Von Irene Ferchl
Mit gemischten Gefühlen haben wir vom Thema des diesjährigen, neunten Literatursommers erfahren – »Frauen in der Literatur« – und bei Betrachtung des Plakatmotivs mit der Margeritenblüte zwischen den Buchseiten gleich an Gretchens Orakeln »Er liebt mich, liebt mich nicht …« gedacht.
Ist es wirklich noch nötig, im Jahr 2018 den Fokus auf Schriftstellerinnen zu lenken? Sind schreibende Frauen nicht längst viel mehr als die Künstlerinnen in den anderen Bereichen, in der Bildenden Kunst, im Film und auf dem Theater, in der Kulturszene verankert? Sperrt die vorgebliche Heraushebung sie nicht eher in ein Ghetto, respektive einen goldenen Käfig? Oder hat die Baden-Württemberg-Stiftung vielleicht auch nur auf den Zeitgeist reagiert? Deren Abteilungsleiterin für Gesellschaft und Kultur, Birgit Pfitzenmaier, gestand bei der Eröffnung jedenfalls ein, dass man sich »aktuell entlang der MeToo-Debatte« bewege, und im Programmvorwort heißt es, die Literatur von und über Frauen verdiene angesichts der historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Marginalisierung besondere Aufmerksamkeit, denn »in jener Art zu schreiben drückt sich ein ganz anderes Verhältnis zur Welt aus, das sonst nirgendwo zu finden ist«. Es folgt noch der verräterische Satz: »Das bedeutet keineswegs, die Frau in der Literatur ausschließlich als Opfer zu sehen. Seit jeher beweisen Frauen Mut, Herz und Charakter …« Fehlt eigentlich nur der Geist …
»Dem weiblichen Geschlecht – sagt man – sey die Kunst: reizend, naiv, feurig, dringend zu schreiben, sehr eigen; aber nur wenige wagen sich mit ihren Geistesprodukten ans Licht …«
(Marianne Ehrmann, 1789)
Eine, die mit der Philosophie eines Weibs und den Kleinen Fragmenten für Denkerinnen bereits vor 1800 an die Öffentlichkeit trat, war Marianne Ehrmann, Schriftstellerin, Herausgeberin einer Frauenzeitung und Salonnière in Stuttgart. Sie ruft nach besserer Erziehung und Bildung für Frauen und Mädchen, fordert diese aber auch zu eigenem Urteilen und Handeln auf. Ganz dem Geist der Französischen Revolution verhaftet, schreibt sie: »Man lasse doch dem weiblichen Geschlecht auch einmal Freiheit zu denken, zu handeln und sich über patriotische Tugenden zu freuen und warne es erst dann, wenn es darüber die weiblichen Hauptpflichten vergißt oder sich übereilt von aller Weiblichkeit loswindet und überall Männerrollen spielen will!! Soll denn dies tyrannisierte Geschlecht ewig von dem Genuß der Freiheit ausgeschlossen bleiben und nur von dem männlichen Geschlecht geachtet werden, wenn es von ihm Liebe erbetteln will?«
Vermutlich als Erste gebrauchte sie den einleuchtenden Begriff »Selbstdenkerin«.
Dass das Grimm’sche Wörterbuch in diesem Falle wenig hergeben würde, war zu erwarten, in dem 20-zeiligen Absatz wird lediglich das Lob der Selbstdenker(ei) von Campe, Schiller, Novalis und Fichte gesungen. Doch die Internetsuche frustriert gleichfalls: »Meinten Sie Selbstdenker?« Immerhin finden sich auf folgenden Seiten dann Hinweise auf einige mit diesem Etikett geschmückte Schriftstellerinnen: Rahel Varnhagen und Christa Reinig, Susan Sontag und Helga M. Novak.
»Eine Frau muss Geld und ein eigenes Zimmer haben, um schreiben zu können.«
(Virginia Woolf, 1928)
Selbstdenkerinnen – wären da nicht noch viele andere Namen zu nennen? Ganz sicher aus dem 20. Jahrhundert Virginia Woolf und Simone de Beauvoir mit ihren wegweisenden Werken zur Rolle der Frau in der Gesellschaft und der Literaturgeschichte. Beide liegen in neuen Übersetzungen vor und lohnen eine neuerliche Lektüre, wobei die von Woolfs Essay im Vergleich zu Beauvoirs 900-seitigem Standardwerk leicht, vergnüglich und immer wieder anregend ist.
