Von Julia Schröder
»Statt etwas haben wir Wörter«, so endet Martin Walsers Aufsatz »Sprache, sonst nichts« von 1999. Fast zwanzig Jahre später trägt der Roman, den Walser in diesem Winter den Lesern zur Feier seines neunzigsten Geburtstags bescherte, den Titel Statt etwas oder Der letzte Rank. Das will etwas besagen.
Nichts leichter, als diesen Autor misszuverstehen und die Kulissen seines Erzähltheaters auf Inhalte zu durchstöbern. Denn nicht die Liebe ist ihm das Größte, nicht Freund und Feind und Herr und Knecht sind es, auch nicht die Frauen, das Geld, das Alter, der Schmerz – obwohl Martin Walser in seinen Büchern für all dies große Partien komponiert hat. Die Hauptrolle aber ist einem anderen vorbehalten: dem Satz. Kaum ein Kapitel seiner Prosa ohne den Auftritt »des Satzes« oder »der Sätze«. In den Himmel hebende, vernichtende Sätze, Sätze, die alles schöner sagen, als es ist, Sätze, die demjenigen, der sie schreibt oder liest, ganz entsprechen. Und Sätze, die einem vom anderen zugemutet werden.
»Mir geht es ein bisschen zu gut« ist, wie sich herausstellt, so eine Satz-Zumutung. Damit beginnt Statt etwas oder Der letzte Rank, und im Verlauf des Buchs folgen viele solcher Sätze: »Zu träumen genügt.« Oder: »Ich hoffe mehr, als ich will.« Oder: »Ich bin ein Apfelbaum, der Birnen trägt.« Das gemahnt teils an die Reflexionen seines aphoristischen Alter Ego Meßmer, teils an die Notate der Tagebücher, die Martin Walser als eigenen Werkteil seiner erzählenden und essayistischen Prosa an die Seite stellt. Das äußere Leben, das, was hier »die Draußen-Welt« heißt, kommt allenfalls in Spuren vor, in einzelnen Szenen, Erinnerungen. Zu erzählter Handlung im landläufigen Sinn wird all dies nicht. Der Schreibende starrt auf eine »leere, musterlose Wand« und macht »aus Erfahrungen Gedanken«. Dennoch nennt der Autor das Buch »Roman«. Das kann man erklären.
Mit der Frage, was eigentlich einen Roman ausmache, hat Martin Walser sich schon in seiner 1951 fertiggestellten Kafka-Dissertation beschäftigt, lange bevor er 1957 seinen ersten Roman Ehen in Philippsburg vorlegte. Keinen Geringeren als Georg Lukács, den marxistischen Godfather der Romantheorie, rief der Tübinger Doktorand damals auf – um ihn (mit Unterstützung unter anderem von Bense, Hegel und Heidegger) in die Schranken zu weisen; um nachzuweisen, inwiefern Kafkas Schloss und Process, so wenig handlungsgetrieben, beschreibungsgetreu und welthaltig sie sind, eben doch »Totalität« haben. Es ist nicht mehr wie zu Zeiten des Epos die »empirische Totalität« der äußeren Ordnung der Dinge (und auch nicht mehr die der Gesellschaft wie in der bürgerlichen Epopöe), sondern die der autonomen Form. »Innerlichkeit und Abenteuer« fallen hier mitnichten auseinander, wie Lukács über den modernen Roman sagte, sondern entsprechen sich. Es ist die Totalität des sprachlichen Ausdrucks »der über die Existenz eines Menschen entscheidenden Kräfte«. Anders formuliert, geht es darum, dass »der Mensch seine Situation erkennt und sie als Dichter aussagt«. Was den jungen Walser unübersehbar begeistert: Kafka »vermag seine Grenzen zu den Grenzen seiner Welt zu verwandeln«.
