Im Frühjahr 1990 mietete die Schulleitung eines kleinen Gymnasiums im Hohenlohischen zwei Busse und die gesamte Oberstufe wurde damit Richtung Osten gekarrt. Dieser Ausflug war einem merkwürdigen Schwebezustand geschuldet: Die DDR gab es noch und gab es schon nicht mehr. Man wollte dieses Dazwischen besichtigen. Oder besser: dem Ende einer Epoche und dem Beginn einer neuen Zeit in einem wahrhaft historischen Moment näherkommen. Geschichtsstunde in Echtzeit. Für einige der älteren Lehrer war diese Fahrt mit biografischen Erlebnissen verknüpft; den meisten von uns Schülern bedeutete sie nicht viel. Der Unterricht fiel aus, das ja. Natürlich waren wir an den Fernsehgeräten gesessen, im Herbst 1989, und hatten das Unglaubliche als Zeitgenossen ohne allzu viel teilnehmende Zeitgenossenschaft mitverfolgt. Die sogenannte Wende war etwas, das unseren Alltag, so dachten wir damals, kaum berührte.
Wir fuhren nach Thüringen. Auf die Wartburg. Nach Eisenach. Wir spazierten durch die rußige Stadt, die uns wohl ein bisschen trostlos vorkam. In einem Café schien uns die junge Bedienung etwas reserviert, vermutlich weil sie uns als das erkannte, was wir waren: unbedarfte Voyeure des Untergangs. Wir begegneten an diesem Tag, als wir ziemlich ahnungslos durch die Straßen von Eisenach liefen, noch anderen Schulausflüglern aus anderen Schulen der BRD. Wir hörten einer Kundgebung auf dem Marktplatz zu, auf der Wolfgang Schnur sprach – damals ein Hoffnungsträger der Konservativen, der später als IM enttarnt wurde. Auch Peter Holtz, der Held in Ingo Schulzes neuem Roman, wäre möglicherweise an diesem wahlkämpferischen Frühlingstag auf einer der Bühnen der Stadt aufgetreten, vielleicht hätte er die Geschichte sogar in eine etwas andere Richtung gelenkt – wäre er nicht kurz vorher ins Koma gefallen, um diese aufregenden Monate zu verschlafen.
Wir Schüler staunten. Wir sahen uns um, ohne tatsächlich viel zu sehen. Im Bus waren wir mit Daten versorgt worden, aber die Zahlen ergaben höchstens das, was den Geschichtsunterricht seit der 7. Klasse meist ausgemacht hatte: Langeweile. Was uns fehlte, waren Geschichten – was wusste schon derjenige, der keine Verwandten im Osten hatte!? Es gab für uns die DDR nur als Ablauf von Ereignissen und das hatte nichts zu tun mit einer Histoire, mit einer Chronik der Gefühle, wie Alexander Kluge das nennt; es hatte nichts zu tun mit Biografien, mit Erfahrungen, mit Erzählungen.
Die Erzählungen dieser Zeit – jener Jahre des Umbruchs und jener unmittelbar nach dem Mauerfall – kamen später. Es waren Geschichten, die in St. Petersburg spielten oder in Altenburg, in der Provinz oder auch in Berlin; Geschichten, die man nicht leichtfertig als Ostliteratur qualifizieren konnte, die sich aber doch durch ihre neue Perspektive auszeichneten. Der sie schrieb, hieß Ingo Schulze, ein junger Schriftsteller, geboren 1962 in Dresden, der als Dramaturg in Altenburg gearbeitet hatte und 1993 in St. Petersburg lebte, um dort ein Anzeigenblatt aufzubauen. Zurück in Deutschland, veröffentlichte er sein erstes Buch, 33 Augenblicke des Glücks, ein Kompendium spielerisch leichter Miniaturen, geschult am Ton russischer Erzähler, zwischen Tragik und Traum, zwischen Reportage und Reiseerzählung behände changierend. Dass der fiktive Herausgeber ausgerechnet ein Zeitungsangestellter war, der den Namen Hoffmann trug, war gewiss kein Zufall: Der Romantiker E. T. A. Hoffmann wird uns im Kosmos von Schulze auch später begegnen.
Was Ingo Schulze 2007 bei seiner Leipziger Poetikvorlesung sagte, gilt für dieses erste Buch, und es gilt für alle, die folgen sollten: »Literatur ist dafür da, dass man mit bestimmten Erfahrungen nicht allein bleibt, mit Erfahrungen, die nicht im Gespräch oder einer wissenschaftlichen Erörterung sagbar sind, die in ihrer Universalität und Gleichzeitigkeit nur in einer Geschichte, einem Gedicht, einem Roman Ausdruck erhalten. Literatur ist nicht dafür gemacht, etwas zu erklären, aber sie darf und sollte für eine gesellschaftliche Selbstverständigung genutzt werden. Denn das Bild, das wir uns von unserer Zeit, von unserem Ort machen, hat Einfluss auf das, was wir wollen, was wir tun. In diesem Sinn halte ich diejenige Literatur für die wirksamste, die unsere Welt am differenziertesten beschreibt.«
Das taten 1998 seine neuen Geschichten, die sich zum Roman aus der »ostdeutschen Provinz« bündelten: Simple Storys machten aus dem gelobten den gefeierten Schriftsteller Ingo Schulze. Ralph Dutli hatte in seiner Besprechung von 33 Augenblicke des Glücks geschrieben, dieser Autor erzähle so hervorragend, dass er irgendwann auch keine Exotik mehr brauchen werde.
