Von Michael Braun
Es gibt ein Foto von Jürgen Theobaldy, das ihn im hochgeschlossenen Mantel zeigt, wie er im November 1993 mit ernstem Blick durch die Fußgängerzone von Bern flaniert, die Schweizer Metropole, die von 1984 bis 2010 seine Wahlheimat, sein Arbeitsplatz und sein poetisches Refugium war. Die Zeit der »Neuen Subjektivität« war damals schon vorbei, jene Zeit der lyrischen Euphorie, als es noch möglich schien, das Gedicht »ins Handgemenge« zu schicken, gleichsam als Flankenschutz für linke Utopien. Der Flaneur im Wintermantel hatte sich nach 1984 den Ränkespielen des deutschen Literaturbetriebs entzogen und arbeitete seither als Parlamentsschreiber im Bundeshaus in Bern. »Aber er würde nie zum Typ werden, der die öffentliche Hochachtung sucht … Eher stieß ihn soviel Lust am Auftrumpfen ab, soviel Gier, im Mittelpunkt einer Runde zu glänzen, weit herum bekannt zu sein und bewundert zu werden.« Diese Sätze finden sich viele Jahre später in Theobaldys 2015 publiziertem Roman Rückvergütung – und man darf die hier zitierte Beschreibung des unglücklichen Angestellten Renner durchaus als Selbstporträt des Dichters Jürgen Theobaldy lesen, der heute in Ostermundigen lebt, das wiederum aus einer Erzählung Franz Hohlers bekannt ist.
Vor 40 Jahren hat Theobaldy das wohl härteste »Abenteuer mit Dichtung« unverletzt überstanden. Den vermeintlich toten Klassiker Goethe animierte der junge Wilde damals im Eröffnungsgedicht seines Gedichtbandes Blaue Flecken (1974) zu einer halsbrecherischen Autotour, die nach etlichen groben Manövern im Graben endet. Der Wortführer der »Neuen Subjektivität« praktizierte seinerzeit nicht nur die Abweichung von der Straßenverkehrsordnung, sondern auch von den Regeln der traditionellen Poetik. Der »Glanz des einfachen direkten Ausdrucks« und die »Unmittelbarkeit der gesprochenen Sprache« erschienen ihm wichtiger als das Regelwerk der poetischen Altvorderen.
»Diese Gedichte sind für alle, die in den Zügen der Deutschen Bundesbahn zweiter Klasse sitzen, auf den vorderen Plätzen im Kino, für alle, die Stehplatzkarten für die Kurve haben, wo der Abstand zum Spielfeld am weitesten ist.« So heißt es im Nachwort zum Gedichtband Zweiter Klasse (1976) – und dieses Kokettieren mit dem Gestus der Alltäglichkeit, die Hinwendung zu den »gewöhnlichen Leuten« (Hugo Dittberner), auch die Schnoddrigkeit des Tons bestimmten die frühen Gedichte.
1944 in Straßburg geboren und in einer Arbeiterfamilie in Mannheim aufgewachsen, führte Theobaldy das Gedicht ganz nah an die Lebenswelt der 68er-Generation heran, mitten hinein in die spontaneistische Revolte. Nach seinem Wechsel in die Schweiz begannen sich seine Gedichte auf die klassischen Formen zurückzubesinnen. Die antike Odenstrophe und die Elfsilbler Catulls waren ihm bald näher als das lässig dahingesprochene Parlando. Je älter der Dichter wurde, desto mehr gelang es ihm, Leichtigkeit und Grazie poetisch zu verbinden. Neben den Lyriker Theobaldy trat ab 1978 auch der Romanautor, der mit seinen epischen Büchern aber nie jene Aufmerksamkeit fand, wie er sie noch in den 1970er Jahren als lyrischer Repräsentant der »Neuen Subjektivität« genossen hatte. 2003 erschien sein vieldeutig funkelnder Roman Trilogie der nächsten Ziele, das bis heute unbekannteste, vielleicht aber auch aufregendste Buch des Autors. Windstürme und Staubfahnen treiben in diesem Roman über die westeuropäischen Metropolen und verwandeln das Antlitz der Städte in eine Wüstenei. Die prunkvollen architektonischen Zeugen der Moderne zerbröseln auf rätselhafte Weise zu Staub. Schuld daran, so geht das Gerücht, ist der Beton der Gebäude, der aufgrund der stetig fortschreitenden Korrosion der Stahlkerne von innen her zersetzt wird. Um den unerwarteten Einbruch der Wüste abzuwehren, werden Asylsuchende vor die Stadt transportiert, um dort an riesigen Windfängen zu arbeiten.
