Von Dorothee Hermann
Sie hat ihrem Leben immer wieder eine andere Richtung gegeben. Zuletzt entdeckte die Schriftstellerin Tina Stroheker mit über 60 Jahren die Liebe zu einer Frau und schrieb ein federleichtes Buch darüber: Luftpost für eine Stelzengängerin – Notate vom Lieben. Anlässlich ihres 70. Geburtstags legt sie nun ihr Inventarium – Späte Huldigungen vor, eine poetische Bestandsaufnahme, alphabetisch geordnet, in der sie ihre Lebensdinge und die Menschen dahinter gleich doppelt heraufruft: in kurzen Prosastücken und auf den beigegebenen Farbfotos von Horst Alexy. So entsteht eine reizvolle Spannung zwischen der dokumentarischen und der poetischen Herangehensweise, wie die Dinge sich der Schriftstellerin eingeprägt haben, und wie sie sich dem fremden Auge präsentieren – vielleicht mit Gebrauchsspuren, abgenutzt, unscheinbar, im nüchternen Schwarz-Weiß einer alten Fotografie oder getragen von den Erinnerungen, die die Autorin um sie legt.
Das Bild der Stelzengängerin, mit einer Fortbewegungsart zwischen Leichthändigkeit, fröhlichem Mutwillen und Absturzgefahr, charakterisiert sich Tina Stroheker selbst, und das nicht nur, weil sie schon früh die gesicherte Laufbahn als Gymnasiallehrerin für die Fächer Deutsch und Geschichte gegen die Existenz als freie Schriftstellerin eintauschte. Ihre Bereitschaft, immer neu aufzubrechen, die sie sich zeitlebens erhalten hat, kennt außer den Büchern und dem Schreiben noch einen weiteren Schutzgeist: das Kino. Schon die Schülerin, die sich im dunklen Kinosaal in den Sitz fallen ließ, war »bereit für die Verwandlung«. Sie wusste: »Wir würden uns begegnen, eine Filmheldin und ich, und etwas in mir fände seine Gestalt.« Man merkt ihren Texten an, dass sie in jeder Lebensphase auf solche Begegnungen neugierig geblieben ist.
Geboren 1948 in Ulm, fiel ihre frühe Kindheit in die Kargheit der Nachkriegsjahre. Sie gehört zu einer Generation, die Lebensdinge aufbewahrt, zum Wiederhervorholen und Anfassen – und nicht bloß in schnell verwischter, digitaler Form. Die Dreijährige bekommt ein Kuscheltier geschenkt; »Handspielbär« lautete vermutlich die damalige Warenbezeichnung. Der Bär, dessen Fell über die Jahre schütter geworden ist, sitzt noch immer in ihrem Regal, und nun auch vor ihren LeserInnen. Ein Kindheitsfoto aus jener Zeit zeigt Stroheker mit dem Zwillingsbruder. »Das kleine Mädchen ist längst verschwunden, doch finde ich es wieder, als Gefühl: Vorsichtig sein, selbst im Sommer ist nicht alles einfach.« So schreibt eine, der nichts vorgezeichnet war, und die doch in Neuland aufbricht, wieder und wieder – mit ihren Gedichten, ihren Prosaminiaturen und den Aufzeichnungen von unterwegs. Sie wurde eine produktive Reisende und holte die Welt auch in die kleine Stadt Eislingen bei Göppingen, wo sie seit vielen Jahren lebt und arbeitet: Sie initiierte zum Stadtjubiläum 2011 den »Eislinger Poetenweg«, dessen 22 Lyrikstelen, zunächst als temporäre Ausstellung gedacht, inzwischen auf Dauer Straßen und Plätze schmücken.
