Von Ulrich Rüdenauer
»Was mir genau beim Schreiben widerfährt«, so Marcel Beyer in seinem neuen, poetologischen Essayband Das blindgeweinte Jahrhundert, »wie die Arbeit vonstatten geht, wie ich etwa von einem Punkt zu einem auf den ersten Blick weit, ja, absurd weit entlegenen zweiten Punkt gelange, der sich binnen eines Lidschlags als einziger in Frage kommender Anknüpfungspunkt erweist, wüßte ich nicht zu sagen. Möglich, ich sitze tatsächlich da mit hochrotem Kopf und zerzausten Haaren. Ich weiß nur soviel: Die körpereigenen Drogen leisten ihre Dienste. Könnte ich mir beim Schreiben selber zuschauen, sähe ich vielleicht jemanden, der vollauf damit zu tun hat, die körpereigenen Drogen so zu dirigieren, daß sie ihre Wirkung entfalten. In Wirklichkeit sehe ich kaum meine eigenen Hände.«
Ein schönes Bild: Im Schreiben wird das Bewusstsein auf gewisse Weise ausgeschaltet, greift das Unbewusste tatkräftig ins Werk ein. Die einsame Konzentration auf den Text kann vielleicht wirklich am ehesten als eine Art Rausch verstanden werden. Manche Dichter haben zur Erzeugung dieses Rausches tatsächlich Drogen eingesetzt, der von Marcel Beyer verehrte William S. Burroughs beispielsweise. Schiller hatte faulende Äpfel in seinen Schubladen, an denen hat er zuweilen geschnuppert. Vielleicht ist eines der Rauschmittel des Schriftstellers Marcel Beyer die Musik. In seiner Dresdener Altbauwohnung lehnen an den Wänden imposante Regale, gefüllt nicht nur mit Büchern, sondern auch mit unermesslich vielen Schallplatten. Diese Sammlung enthält eindrucksvolle Schätze, Reggae- und Dub-Alben aus den frühen Achtzigerjahren, Jazz und Funk, Raritäten aus allen möglichen Regionen Afrikas. Man bräuchte Jahre, um sich durch diese Soundwelten zu hören.
Die Musikleidenschaft verrät etwas über die Sozialisation des letztjährigen Büchner-Preisträgers, dem die Jury in ihrer Begründung nachsagte, er habe den Sound der Straße im Ohr. Der Sound der Straße – das deutet auf das Urbane, auf bestimmte Rhythmen, aufs Schmutzige und Urwüchsige, das nicht in die bürgerlichen Salons vorgelassen wird. Die Musik, der Beyer sich von Anfang an verbunden fühlte, stammte von der Straße, von den Rändern, war schwarz und repetitiv. »Man ging los in den Plattenladen und kaufte Schallplatten«, sagt der 1965 in Tailfingen geborene, in Kiel und Neuss aufgewachsene Marcel Beyer. »Und man ging in den Buchladen und kaufte Merve.« Avancierte Musik und Theorie, das waren die Grundnahrungsmittel für viele von jenen, die in den Achtzigerjahren intellektuell das Laufen lernten, mit dem Schreiben begannen und schließlich zu Schriftstellern wurden. Verfahrensweisen elektronischer Musik fanden ganz automatisch Eingang ins Denken und ins Schreiben.
Die Musik also stand am Beginn des Daseins als Autor, laut, basslastig, rhythmisch. Marcel Beyer hat in den Neunzigerjahren für die subkulturelle Zeitschrift Spex geschrieben, hat Musiker und Künstler in London besucht. Manchmal hat er in seinen Artikeln dann auch grundsätzliche Fragen gestellt: »Wie kann man Musik machen, die – so Bim Sherman – ‚very emotional‘ wirkt, ohne geradewegs in die Kitschfalle zu jagen?«
Wie kann man Literatur machen, die very emotional wirkt, ohne geradewegs in die Kitschfalle zu tapsen? Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre war auch das eine entscheidende Frage, und die Techniken, die von avancierter Popmusik bereitgestellt wurden, halfen vielen Autoren bei der Entwicklung neuer poetologischer Ansätze. Samples, die elektronische Musikformen bestimmten, kamen nun auch in literarischen Texten zum Einsatz. Der Gestus der jüngeren Autorengeneration jener Zeit sei klar gewesen: »Man muss da wieder eine Energie reinbringen. Alles wirkte so ein bisschen eingeschlafen«, erinnert sich Beyer. Mit Norbert Hummelt trat er, der in Siegen bei Karl Riha Literaturwissenschaften studierte, in Kölner Clubs auf, Gedichte lesend und Schlagzeug spielend.