Der Protagonist des ersten Teils der Trilogie ist ein vom Balkan stammender Flüchtling, der mit Mühe den Todesschwadronen in seiner Heimat entronnen ist und in der Schweiz Zuflucht sucht. Der zweite Romanteil gibt den Blick frei auf undurchschaubare Machtkämpfe und Geldwäschereien des organisierten Verbrechens, erzählt von mörderischen Rivalitäten mafiöser Waffen- und Drogenhändler. Im dritten Kapitel kommt ein pedantischer Bürokrat zu Wort, der in einer regierungsnahen Behörde die Aktivitäten seiner externen Mitarbeiter überprüft und dabei auf seltsame Dokumente stößt, die auf den Plan zu einer Erpressung hindeuten. Vieles bleibt offen in diesem Buch, nicht nur die Schauplätze der Handlung und die Namen der meisten Figuren, sondern auch die Motivlagen der Akteure.
In dem gesellschaftlichen Universum, das der Autor mit seinen drei fiktiven Lebensgeschichten ausleuchtet, gibt es keine politischen oder moralischen Haltepunkte mehr, die Orientierung bieten. Das ist nicht mehr der lässige Theobaldy, der in seinen frühen Gedichten eine provokativ-kunstlose Haltung einnahm und die Bierbestellung poetisierte. Hier ist ein nuancenreicher Erzähler am Werk, der sich ganz in die Innenwelt seiner Figuren vertieft und den Rätselcharakter seiner Geschichte erhöht, je weiter das Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven aufgefächert wird. Nicht nur die architektonische Basis der Moderne ist hier zu Staub zerbröselt, sondern auch jedwede Utopie, die über den Egoismus der konkurrierenden Einzelinteressen hinausweist.
In seinem Roman Aus nächster Nähe (2013) kehrt Theobaldy als Archäologe eines Geschichtsgefühls noch einmal in die Epoche der linken Utopien zurück. In der Silvesternacht des Jahres 1989, wenige Wochen nach dem Fall der Mauer, irren seine Helden Richard und Gunter durch Charlottenburg und Kreuzberg, besiedeln in ritueller Selbstvergewisserung ihre Szenekneipen, die »Dicke Wirtin«, das »Café Bleibtreu« oder den »Zwiebelfisch«, immer auf der Suche nach ihren verlorenen Träumen. Sie repräsentieren eine Generation, die einst von der symbiotischen Verschmelzung des Politischen mit dem Poetischen träumte und mit »begrenzten Regelverletzungen« die als rückständig verachtete bürgerliche Gesellschaft in ein libertäres Paradies der Herrschaftsfreiheit transformieren wollte. Unter »dem entgrenzten Himmel Brandenburgs« ist in den Tagen der Wende nicht mehr viel davon übrig geblieben.
Aus nächster Nähe erweist sich als Abschluss einer Roman-Expedition, die der Autor bereits 1978 begonnen hat, denn der liebeshungrige Protagonist entpuppt sich als der älter gewordene Held aus Theobaldys Romanerstling Sonntags Kino (1978), in dem das rebellische Vagabundieren von Mannheimer Jugendlichen in den 1950er Jahren beschrieben wird.
In seinen jüngsten Gedichtbüchern Suchen ist schwer (2012) und Hin und wieder hin (»Gedichte aus Japan«, 2015) scheint der Übermut des Alltagslyrikers einer verhaltenen Melancholie gewichen zu sein. Viele dieser Gedichte wirken wie zarte Meditationen, die in unaufgeregter Reflexion von den letzten Dingen handeln, »das lange kurze Leben« in den Blick nehmen, den »ganz privaten Anteil an der Ewigkeit«. Im Gedicht »Jahresring« ist zum Beispiel nicht nur der Lauf der Jahreszeiten, sondern auch die Dialektik von Werden und Vergehen in einfachsten botanischen Phänomenen und dem Wechsel der Farben festgehalten. Das Weiß ist hier die Grundfarbe, das Weiß der Kirschblüte, des Schnees und – implizit anwesend – das Weiß des leeren Papiers, das mit Schriftzeichen bedeckt wird. Ein rot flammendes Ahornblatt verweist kurz auf den Herbst, der schnell zur Neige geht und abgelöst wird vom Winter, in dem die gefallenen Blätter hinweggefegt werden. Am Ende ist es wieder ein fast triumphal aufstrahlendes Weiß, das die Szene dominiert. Diese japanischen Gedichte sind zwischen 2012 und 2015 entstanden, Theobaldys im Mai 2016 verstorbene Frau Sanae Christen-Inoue hat sechs Haiku-Übersetzungen zum Buch beigesteuert. Es geht hier darum, einen Schwebezustand des Sinns zu erreichen und die Herrschaft der sprachlichen Konditionierungen, die uns beherrschen, in der Erfahrung des poetischen Augenblicks auszulöschen. Jürgen Theobaldy hat in seinen »Gedichten aus Japan« nicht das fremde Land lyrisch fotografiert, eher geschieht das Gegenteil. Um es mit dem französischen Philosophen Roland Barthes zu sagen: »Japan hat ihn mit vielfachen Blitzen erleuchtet.«