Die Espadrilles des Vaters, ein weiteres Stichwort, stammen schon aus einer etwas späteren Zeit, den sechziger Jahren, als Tina Stroheker über Spielzeugbären hinausgewachsen war. Der Vater kaufte die leichten Sommerschuhe stets in Südfrankreich und legte sogar einen Vorrat an, für den Fall, dass er einmal nicht mehr so weit würde fahren können. Der Tochter, empfänglich für solche Impulse, gaben die Espadrilles »die vage Idee eines anderen Lebens« ein. In ihrer nebligen Stadt an der Donau erinnerten sie an Süden und Sonne. Sie trug bald selbst welche, dazu einen schwarzen Rollkragenpullover, eine schwarze Brille und Haare wie Juliette Greco. So lief die Schülerin durch Ulm, und schon damals trug sie immer ein Buch in der Tasche.
Die Bücher wurden ihre zuverlässigsten Verbündeten, die einzigen Gegenstände, ohne die sie nie leben wollte. Das erkannte die Schriftstellerin nicht erst bei der »bitteren Arbeit« des Aussortierens, an die sie sich seit einiger Zeit macht. So malte sie sich ihr ganzes Leben aus, »im Rücken immer den Schutz der Bücher«. In ihrem Inventarium gehört ihnen ein eigenes Kapitel, und sie begleiten sie schon seit der frühesten Kindheit. »Wie viele Bücher habe ich geöffnet seit Elsa Beskows Hänschen im Blaubeerwald?«, fragt sich Tina Stroheker.
Die Wörter boten nicht nur Schutz, sie halfen ihr, wenn sie sich über etwas unsicher war. »Manchmal misstraue ich mir, das geht nicht anders: Warum erst jetzt?«, notiert sie über die späte lesbische Liebe. »Was also tun? Was ich immer tat: mich an die Bücher wenden. So entdeckte ich Djuna Barnes, Natalie Barney, Kate Millett, Radclyffe Hall, Annemarie Schwarzenbach, Jeanette Winterson und viele mehr. Irgendwann akzeptierte ich mich als Teil dieser Geschichte, erzählt von Frauen, die sich entschieden haben zu sprechen.«
Immer wieder mache sie sich an Dinge, die aus ihrem Arbeitszimmer herausführen, sagte die Schriftstellerin einmal. Sie reiste nach Rom, nach Amsterdam und in die USA. Nach Polen fuhr sie 1977 zum ersten Mal, lange bevor es angesagt war, sich in Mitteleuropa, zu jener Zeit noch hinter dem Eisernen Vorhang gelegen, umzusehen: Sie wollte mehr über das Land erfahren, von dem sie damals nur wusste, dass die Nationalsozialisten dort Vernichtungslager errichtet hatten. Sie kehrte mehrfach zurück, einmal für drei Monate als »Gastschreiberin« von Lodz, der Stuttgarter Partnerstadt. Sie fand Europa auf Eichendorffs Schloss in Oberschlesien (»Landschaft, die sich erst bilden soll«, schrieb sie in ihrem Eichendorff-Gedicht). Zu Hause in Eislingen begegnete sie zufällig dem polnischen Holocaust-Überlebenden Tadeusz Iger, kurz bevor sie sich in seine Stadt Opole (Oppeln) aufmachen wollte. »Das historische und das politische Interesse gehört ja auch zu meinem Leben«, betont sie.
Tina Stroheker setzte sich für die Wiederentdeckung des Schriftstellers Josef Mühlberger ein, in Göppingen vor allem als Feuilletonchef der Neuen Württembergischen Zeitung bekannt. Den Sohn einer tschechischen Mutter und eines deutschen Vaters hatte es nach dem Krieg ins Württembergische verschlagen. In ihrem Inventarium ist Mühlberger, der »Beschwörer der ,Fülle Böhmens‘ im Kalten Krieg«, als Erzähler, Journalist und Übersetzer zugegen - und als »von der Gesellschaft verwundeter Mann, der Männer geliebt hat«. Die Nazis hatten Mühlberger wegen seiner Homosexualität diffamiert und seine Bücher verboten. Die späte Anerkennung hat er nicht mehr erlebt: Anlässlich seines 100. Geburtstags wurde 2003 seine einst von Hermann Hesse in der Neuen Zürcher Zeitung gerühmte Erzählung Die Knaben und der Fluss neu aufgelegt. Der Autorin ging es nicht allein um die Rehabilitation eines zu Unrecht Vergessenen. Sie faszinierte »die Existenz einer Figur mit vielen Brüchen«. Sie hat ihm zwei Bücher gewidmet, Mein Kapitel Mühlberger (1999) und Vermessung einer Distanz (2003).