Mag sein, diese Kafka-Deutung, heute gelesen, wirkt ein wenig zu deutlich der Existenzialphilosophie ihrer Zeit verpflichtet. Aber die Konsequenzen aus den formgeschichtlichen Erkenntnissen seiner Doktorarbeit hat Martin Walser spätestens mit Beginn der sechziger Jahre, in den Romanen der Anselm-Kristlein-Trilogie, gezogen. Alle seine Figuren sind Ausdrucksmittel seiner Subjektivität; vom Lehrer Helmut Halm in seinem größten Erfolg, der Novelle Ein fliehendes Pferd, und dem Chauffeur Xaver Zürn in Seelenarbeit über die liebenden Ehefrauen Susi Gern (Lebenslauf der Liebe) und Maja Schneilin (Das dreizehnte Kapitel) bis zum Bankier Karl von Kahn (Angstblüte) und zum alten Goethe (Ein liebender Mann) sprechen sie mit seiner Stimme, und zwar deutlich. Und zwar je gelungener der Roman, desto deutlicher.
Das ist Martin Walsers poetisches Verfahren: Indem er sich seinen Figuren anverwandelt, sich in ihre Sprachen hineinhört, bis er darinnen ist, werden sie alle zu Sprechern Walserscher Sätze. Deshalb brechen Walsers Romane eigentlich allesamt den Spannungsbogen des Erwartbaren, bewegen sich stattdessen in Kreisen oder eher Spiralen, hin zu Untergängen, die sich auf anderer Ebene als Erhellungen, Erleuchtungen oder Erlösungen darstellen. Und wer sie allein wegen der Handlung läse, so pikant, provokant oder herzzerreißend sie sein mag, ließe sich das Beste entgehen: seine Sätze. Begebenheiten, Begegnungen und Beobachtungen in der Realität wie die Schicksale seiner Figuren sind Martin Walser »Schreibanlässe«. Es geht um »Sprache, sonst nichts«.
Statt etwas oder Der letzte Rank besteht aus Sätzen, »die man nicht beweisen muss«. Mit der »Draußen-Sprache«, mit Zuschreibungen und Bezeichnungs-Routine, mit den »Verführungsfeuerwerken der Theorien« wollen sie nichts (mehr) zu tun haben – und zuallerletzt mit »Meinung«. Das könnte aussehen wie Rückzug, denn Martin Walser – den ein Politik-Magazin erst kürzlich im Ranking der »wichtigsten Intellektuellen« für das Jahr 2017 auf Platz eins wählte – galt sein ganzes Schriftstellerleben lang als einer, der sich einmischt, der Ansichten hat und damit nicht hinterm Berg halten kann, der sich dabei immer wieder und zu seiner eigenen Überraschung in gegensätzliche Lager hineinzuformulieren scheint: links, rechts, katholisch gar. Walser selbst bezeichnet sich gelegentlich als unpolitisch, und Partei ergriffen hat er meist für diejenigen, die er für die Verlierer der Geschichte hält, für die, denen von Mächtigen etwas angetan wird.
In der Regel sah und sieht er allerdings sich selbst in dieser Position des Unterlegenen, einer »Machtausübung« Unterworfenen – und die öffentliche Meinung als feindliche Macht, vorn dran die »Chorknaben des Feuilletons«. Zum Thema wurde ihm dies 2002 in Tod eines Kritikers, seinem misslungensten Roman – nicht, weil das Buch antisemitisch wäre, wie der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher und in der Folge viele andere behaupteten, sondern weil der »Schreibanlass«, die Dauerfehde mit dem Kritiker-Feind-Freund Marcel Reich-Ranicki, kombiniert mit den Erfahrungen nach der als Schlussstrich-Appell fehlinterpretierten Paulskirchenrede von 1998, so überdeutlich bleibt.