Ein eigenes Zimmer (A Room of One’s Own) basiert auf zwei Vorträgen, die Virginia Woolf vor ziemlich genau 90 Jahren, im Herbst 1928, zum Thema Frauen und Literatur gehalten hat. Ausgehend von einer zum Spaß erdachten Schwester Shakespeares reflektiert sie deren mutmaßliches Schicksal: Auf keinen Fall hätte sie eine Schauspieltruppe geleitet und Dramen geschrieben. Man muss sich das ja immer mal wieder klarmachen, dass Frauen bis weit ins 19. Jahrhundert keine ordentliche Bildung bekamen; Mädchen wurden für ihren Beruf als Ehefrau und Mutter erzogen, sie hatten in der Regel kein eigenes Geld und konnten auch nicht allein reisen. Ihr Territorium war das Haus mit einem doch recht eingeschränkten Erfahrungshorizont.
Natürlich gab es Ausnahmen wie Jane Austen, zu ihrem 200. Todestag im letzten Sommer viel gewürdigt, oder die Schwestern Brontë, die literarische Meisterwerke hinterlassen haben – da wäre allerdings einiges zu den Arbeitsbedingungen sagen, über Tischchen in Wohnzimmern und knarzende Türen, die die Dichterin warnten, wenn jemand hereinkam, über schwierige Honorarverhandlungen und nicht zuletzt über das Veröffentlichen unter männlichem Pseudonym.
Virginia Woolf konstatiert, neben den Ausführungen zur Bedeutung vom Zugang zu Bildung und Vorbildern: »Die geistige Freiheit hängt von materiellen Dingen ab. Die Dichtkunst hängt von der geistigen Freiheit ab. Und Frauen sind immer arm gewesen, nicht erst seit 200 Jahren, sondern von Anbeginn der Zeit. Sie hatten also nicht den Hauch einer Chance, Gedichte zu schreiben. Deswegen habe ich so viel Nachdruck auf das Geld und ein eigenes Zimmer gelegt.«
Heute haben mehr Frauen ein eigenes Zimmer und verdienen ihr eigenes Geld – wenn auch immer noch deutlich weniger als Männer. Das ist in den Künsten nicht anders und trotz inzwischen zahlreicher Preise und Stipendien können nur wenige Autorinnen (und Autoren) vom Schreiben leben.
»Männer nehmen von Frauen geschriebene Bücher als Bücher für Frauen wahr.«
(Elena Ferrante, 2014)
Gelegentlich hört man, dass inzwischen mehr Frauen schreiben würden als Männer. Die Statistik sagt: Die Mitgliedschaften in den Schriftstellerverbänden (VS, FDA) sind etwa hälftig. Aber Bücher von Autorinnen erscheinen seltener in den größeren, bekannten literarischen Verlagen, sie erhalten weniger Preise und weniger Rezensionen in den Feuilletons. Nina George, selbst Bestsellerautorin (Das Lavendelzimmer, Die Schönheit der Nacht) und »Bücherfrau des Jahres 2017«, hat nachgerechnet, tatsächlich ein Jahrzehnt lang gezählt und ihre Ergebnisse Anfang 2017 veröffentlicht.
Resümee: Der Literaturbetrieb hat’s nicht so mit den Frauen. Hier nur wenige Zahlen aus ihrer Statistik: In den zweimal jährlich verschickten Verlagsvorschauen ist etwa ein Drittel der Bücher von Schriftstellerinnen und so etwa ist das Verhältnis auch bei Auszeichnungen und Stipendien. Bei den Preisen, etwa dem Georg-Büchner-Preis oder dem Literaturnobelpreis, gewinnen Männer im Schnitt fünfmal häufiger, Ausnahmen bilden neuerdings der Deutsche Buchpreis und der Preis der Leipziger Buchmesse: Beide werden seit 2005 verliehen und gingen an 7 bzw. 10 Männer und 6 bzw. 4 Frauen. Ein Hoffnungsschimmer sind die baden-württembergischen Landesstipendien, die in den vergangenen beiden Jahren jeweils drei junge Schriftstellerinnen erhielten, sowie der Thaddäus-Troll-Preis mit zuletzt vier Preisträgerinnen nacheinander.