Bei ihren Aufbrüchen konzentrierte sich die Schriftstellerin nie nur auf sich selbst. Weil nicht nur die Menschen, sondern auch die Worte Momente des Gelöstseins brauchen (statt einer allzu strikten Arbeitsdisziplin), hielt sie als Stipendiatin in der Villa Massimo in Rom für sich und für die SchriftstellerkollegInnen in den Schreibpausen Kaffee und Kekse bereit. Das Gebäck bewahrte sie in einem besonderen Behältnis auf: Es ist als »Dose, himmlisch« in ihrer autobiografischen Inventur verzeichnet. Vom glänzend roten Grund heben sich golden die Gestirne ab, und wer sich daraus bediente, wurde mit positiven Nachwirkungen belohnt: »Und es gewannen die Verse an Leichtigkeit, ja, zuletzt an genau bemessener Süße.« Die zarte Sorgfalt der Genießerin dürfte die Schriftstellerin sich bei ihrer Mutter abgeschaut haben: Deren unvergleichliche Methode, einen duftenden Filterkaffee mit der angemessenen Behutsamkeit zuzubereiten, erinnerte die Tochter an eine »Küchen-Meditation«.
Angesichts ihres zurückgenommenen, fast kargen Stils – die Schriftstellerkollegin Zsuzsanna Gahse sprach von »einer klug entschlackten Sprache« – kann die starke Visualität von Tina Strohekers Texten erstaunen. In ihrer poetischen Lebensbilanz hat sie wieder eine neue Form gefunden, die Dinge zum Sprechen zu bringen. Wie die Lyrikerin einst aus Ofen und Bett, Brot und Wasser »das Haus« in ihrem gleichnamigen Gedicht zusammenfügte, so findet sie nun mit Hilfe von scheinbar schmucklosen, schlichten Gegenständen Losungswörter der Erinnerung. Wie sie einmal über ihre Gedichte anmerkte, deren Form, die gebundene Sprache, ihr »oft das Gefühl vermittle, etwas inhaltlich gerettet zu haben«, so hat sie nun die Dinge ihres Lebens gerettet und vor sich und den LeserInnen ausgebreitet.
Buchpremiere und Geburtstagsfest finden am Mittwoch, 13. Juni um 19.30 Uhr in der Stadthalle Eislingen am Kronenplatz statt.
Zum Weiterlesen:
Inventarium – Späte Huldigungen. 2018. 174 Seiten mit 78 Farbfotos von Horst Alexy, 34 Euro
Luftpost für eine Stelzengängerin – Notate vom Lieben. 2013. 108 Seiten, 16 Euro
Was vor Augen liegt. Gedichte. 2008. 206 Seiten, 19 Euro
Pommes Frites in Gleiwitz. Eine poetische Topographie Polens. 2003. 229 Seiten, 19,50 Euro
Vorausgeworfener Schatten. Gedichte. 2001. 135 Seiten, 14,40 Euro
Alle im Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen
Polnisches Journal. Aufzeichnungen von unterwegs. Neuauflage mit ausführlichem Postscriptum. Demand Verlag, 2002. 269 Seiten, 19 Euro
Vermessung einer Distanz. Aufzeichnung in der Umgebung Josef Mühlbergers. Kunstverein Eislingen 2003. 220 Seiten, 13 Euro
Dorothee Hermann, MA in Germanistik und Philosophie, ist freie Journalistin in Tübingen.