Bei Beyer wirkten neben der Musik noch andere Energiekräfte, andere Rauschmittel. »Ich habe 1986 unter dem ganz starken Eindruck meiner Friederike-Mayröcker-Lektüre angefangen, meinen ersten Roman Das Menschenfleisch zu schreiben.« In dieser Zeit entdeckte Beyer weitere Autoren, die für ihn prägend werden sollten, Solitäre und Außenseiter, Vertreter des Nouveau roman, literarische Avantgardisten und Grenzgänger wie Michel Leiris, Georges Perec oder Claude Simon. Der Lyriker und Zeitgenosse Thomas Kling wurde ebenfalls zu einem wichtigen Orientierungspunkt. Mit Kling verbindet Beyer das Interesse für die Musikalität der Texte, für verschiedene Töne, dialektale Färbungen, für Landschaften und historische Verwerfungen, die mittels Sprache bis in die Gegenwart hinein fortwirken. Die wichtigste Begegnung dieser Jahre aber war wohl tatsächlich die mit Friederike Mayröcker, über die er seine wissenschaftliche Abschlussarbeit verfasst und deren Archiv er in Wien Ende der Achtzigerjahre geordnet hat. Aus der Verehrung entstand eine Freundschaft. »Ich habe durch Friederike Mayröcker gemerkt, dass absolute Kompromisslosigkeit in Sachen der Kunst durchaus bestehen kann neben einer sehr freundlichen, offenen Hinwendung zur Welt und den Menschen. Und das hat mich doch sehr beeindruckt. Und das ist auch bis heute so. Das ist für mich eine Sache der Lebenshaltung.«
Kompromisslosigkeit in Sachen der Kunst und offene Hinwendung zur Welt und zu den Menschen – diese Eigenschaften lassen sich auch Marcel Beyer nachsagen. Schon seine frühen Texte, in Gang gesetzt durch die verschiedenen Begegnungen mit Autoren und Musik, sind von großer Originalität: Die verschiedenen literarischen Stimmen, die durch den Dichter hindurchgingen, verwandelten sich zu etwas Eigenem.
Flughunde, Marcel Beyers Roman aus dem Jahr 1995, war ein großer Wurf, in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur, dass darin auf geradezu bestechende Weise medientheoretische Erkenntnisse der vergangenen zwei Jahrzehnte in grandiose Prosa einflossen, Geschichte aus der Perspektive eines Nachgeborenen mit komplexen Mitteln re-inszeniert wurde – eine messerscharfe, kühle Prosa, die ins Herz der Düsternis Deutschlands vordrang. Beyer hatte zudem über mehrere Arbeitsschritte zu einer souveränen Form gefunden.
Der Roman Flughunde gilt als ein Höhepunkt der Literatur der Neunzigerjahre. Erzählt wird das Leben des Tontechnikers Hermann Karnau, der sich ein Stimmen- und Schallarchiv einrichtet – ein fiktives, aber durchaus charakteristisches, medienhistorisch erkenntnisreiches Kapitel der Medizin- und Technikgeschichte im Dritten Reich. Karnau untersucht Kehlköpfe, nimmt das Geröchel von Sterbenden auf Schlachtfeldern auf und am Ende sogar im Führer-Bunker die letzten Atemzüge der Goebbels-Kinder, deren Schicksal Beyer mit der Geschichte Karnaus verwebt.
1997 dann erschien Beyers Gedichtband Falsches Futter, im Jahr 2000 der dritte Roman Spione. Waren es in Flughunde die akustischen Signale, die Geschichte zu vergegenwärtigen halfen, so sind es bei den Spionen visuelle Zeichen: die Fotografie. Der Roman handelt unter anderem von der Konstruktion des Historischen – das Vergangene kann immer nur schemenhaft sichtbar gemacht werden. Erdkunde, ein weiterer Gedichtband, folgte bereits zwei Jahre später und ist ein Buch, mit dem Beyer tief in historische Räume und die Landschaften des Ostens vordringt, nicht zuletzt das Ergebnis einer regen Reisetätigkeit. »Das Reisen, das Zuhören und Schauen wirken auf mein Schreiben zurück«, heißt es in einem von Beyers Essays.