Simple Storys spielt zum größten Teil in Altenburg in Thüringen, einem Ort mit keiner oder vielleicht ganz eigener Exotik. Die Storys sind wirklich einfach, zumindest auf den ersten Blick scheinen sie das zu sein, dann aber spinnt sich beim Lesen nach und nach ein Netz aus Korrespondenzen. Figuren tauchen hier auf, verschwinden und kommen an anderer Stelle wieder ins Blickfeld. Die simplen Geschichten sind traurig, handeln vom Verlust, ohne dass genau zu benennen wäre, was da verloren gegangen ist – nach blühenden Landschaften klingen sie jedenfalls nicht, eher nach Scheitern, nach sich auflösenden Illusionen und Verstörungen.
Diese Episoden aus der Kleinstadt literarisierten Stimmungen, Biografien wurden hier auf eindrucksvolle Weise miteinander verwoben. 29 Geschichten, Lebensläufe, Perspektiven auf die neue Weltordnung, heruntergebrochen auf eine ostthüringische Kleinstadt, geschrieben mit Ernest Hemingway und Raymond Carver im Ohr. Der Stil, sagt Ingo Schulze, muss aus dem Stoff heraus kommen – er folgt dabei seinem literarischen »Patron« Alfred Döblin, der diesen Gedanken in den 1920er Jahren formuliert hatte: Ein Schriftsteller müsse nicht seinen eigenen Ton, seine unverwechselbare Stimme finden; der Ton entstehe jeweils aus dem Thema und einer bestimmten Notwendigkeit heraus. Hier musste es ein Ton der Lakonik sein.
So wurde Ingo Schulze mit Simple Storys zum ersten wirklichen »gesamtdeutschen Autor«, der sich, aus dem Osten kommend, dem Westen näherte – einem Westen, der nun alles zu umfassen schien, dem es an einem Gegengewicht mangelte, der eins geworden war mit dem, was man lange Zeit nicht mehr »ungebändigten Kapitalismus« nennen durfte, obwohl er genau das war.
»Die Ostperspektive ist, von der Tendenz her, die des Neulings, des Dazugekommenen, der das Vorhandene nie so im kleinen Finger haben wird wie jemand, der schon immer da gewesen ist«, sagt Ingo Schulze. Wenn er aus der Perspektive des Draußenstehenden oder Dazugekommenen schrieb, dann bedeutete das zugleich, dass der Westen das Zentrum war, eine Sichtweise, die durchaus mit der Selbsteinschätzung der meisten West-Menschen übereinstimmen dürfte. Sicherlich auch mit der von uns Schülern, die wir 1990 waren – obwohl wir, aus der Provinz kommend, ebenfalls gute Draußensteher abgaben. Unser Ausflug nach Thüringen fand am 12. März 1990 statt, eine Woche vor der letzten Volkskammerwahl. Genau in jenen Märztagen formuliert der zum Schriftsteller berufene, dann in Altenburg eine Zeitung herausgebende Enrico Türmer in einem Brief etwas sehr Entscheidendes: »Seit ein paar Wochen trage ich eine Frage mit mir herum. Anfangs nahm ich sie nicht ernst; sie war mir zu profan. Aber mittlerweile glaube ich an ihre Berechtigung. Sie lautet: Auf welche Art und Weise kam der Westen in meinen Kopf? Und was hat er da angerichtet?« »Ich könnte natürlich auch fragen«, so Enrico Türmer weiter, »wie der liebe Gott in meinen Kopf kam. Das liefe auf dasselbe hinaus, wäre allerdings weniger auf die Besonderheit meines Sündenfalles gerichtet.«
Enrico Türmer ist die Hauptfigur von Ingo Schulzes Roman Neue Leben und der Westen kam damals mit Geschenken, die in Koffern transportiert oder in Paketen von Tante Camilla und Onkel Peter geschickt wurden. Unglaubliche Geschenke waren das für das Kind Enrico (im Namen hatte die West- und Italiensehnsucht schon einen Ausdruck gefunden). Kein Wunder, dass der liebe Gott irgendwie so sein musste wie Tante Camilla und Onkel Peter. Gott saß eindeutig im Westen. Der Westen war das verlorene Paradies.
Was selbstverständlich nur die halbe Wahrheit ist. Neue Leben ist ein vielschichtiges Buch, ja eines, in dem gleich mehrere andere stecken. Ein Brief- und Künstlerroman, in dem die sogenannte Wendezeit biografische Brüche auslöst und beschleunigt, in dem man sich einer Figur über ihre Selbstdarstellung gegenüber drei verschiedenen Adressaten nähert, in dem vieles nicht so ist, wie es zunächst scheint. Es wimmelt darin von Anspielungen, ein undurchschaubarer Geschäftemacher aus dem Westen bekommt die Züge Mephistos, und ohne die Lektüre des Kater Murr von E. T. A. Hoffmann, sagt Ingo Schulze, hätte der Roman seine doppelbödige Form vielleicht gar nicht gefunden.
