Von Liliane Studer
Nora Gomringer begegnete ich
erstmals im Sommer 2007 beim Literaturfestival Leukerbad.
Angekündigt war eine Wanderung in die imposante Dalaschlucht,
begleitet von der damals 27-jährigen Autorin. Da stand sie also
mitten in einer Bergfrühlingswiese, die junge Lyrikerin, die »beste
deutsche Performance-Poetin«, die sich in manchen Poetry Slams als
Siegerin durchgesetzt hatte, die Tochter des Begründers der
Konkreten Poesie, Eugen Gomringer, die bereits mit 19 Jahren ihren
ersten Gedichtband veröffentlichte, drei Jahre später gleich einen
zweiten nachschob und damit zeigte, dass es ihr ernst war mit der
Poesie. In ihrer ganzen Größe stellte sie sich hin, rezitierte,
intonierte, spokte ihre Texte mit vollem Körpereinsatz. Und wir,
die wir im Gras standen oder saßen, wussten plötzlich, was im
Programmheft gemeint war, wenn da stand: »Sie singt, schreit,
flüstert, brüllt, haucht, zischt oder jault, akzentuiert und
rhythmisiert. Da kommen nicht bloß Texte zur Rezitation, ihre
Gedichte sind Klangpoesie und Anlass zur Performance.« Aus diesem
Mund, aus diesem Körper kam viel mehr als Silben oder Wörter. Vor
unseren Ohren und Augen entwickelten sich Geschichten, Sprache wurde
dreidimensional. Ebenso überzeugend in den stillen wie den mächtig
lauten Tönen, führte Nora Gomringer bereits damals vor, was sie
meint, wenn sie in einem ihrer Gedichte verkündet: »Ich mache
jetzt etwas mit der Sprache.« Die Blumenpracht rundum verblasste,
das Publikum blickte gebannt auf diese Frau, der es gelingt, auch
ein eher skeptisches Publikum (zu dem ich mich damals zählte) für
Spoken-Word-Texte zu begeistern.
Was sich als
harmonisches Zusammengehen von Dichterin und Publikum verstehen
ließe, als Versprechen der Autorin an die begeisterten ZuhörerInnen
– »das wird ganz unerhört sein, was ich jetzt mache mit der
Sprache, dieses Etwas« –, als Etwas, das LeserInnen aufhorchen
lässt – »Da werden Sie staunen werden Sie da« –, kippt
langsam aus dem Gleichgewicht, das Publikum gerät ins Blickfeld –
»Mit der Sprache ließe sich so viel machen, so Vieles ganz
Unglaubliches / Unerhörtes und wahnsinnig Effektives, wenn Sie mich
nur ließen« –, bis es zur Anklage kommt: »Warum lassen Sie mich
denn nicht / So wird das natürlich nichts«. Mit solchen fließenden
Wechseln gelingt es Nora Gomringer immer wieder zu überraschen, aus
der Routine zu holen. Dabei spielt es keine große Rolle, ob wir ihr
zuhören (live oder auf einer der Audio-CDs) oder ob wir die Texte
selbst (laut) lesen. Gomringers Texte wirken – in welcher Form
auch immer.
Davon ließ sich im Sommer 2015 auch die
Klagenfurt-Jury überzeugen und zeichnete Nora Gomringer mit dem
Ingeborg-Bachmann-Preis aus für den Text »Recherche«, nachzulesen
im Band Ich bin doch nicht hier, um Sie zu amüsieren. Die Autorin
Nora Gomringer lässt die Autorin Nora Bossong in einem Wohnhaus
Menschen befragen: Kurz zuvor ist ein 13-jähriger Junge aus dem
fünften Stock gestürzt. Wer war er? Was weiß man über ihn? War
es Selbstmord? Und wenn ja, was waren seine Beweggründe? Solche
Fragen stellt die Rechercheurin in Gesprächen den Leuten, die im
Haus wohnen. Es erstaunt kaum, dass auch dieser Prosatext, wie
manches der Gedichte, mehrere Ebenen hat: Nora Gomringer überlässt
das Erzählen Nora Bossong, einer realen Autorin. Und weil diese
Nora ein Aufnahmegerät mit sich führt, hören wir die
verschiedenen Figuren in der Ich-Form erzählen. So entsteht eine
Vielstimmigkeit, eine Vielschichtigkeit – der Text erschließt bei
jeder Lektüre neue Interpretationsmöglichkeiten.
