Interview: Nina Jäckle über ihren neuen Roman Stillhalten

»Sie war eine Dame, und sie hat es ertragen wie eine Dame. Sie war gern beschwipst, manchmal etwas albern und immer auf eine feine Weise traurig.«
Nina Jäckle über ihre Großmutter und ihren neuen Roman
Stillhalten

Nach einem Jahr in der Villa Massimo kam Nina Jäckle soeben aus Rom zurück, wo sie ihren sechsten Roman geschrieben hat, einen Roman über ihre Großmutter Tamara Danischewski. Die Öffentlichkeit wusste bisher nichts von ihrem Leben, kennt jedoch das Porträt, das Otto Dix 1933 von ihr gemalt hat, es hängt im Kunstmuseum Stuttgart; dort findet am 29. September auch die Buchvorstellung statt.

Nina Jäckle, 1966 in Schwenningen geboren, debütierte 2002 mit dem Erzählband Es gibt solche, dem Romane, Erzählungen, Hörspiele und Drehbücher für Kurzfilme folgten. Sie erhielt zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt 2015 den Evangelischen Buchpreis und den Tukan-Preis für ihren Roman Der lange Atem und 2016 den Italo-Svevo-Preis für ihr Gesamtwerk. Der lange Atem spielt in Japan, anderthalb Jahre nach der Katastrophe von Fukushima, und stellt einen Phantombildzeichner ins Zentrum. Nina Jäckles Figuren sind Antihelden, »gescheiterte Glücksjäger«; in ihren Werken geht es um Identität und Selbstentfremdung, um den Umgang mit Extrem- oder zumindest Ausnahmesituationen, um die Gefährdung des Menschen. Gemessen an den großen Themen sind ihre Bücher auffallend schmal: aufs Wesentliche konzentriert und mit einer Raffinesse komponiert, die einen Sog erzeugt – zu dem auch der »poetische Raum der Stille« beiträgt, den sie der Sprache zurückgeben möchte.

Wie entstand die Idee zu diesem Roman?

Ein guter Freund, der mittlerweile sehr alt ist, erzählte mir davon, dass er ganz nüchtern zurückblickend sagen kann, er habe sein Leben falsch gelebt. Das Familiendasein habe nicht gut geklappt, die Frau sei die falsche Frau gewesen, die Kinder seien nicht sehr geglückt, der Beruf sei nicht ausfüllend genug gewesen, er habe das Leben verwirkt und keine Lust, dies zu beschönigen. Das hat mich beschäftigt, dieses ehrliche Bilanzziehen eines Menschen, der sein Leben quasi hinter sich hat. Und es erinnerte mich an meine Großmutter, für die nur vier kurze Jahre ihres Lebens wirklich Bedeutung hatten, vier Jahre, in denen sie in Dresden Tänzerin war und Modell von Otto Dix. Immer wieder erzählte sie von dieser kurzen Zeit voller Tanz, Musik und Kunst, am Ende schienen allein diese vier Jahre ihr ganzes Leben gewesen zu sein.

Haben Sie Ihre Großmutter gut gekannt?

Ja, meine Großmutter ist 1994 gestorben, ich war damals 28 und sie war 82 Jahre alt. Als Kind und Jugendliche habe ich viel Zeit bei meinen Großeltern verbracht, ich war ein etwas angeschlagenes Stadtkind, auf dem Land sollte ich aufgepäppelt werden. Wie meine Großmutter immer sagte: »Iss’ auf, ich soll dich päppeln.«

Wussten Sie von dem Gemälde?

Oh ja, das Bild hing über dem Schreibtisch meiner Großmutter, ein Duplikat in Originalgröße, ich bin mit diesem Duplikat des Bildes aufgewachsen, nun hängt es über meinem Schreibtisch. Ich habe oft im Zimmer meiner Großmutter gesessen und sie erzählte von damals, von ihrer Tanzlehrerin Mary Wigman, von der Palucca, vom Tanzen im Kabarett und natürlich von »ihrem Dix«, der für sie ein wichtiger Gesprächspartner gewesen ist. Otto Dix war ein entschiedener Kriegsgegner, der zu der Zeit, als er meine Großmutter malte, 1933, gerade durch die Nazis wegen »Verletzung des sittlichen Gefühls und Zersetzung des Wehrwillens des deutschen Volkes« sein Lehramt verloren hatte. Dix hielt seine Wut auf die Kriegsmaschinerie und seinen Ekel vor der Bürgerlichkeit nicht zurück. Meine damals noch junge Großmutter war davon sehr beeindruckt und verunsichert.

Und dann verliebte sie sich in einen Mann, einen »gut aussehenden Fremden«, der alle Abende ins Kabarett kam und sie umwarb. Die Mutter überredete sie zur Heirat – »keinen Besseren wirst du finden« –, denn er ermöglichte ihnen die Flucht aus Dresden. Dieser Ehemann nannte den Maler »einen Schmierer«, zwang Tamara, das Tanzen aufzugeben und zu einem gewissermaßen lebenslangen »Stillhalten«. Wie hat sie das ertragen?