Schulze hatte knapp sieben Jahre an dem 800 Seiten dicken Roman Neue Leben gearbeitet; und da war es fast verwunderlich, dass keine zwei Jahre später schon ein neues Buch von ihm erschien: Handy. Dreizehn Geschichten in alter Manier. Auch hier sind es wieder die kleinen Risse und Verwerfungen, die Schulze als Seismograph wahrnimmt, ohne sie genau zu benennen. »Something’s happening here and you don’t know what it is«, heißt es einmal bei Bob Dylan. Es passiert etwas, aber du weißt nicht genau, was es damit auf sich hat. Dieses Motto könnte auch den Geschichten von Schulze vorangestellt sein.
Der Roman Adam und Evelyn aus dem Jahr 2008 verhandelt – der Titel deutet es an – den Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradies oder die Suche nach dem Paradies. Wenn auch nicht ganz klar wird, in welcher Himmelsrichtung der Garten Eden nun liegen könnte. Adam und Evelyn zeichnet wie seine anderen Bücher etwas aus, das Ingo Schulze in seiner Leipziger Poetikvorlesung so formuliert hat: »Ich will etwas über einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit sagen. Das heißt, ich versuche, den alten Geschichten von Liebe und Tod etwas von unserer eigenen Zeit einzuschreiben. Indem ich mich vorhandener Muster bediene, hoffe ich auch die alten Geschichten lebendig und lesbar zu halten. Denn Literatur, wenn sie den Namen verdient, bedeutet immer zeitliche und räumliche Vergegenwärtigung. Nichts ist vergangen, wenn wir die Spuren in unserer Zeit zu finden vermögen, wenn es uns gelingt, sie zu sehen, zu hören, zu tasten, zu schmecken, zu riechen, also zu lesen.«
Sehen, hören, tasten, schmecken, riechen – also wahrnehmbar machen, was war und nicht vergangen ist, das gelingt Schulze auch in seinem neuen Roman. Womit wir bei dem schon erwähnten Peter Holtz wären, der eine unvergessliche, pikareske Figur ist. Von Kindesbeinen an zeichnet ihn eine gutmütige Naivität aus – er ist ohne Arg und nimmt die Dinge beim Wort, glaubt an die Heilsversprechungen und Ideologien des Sozialismus mit schier penetranter Einfalt und Großherzigkeit zugleich. Er will unbedingt die Menschheit glücklich sehen und gerät in seinem missionarischen Eifer in die absurdesten Situationen, zumal sich die Verhältnisse und mit ihnen die Menschen ändern. Zwischen 1974 und 1998 spielt dieser Schelmenroman; und als der frisch bekehrte Christ Holtz, der ausgerechnet in der Blockpartei CDU für den wahren Kommunismus streitet, aus dem Strudel der Wende-Ereignisse auftaucht und aus einem sanften Komaschlaf erwacht, ist er plötzlich Millionär. Und muss nun dem Kapitalismus das Beste abgewinnen – irgendwie will er sich ja treu bleiben. Mit dieser Simplicissimus-Figur bildet Ingo Schulze auf meisterliche und zudem sehr komische Weise die jeweiligen Zeitumstände ab. Die lassen sich meist besser erkennen, wenn eine Figur sie spiegelt, die gar nicht so recht alles überschauen kann. Die Abgründe und Widersprüche werden so ein bisschen deutlicher. Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst – so heißt der neue Roman, der auf gewisse Weise zurückblickt auf unsere Gegenwart.
Von der Exkursion in den Osten, die 1990 begann, sind wir Schüler aus der baden-württembergischen Provinz wahrscheinlich noch immer nicht zurückgekehrt. Wir reisen jetzt aber nicht mehr im Bus, sondern, viel schöner, mit der Literatur von der Ingo Schulze.
Zum Weiterlesen (Auswahl):
33 Augenblicke des Glücks. Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter. 1995. 272 Seiten
Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz. 1998. 304 Seiten
Neue Leben. Roman. 2005. 752 Seiten, 22 Euro
Handy. Dreizehn Geschichten in alter Manier. 2007. 288 Seiten, 19,90 Euro
Adam und Evelyn. Roman. 2008. 304 Seiten, 18 Euro
Alle im Berlin Verlag.
Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017. 576 Seiten, 22 Euro
Ulrich Rüdenauer, Jahrgang 1971, arbeitet in Bad Mergentheim und Berlin als freier Autor, unter anderem für Süddeutsche Zeitung, taz, Deutschlandfunk und SWR. Er ist Kurator der Lesereihe »Literatur im Schloss« in Bad Mergentheim und der »Winterlese«, des ersten Büchermarkts unabhängiger Verlage, der dort am 26. November im Deutschordensmuseum stattfindet.