Bei den Besprechungen spiegelt sich die männliche Mehrheit der Redakteure und Rezensenten wider: Die Werke von Frauen machen nur 10 bis 25 Prozent der Rezensionen aus. Dass zum Beispiel in der Stuttgarter Zeitung auf einer gesamten Literaturseite keine einzige Autorin vorgestellt wird und auch der empfehlende Buchhändler nur Männernamen nennt, ist also keine Ausnahme. Stellen Sie sich vor, auf dieser Zeitungsseite würden einmal nur Bücher von Frauen besprochen – dann stünde das ganz sicher groß darüber, wie bei Kinderbüchern.
»In der Literatur jedenfalls hat sich das entrée der Frauen in den letzten zehn Jahren mit geradezu rasender Geschwindigkeit ereignet. Es geht bei den weiblichen Karrieren längst nicht mehr um Ausnahmen, sondern um den Normalfall.«
(Marlis Gerhardt, 1986)
Sich mit Schriftstellerinnen zu beschäftigen ist heute eine Selbstverständlichkeit.
In meiner Schulzeit war es das keineswegs, und es fällt mir wirklich schwer, mich an weibliche Namen im Unterricht zu erinnern. Ganz sicher lernten wir ein Gedicht der Droste auswendig: »Der Knabe im Moor«. Vielleicht las man Erzählungen von Marie von Ebner-Eschenbach und Anna Seghers, später tauchten in den Lesebüchern Ilse Aichinger, Marie Luise Kaschnitz und Ingeborg Bachmann (»Reklame«) auf.
Doch selbst in meinem Studium der Literaturwissenschaft in den 1970er Jahren kamen Frauen kaum vor, nicht einmal die berühmten Modernen wie Irmgard Keun und Annette Kolb, Marieluise Fleißer oder Vicki Baum, geschweige die Zeitgenossinnen. Über jemanden wie Gabriele Wohmann oder Unica Zürn zu arbeiten, das fanden die Herren Professoren damals anrüchig, mindestens überflüssig.
Natürlich hatten wir als Mädchen die Romane von Johanna Spyri (Heidi) und Emmy von Rhoden (Trotzkopf) geschenkt bekommen, hatten die Bücher von Enid Blyton und Astrid Lindgren verschlungen. Interessanterweise – dazu gibt es Untersuchungen und eine lesenswerte Darstellung von Ruth Klüger – identifizieren sich Mädchen selbstverständlich auch mit männlichen Protagonisten, während Jungs dies umgekehrt mit weiblichen nicht tun.
Aber ganz ehrlich: wir haben uns damals genauso wenig Gedanken darüber gemacht, ob die Werke von Autoren oder Autorinnen stammten, wie es Kindern heute wohl egal ist, ob Jane Rowling eine Frau ist.
In den letzten Jahrzehnten hat sich enorm viel geändert. Schauen Sie sich heute in einer Buchhandlung um, bei den Bilder-, Kinder- und Jugendbüchern, bei Romanen, bei Sachbüchern – die Präsenz weiblicher Autorennamen ist groß.
Aber: Der klassische Kanon ist nach wie vor männlich dominiert, und fragt man AbiturientInnen im Sommer 2018 nach ihrer Schullektüre, speziell den sogenannten Sternchenthemen, schütteln sie den Kopf – keine Schriftstellerin, nirgends.
