Andreas die vermeintliche Normalität dessen, was man »soziales Umfeld« nennt, die Rituale der Pubertät mit Partys im Keller, erster Liebe, erstem Sex erinnernd, oft befremdet und irritiert betrachten. Die Welt der »Ortsumgehung« ist eine trübe, eine Postwirtschaftswunder-BRD mit fahlrosa Wurstscheiben auf grauen Abendbroten, mit heruntergelassenen Jalousien, mit erotisch unterversorgten Müttern, überarbeiteten, migränegeplagten Vätern, mit der ganzen Enge der bürgerlichen Kleinfamilie auf dem vermeintlichen Weg in ein technikaffines, wohlstandsvermehrendes »Glück«.
Seine »Heimatkunde« entspringt einer Verweigerungshaltung
Bewusst hat Andreas Maier sich bei der Wahl des Schauplatzes der »Ortsumgehung« für die Wetterau entschieden. Den Begriff »Heimat« verwendet er mit Bezug auf den Regisseur Edgar Reitz und Autoren wie Peter Kurzeck und Arnold Stadler kritisch, seine »Heimatkunde« entspringt einer Verweigerungshaltung, keiner Affirmation. Der Versuch, die Bedingungen seiner Herkunft zu erkunden, sie gleichsam mentalitätsgeschichtlich an einem ganz bestimmten Ort und in einem ganz bestimmten Milieu zu erkunden und sodann zu dekonstruieren, steckt als Idee hinter diesem Projekt.
Mit Maiers Schreiben lässt es sich dabei nachdenken über Differenz gegen Gleichmacherei, über die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies, nicht über dessen schlechte Restituierung, über die Verantwortung des Einzelnen im Gegensatz zur bequemen Regression in der Dumpfheit einer Gruppe.
Wer in Das Zimmer liest, wie die individualverkehrsbegeisterten Friedberger Einwohner inmitten eines kolossalen Staus in ihrer Innenstadt kollektiv die Idee einer Ortsumgehung gebären und damit in der Hoffnung auf ein besseres Leben doch das Gegenteil vorbereiten, wird sich, wie so oft in diesen Büchern, ungemütlich zwischen Lachen und Entsetzen verhaken. Gerade darin liegt aber das Beglückende dieser Lektüre.
Zum Weiterlesen:
Klausen. Roman. 2002
Kirillow. Roman. 2005
Bullau. Versuch über Natur. Essays 2006 (mit Christine Büchner)
Ich. Frankfurter Poetikvorlesungen. 2006
Onkel J.: Heimatkunde. Kolumnen. 2010
Das Zimmer. Roman. 2010
Das Haus. Roman. 2011
Die Straße. Roman. 2013
Der Ort. Roman. 2015
Mein Jahr ohne Udo Jürgens. Essays und Interviews. 2015
Der Kreis. Roman. 2016
Die Universität. Roman. 2018
Alles im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M / Berlin
Beate Tröger, geboren 1973 in Selb/Oberfranken, lebt in Frankfurt a. M. und arbeitet als Literaturkritikerin für Zeitungen und Zeitschriften (Freitag, FAZ, Frankfurter Hefte) und das Radio (DLF, SR) sowie als Moderatorin.