Bereits 1996 war er nach Dresden gezogen. Ihn als Westdeutschen interessierte, wie diese mythenbehaftete Stadt sich nach 1990 langsam neu erfinden musste. Dresden lehrte Beyer, wie Geschichte funktioniert, wie sie auch literarisch produktiv gemacht werden kann. Die typisch bundesrepublikanische Jugend am Niederrhein wurde so zugleich konterkariert. Vom »Nicki der Geschichte« ist in einem seiner Gedichte die Rede. Der Nicki, das war das angemessene Kleidungsstück des in Westdeutschland sozialisierten jungen Mannes, dem kein geschichtsträchtiger Mantel gepasst hätte, dem das Pathos der älteren Generation angesichts von Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges ein paar Nummern zu groß war. Und der dann doch mit dieser deutschen Historie sich auf so intensive Weise auseinandersetzte wie kaum ein zweiter Autor seiner Generation. In einem Essay aus dem Band Nonfiction schrieb er 2003: »Andere Blicke auf Geschichte, nachdem Geschichte nicht mehr ist, was sie für mich war: Nun begreife ich etwas als geschichtlich, indem ich es als gegenwärtig begreife, und umgekehrt: Gegenwärtig ist für mich, was ich als geschichtlich erkennen kann. Das muß, denke ich, doch Folgen haben.«
Es hatte Folgen für die Literatur. Etwa für den Roman Kaltenburg aus dem Jahr 2008, der in Dresden spielt. Darin begibt sich Beyer auf die Spuren eines Ornithologen, der Züge von Konrad Lorenz trägt, auf die Spuren deutsch-deutscher Vergangenheit. Aber wie in den großen Vorgängerromanen Marcel Beyers ist auch hier Geschichte als Konstrukt erkennbar; die Zusammenhänge sind auch in der Retrospektive nicht fixiert, sondern in ihrer Brüchigkeit und Komplexität nur zu erahnen.
Beyer schaut sich gerne in naturwissenschaftlichen Disziplinen um, insbesondere in der Zoologie. Und er interessiert sich so stark für andere Künste, die Fotografie oder die Malerei, dass sie in seine eigene Arbeit mit einfließen. Zuweilen kommt es zu engen Kollaborationen, etwa mit Musikern. In der Zusammenarbeit, beim gemeinsamen Erkunden eines Projekts, bei den Proben und beim Verwerfen entsteht eine neue Sicht auf das eigene Tun. Mit dem Komponisten Enno Poppe verbindet Marcel Beyer eine solche intensive Arbeitsbeziehung, etliche Opernlibretti sind daraus hervorgegangen.
Beyer ist in vielen Gattungen zu Hause. Ganz unerschrocken, geradezu minutiös bewegt er sich auf die Welt und seine Figuren zu und hält sie sich doch zugleich immer ein wenig auf Distanz, bewahrt Coolness, Dezenz. Beyers Bücher haben etwas Suchendes – es gehen Risse mitten durch sie hindurch. Sie sind nicht nur assoziationsreich, sie lassen Assoziationen zu. Es gibt keine Eindeutigkeiten. »Ich habe ja Gewissheiten im Leben«, sagt Marcel Beyer am Ende unseres Gesprächs, rauchend in der Küche seiner Dresdener Wohnung sitzend. »Kein Mensch muss schreiben, das ist etwas, was uns von allen anderen Lebewesen auf dieser Welt unterscheidet. Und wenn wir das schon machen, dann doch nicht, um Dinge noch einmal zu produzieren, die uns sowieso sonnenklar sind.«
Marcel Beyer liest am 11. Mai um 19.30 Uhr im Deutschordensmuseum Bad Mergentheim im Rahmen der Reihe »Literatur im Schloss« aus seinen Büchern und spricht mit dem Literaturkritiker Helmut Böttiger über sein Werk. Karten gibt es im Vorverkauf bei der Buchhandlung Moritz und Lux in Bad Mergentheim und an der Abendkasse.
Zum Weiterlesen:
Das Menschenfleisch. Roman. 1991
Flughunde. Roman. 1995
Falsches Futter. Gedichte. 1997
Kaltenburg. Roman. 2008
Das blindgeweinte Jahrhundert. Bild und Ton. 2017
Alle im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. und Berlin
Spione. Roman. 2000
Erdkunde. Gedichte. 2002
Nonfiction. Essays. 2003
Alle bei DuMont, Köln
Ulrich Rüdenauer, Jahrgang 1971, arbeitet in Bad Mergentheim und Berlin als freier Autor, unter anderem für Süddeutsche Zeitung, taz, Deutschlandfunk und SWR. Er ist Kurator der Lesereihe „Literatur im Schloss“ in Bad Mergentheim.