Sie war eine Dame, und sie hat es ertragen wie eine Dame. Sie war gern beschwipst, manchmal etwas albern und immer auf eine feine Weise traurig. Ich habe sie sehr gemocht. Sie war dort auf dem Land am vollkommen falschen Ort, jedoch an dem ihr einzig möglichen. Sie wusste immer, wo das Originalgemälde gerade ausgestellt wurde, ob es in einem Katalog abgedruckt worden war, ob es Postkarten davon gab. Einmal war sie sehr empört, weil die Deutsche Post aus dem Dix-Bildnis der Tänzerin Anita Berber eine Briefmarke gemacht hatte, statt aus ihrem Porträt. »Alle nehmen immer diese dreiste Rote …«, sagte sie.

Wie haben Sie recherchiert?

Ich habe mich erinnert. An das Haus, an den See, an meine Großmutter, an ihre Geschichten. Und dann kam der Klang in die Aufzeichnungen, und ich wusste, es wird ein Buch, und ich habe dazugedichtet und weggedichtet in diesem Klang. Als mir das Personal des Buches klargeworden war, las ich über Dix, las seine Briefe, sah mir seine Bilder an. Auch war ich im Berliner Mary-Wigman-Archiv und ich las über den Ausdruckstanz und sammelte Fotos, sah Filme, um besser verstehen zu können, was meine Großmutter meinte, wenn sie damals über Tanz sprach oder über Dix. Im Wigman-Archiv fand ich ein Blatt mit Notizen der Wigman, Beurteilungen von Schülerinnen, ein Vortanzabend muss das gewesen sein, da stand der Name meiner Großmutter. Es war schön, ihren Namen zu lesen, und es war eine Art Beweis dafür, dass sie diese guten Jahre in Dresden wirklich gehabt hatte.

Ist es schwer, über einen nahestehenden Menschen zu schreiben?

Nach einem kurzen Moment war aus meiner Großmutter bereits eine Protagonistin geworden. Das Haus, das ich so gut kenne, war nach wenigen Sätzen für mich zum ausgedachten Haus, der See, der Wald, das Dorf zur ausgedachten Welt geworden. Sobald sich der Klang eines Textes einstellt, ist für mich die Frage nach der Realität nicht mehr relevant. Dass es sich um den tatsächlichen Lebensplot meiner Großmutter handelt, hatte beim Schreiben keine große Bedeutung mehr. Wenn ich über Libellen am See schreibe, die es tatsächlich gegeben hat, so fühlen sie sich im Schreiben nicht echter an als der im Kreis laufende Igel zum Beispiel, den es nicht gegeben hat. Ich habe als Schriftstellerin geschrieben, nicht als Enkelin. 

Nur Tamara trägt im Roman einen Namen, die anderen Personen sind der Maler, der Ehemann, die Mutter, der Gärtner, die Haushälterin – in ihrer Funktion bezogen auf die Hauptperson …

Es fühlte sich richtig an, ich konnte es nur so schreiben, nur sie bekommt einen Namen, das ist wie ein Spot, der nur auf Tamara gerichtet ist.

Erzählt ist der Roman rückblickend aus Tamaras Perspektive, als eine Art innerer Monolog. Die kurzen Absätze gehorchen nicht der Chronologie, sondern einer anderen, assoziativen Logik …

Man erinnert sich nicht chronologisch. Das eine ergibt das andere, das ist so im Kopf, in meinem zumindest.

Dadurch entsteht ein Bewusstseinsstrom, vieles wird nicht detailliert erzählt, sondern nur angedeutet, aber jedes einzelne Bild, jede Formulierung scheint von tieferer Bedeutung zu sein für das ganze Buch.

So soll es sein. Das ist schön, dass Sie es so gelesen haben.

Mir ging es so, dass sich einzelne Sätze eingeprägt haben: »An der Hand des Falschen in den Zuschauerraum gesprungen und im Zuschauerraum geblieben« oder »ein Leben vergeudet, den Grund verloren, grundlos geblieben«.

Sie lassen ein tragisches Frauenschicksal entstehen, die Protagonistin wird zum Stillhalten in jeglicher Beziehung verdammt. Als Leserin lässt einen das ein bisschen traurig zurück, denn der Anfang ihrer Karriere als Tänzerin in den 1920er Jahren war vielversprechend. Steht Tamara für eine Generation oder hat sie ein individuelles Schicksal?

Ich habe ein einzelnes Schicksal entworfen, das hoffentlich generell von Gültigkeit ist, das also über die Geschichte meiner Tamara hinaus Bedeutung hat.

Die Fragen stellte Irene Ferchl.

Zum Weiterlesen (Auswahl):

Stillhalten. Roman. 2017. 190 Seiten, 20 Euro

Der lange Atem. Roman. 2014. 176 Seiten, 19 Euro

Zielinski. Roman. 2011. 186 Seiten, 18,90 Euro

Nai oder was wie so ist. Erzählung. 2010. 92 Seiten, 14,90 Euro

Alle bei Klöpfer & Meyer, Tübingen