Andererseits ist ein Walserscher Lieblings-Satz »Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr«. Das unterscheidet ihn von seinem Altersgenossen Günter Grass, dem der Standpunkt immer eine ganz eindeutige Sache war. Je mehr der Nietzsche-Leser Walser diese steile Dialektik zulässt, desto überraschender kann er die Unabgeschlossenheit von Erfahrungen zur Sprache bringen: »Ich musste hoffen, die Feinde würden nicht aufhören, sich mit mir zu beschäftigen. […] Solang ihnen noch etwas einfiel gegen mich, erlebten sie sich und erlebte die Welt mich«, heißt es in Statt etwas oder Der letzte Rank. Und: »Die Feinde und ich – wir waren ein Team. Zur Unterhaltung der Welt. Wehe, wenn dieses Team verstummte! Es fielen ihnen über mich immer wieder Sätze ein, die dem Schweigen vorzuziehen waren.«
Tragikomische Ironie ist eine Konstante des Walserschen Blicks auf die Welt und sich selbst. Selten, vielleicht nie, hat er sie so rückhaltlos vorgeführt, in so unendliche Bewegung versetzt wie in seinem jüngsten Buch. Es unternimmt immer neue Anläufe, das scheinbar Unhintergehbare – die Demütigung, Verrat, die Unmöglichkeit der Liebe – von anderer Warte aus zu betrachten: »Dass ich die um ihr Leben Kämpfenden eingeteilt habe in Freunde, Gegner und Feinde, war krankhaft ichbezogen. Ich hätte doch andauernd sehen müssen, dass jeder, der sich mit mir beschäftigte, in mir nur eine Gelegenheit sah, sich selber so zur Geltung zu bringen, dass er seinem Lebensziel, der zu sein, der er sein wollte, ein Schrittchen näher kam. Es ging nie um mich. […] Ich entschuldige mich bei allen dafür, dass ich ihren Kampf um ihr Leben oft verstanden habe, als meinten sie mich. Ich entschuldige mich! Und das, dass ich dann sagen kann: Ich entschuldige mich, also bin ich.« In diesem »letzten Rank« (womit laut Grimmschem Wörterbuch ebenso eine Wendung des Wegs gemeint sein kann wie die Ausweichbewegung eines Verfolgten) erweitert Martin Walser seine Grenzen und damit die Grenzen seiner Welt. Nicht schlecht für einen Neunzigjährigen.
Zum Weiterlesen, -hören und -sehen:
Statt etwas oder Der letzte Rank. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 171 Seiten, 16,95 Euro
Stephan Kimmig inszeniert die Uraufführung »Ehen in Philippsburg« nach Walsers gleichnamigem Roman am 11. März im Schauspiel Stuttgart.
Am 18. März zeigt der SWR um 21.55 Uhr als Eigenproduktion den Film von Frank Hertweck »Mein Diesseits – Eine Lebensreise um den Bodensee« mit Martin Walser und Denis Scheck, die Preview findet am Vorabend in Friedrichshafen statt.
Unter dem Titel »Wer ein Jahr jünger ist, hat keine Ahnung« veranstalten die Bodenseestädte eine Buchtaufe in Wasserburg (Göser / Kuhn, »‘Nirgends wär ich lieber als hier‘. Mit Martin Walser unterwegs am Bodensee»), ein Kolloqium, Vorträge und Lesungen, unter anderem mit Arnold Stadler, Jörg Magenau und Peter Blickle. Die Schlussveranstaltung wird am 24. März – an Walsers Geburtstag – in Friedrichshafen zelebriert.
Martin Walser liest in Karlsruhe am 7. 3. und spricht im Literaturhaus Stuttgart am 21. 3. mit Heribert Tenschert, dem Freund, Antiquar und Verleger der neuen 27-bändigen Werkausgabe. SWR2 überträgt diesen Abend, an dem auch ein literarisches Fragespiel mit dem Publikum stattfinden soll, live.
Julia Schröder, geboren 1963 in Solingen, studierte Literaturwissenschaft und evangelische Theologie in Bonn und München. Zwei Jahrzehnte verantwortete sie als Redakteurin den Literaturteil der Stuttgarter Zeitung, danach leitete sie das Gesellschaftsressort. Heute lebt sie in Stuttgart als freie Journalistin, u.a. für SWR und Deutschlandfunk.