»Frauen, die Literatur schreiben, finden sich häufig in einer ungerechten Welt wieder.«
(Meg Wolitzer, 2012)
Meg Wolitzer, von der im Herbst der Roman Das weibliche Prinzip erscheint, hat vor einigen Jahren einen Artikel über die Regeln der Literatur für Männer und Frauen verfasst und dabei über typische geschlechtsspezifische Covergestaltungen ebenso reflektiert wie über den Umfang – dicke Bücher etwa von David Foster Wallace, Haruki Murakami und Paul Auster sind definitiv »stimmgewaltiger« –, über Erzählperspektiven und die so schwer auszurottende Voreingenommenheit, was wer warum lesen soll und möchte oder eben nicht. Sie prägte ein eindrückliches Bild: »das zweite Regal«, in das die Literatur von Frauen verbannt wird, weil sie ohne Ansehen sofort mit den Schnellleseromanen für eine ausschließliche weibliche Leserschaft gleichgesetzt wird.
Was vor allem fehlt, ist die Traditionslinie, und da herrscht leider auch im diesjährigen Literatursommer ein erheblicher Mangel, sprich: Die Literaturgeschichte spielt keine große Rolle. Sophie La Roche wurde zwar am Eröffnungstag in Warthausen gewürdigt und taucht im Programm der Biberacher Wieland-Stiftung auf; auf den Spuren einiger Romantikerinnen wird in Heidelberg gewandelt und es gibt Einzelveranstaltungen etwa zu Karoline Günderrode, Anna Blos, Marie und Isolde Kurz, Ottilie Wildermuth, Hilde Domin oder Maria Beig, aber zu Marie Luise Kaschnitz lediglich im musikalischen Kontext.
Auch die Erwartung, im Literatursommer wenigstens die lebenden Literatinnen aus Baden-Württemberg einmal geballt erleben zu dürfen, wird leider enttäuscht, ohne die achtteilige Salon-Reihe des Stuttgarter Schriftstellerhauses wäre es um Autorinnenlesungen ein wenig dünn bestellt. Gewünscht hätte man sich eine Ausstellung und ein Symposium, stattdessen findet sich im Programm eine Fülle von Workshops und Seminare über Mädchen- und Frauenbilder, über Heldinnen in Krimis oder – im Deutschen Literaturarchiv – »ungewöhnliche Mädchen und Jungen und mitunter auf den Kopf gestellte Geschlechterrollen«. Selbst im Stuttgarter Literaturhaus dominiert das zweifellos wichtige Thema Feminismus über die Literatur, »Rabendenkerinnen« oder »Querdenkerinnen« hat Stefanie Stegmann provokativ die »I-am-not«-Reihe überschrieben.
»Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde – alle dummen Männer.«
(Marie von Ebner-Eschenbach, 1880)
Am Ende des (Literatur-)Sommers könnte Bilanz gezogen werden: Welche Rolle spielen die Frauen in der Literatur? Wo steht die Frauenliteratur im Regal? Haben die Schriftstellerinnen in Baden-Württemberg (und überall auf der Welt) nicht viel mehr Aufmerksamkeit und endlich eine eigene Literaturgeschichte verdient? Und: Wie können Frauen zu Selbstdenkerinnen werden?
Ein Anfang für junge Leserinnen und hoffentlich Leser (!) ist zum Beispiel das Buch Good Night Stories for Rebel Girls, das hundert außergewöhnliche Frauen aus allen Zeiten, allen Weltgegenden und allen möglichen Bereichen von Politik über Kultur und Wissenschaft bis Sport vorstellt, in jeweils einem knappen Text und einem von insgesamt sechzig internationalen Illustratorinnen gezeichneten Porträt. Erwähnt werden unter anderen die Schriftstellerinnen Astrid Lindgren, Jane Austen, die Brontë-Schwestern, Virginia Woolf, Isabel Allende, Maya Angelou – Fortsetzung folgt.
Zum Weiterlesen:
Elena Favilli und Francesca Cavallo, Good Night Stories for Rebel Girls. 100 außergewöhnliche Frauen. Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann. C. Hanser Verlag, München 2017. 224 Seiten mit 100 Porträts von internationalen Illustratorinnen. 24 Euro
Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Aus dem Französischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt TB, NA 2000. 943 Seiten, 16 Euro
Virginia Woolf, Ein eigenes Zimmer. Übersetzt von Heidi Zerning. Fischer TB. 144 Seiten, 10 Euro