Der
erwähnte Band versammelt neben der ausgezeichneten »Recherche«
weitere Prosatexte und Reden. Anlässlich des 60. Jubiläums des
Verbandes der Literaturübersetzer 2014 würdigte sie die Arbeit der
Übersetzerinnen und Übersetzer und webte einige Splitter ihrer
eigenen Biografie ein, ein Nachdenken über die Legitimation, als
Autorin zu Übersetzerinnen und Übersetzern zu sprechen. »Ich
spreche Worte der deutschen Sprache seit fast 34 Jahren. Meine
Mutter berichtet, dass mein erstes Wort aus Goethes letztem Satz
stammte: Licht. Ich zischelte es hervor anlässlich meiner Taufe im
November meines Geburtsjahres 1980, wohl im wahrsten Sinne in den
Armen meiner Mutter. Es folgten die Jahre des Spracherwerbs, geprägt
durch meine für die deutsche Sprache glühende, aber generell
multilinguale Mutter und meinen ebenso multilingualen Vater, dessen
Spracharbeit hinreichend bekannt, ja unerreicht ist an Genialität
und Originalität. Seine Zunge ist die des Schweizers aus Zürich
und des Bolivianers aus Südamerika. Hier also der Fall einer ersten
Zungenteilung. […] Da ich durch lange Auslandsaufenthalte das
Englische zu meiner zweiten Zunge, oder lieber sage ich: zur anderen
Hälfte meiner einen Zunge gemacht habe, ist die Frage nach dem
Übersetzen eine Überlebensfrage.« Wir erfahren, dass Nora
Gomringer selbst als Übersetzerin tätig war und dass sie beim
Übersetzen des Dichters Ilya Kaminsky »viel zu wenig von der Welt
Odessas, Brodskys und Kaminskys wusste, und seinen Klang, den er der
Welt und dem lyrischen Gefüge im wahrsten Sinne abtrotzen muss, da
er von Geburt an schwerhörig ist, habe ich kaum verstehen können –
bis ich ihn lesen, intonieren, prosodieren, ja singen hörte«.
Gomringers eigene Texte wurden in zahlreiche Sprachen
übertragen, nicht nur in die gängigen wie Französisch, Englisch
oder Spanisch, sondern es gibt sie auch auf Belarussisch, auf Farsi,
Bretonisch oder Letzeburgisch. Dabei machte sie die
unterschiedlichsten Erfahrungen, bei den chinesischen Übersetzungen
musste sie jedoch feststellen, dass sie »allesamt nicht
funktionierten«. »Das Chinesische zum Beispiel wandelte meine
Texte in die Ergüsse einer recht hohen Person mit seltsamen
Vorstellungen von Humanbiologie. Keine einzige Frage wurde mir –
die ich ja noch lebe und Auskunft geben kann und mag – zu dieser
Textarbeit gestellt. Ich habe mir gemerkt, dass das oft die
erschreckendsten Folgen hat … wie bei einem anderen Beispiel, als
die Übersetzung ins stolze Russische meiner leicht ironischen, aber
ansonsten ganz melancholisch verliebten Ode an die Stadt Nowosibirsk
nicht für Bravos, sondern Buhs vor Ort gesorgt hat.«
Im
Herbst 2015 erschien im Verlag Der gesunde Menschenversand Nora
Gomringers Band achduje als Band 16 der edition spoken script. Wie
gut passen sie dort hinein, sind es doch geschriebene Gedichte,
kurze Prosatexte, mit der Aufforderung »LAUT! Lesen«. In seinem
Nachwort führt der Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer
Paul-Henri Campbell aus: »Der Reiz dieses Buchs liegt darin, die
Texte laut auszusprechen, um ihren Ton zu finden, ihnen Nuancen zu
geben, sie zu modulieren; denn die eigentliche Aura und Attitüde
des Sprechtextes wird erst als Stimme existent.« Ein Glück, dass
Nora Gomringer oft und an den verschiedensten Orten auftritt.
Dass
dem Band Mein Gedicht fragt nicht lange reloaded eine Audio-CD
beigefügt ist, erhöht das Lesevergnügen, die Lust einzutauchen in
diesen Gomringer-Sound. Bei der eigenen Lektüre schwingt der Ton
mit, klingt noch lange nach. Laut lesen bedeutet übrigens in der
Regel auch: langsamer lesen, einzelne Worte in ihrer Uneindeutigkeit
zu be-greifen versuchen. Und sich wieder einmal bewusst zu werden,
dass der gewählte Zeilenfall kein Zufall ist, dass auch Gedichte,
die sich leicht als Prosa lesen ließen, eben doch nicht Prosa sind.
Dass Nora Gomringer, die übrigens neben ihrer Tätigkeit als
Autorin seit 2010 das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia
in Bamberg leitet, in ihren Texten das Publikum immer wieder direkt
anspricht, wurde bereits erwähnt. Ebenso, dass diese Beziehung
nicht nur eine unproblematische ist. Davon zeugt nicht zuletzt der
Titel des zitierten Bandes Ich bin doch nicht hier, um Sie zu
amüsieren. Auch wenn wir uns immer wieder amüsieren bei der
Lektüre von Gomringers Texten, begleitet uns dieser Satz, der auch
über einem Gedicht steht, das ich wohl noch hunderte Male lesen
kann und dabei immer wieder neu und anders lese. Schon die zweite
Zeile lässt mich stocken: »Wenn Sie sich amüsiert fühlen, habe
ich etwas falsch gemacht.« (Erwischt – wie oft schon fühlte ich
mich bei Nora Gomringers Texten amüsiert …) Das Gedicht endet mit
einer Bitte: »Darum, bitte: Seien Sie nicht amüsiert. / Vom
Amüsieren kommt nichts Gutes. / Es bringt mich um.« Vielleicht
erklärt dieser Schluss, was Nora Gomringer mit ihrem das Gedicht
einleitenden Satz meint: »Ich schildere Ihnen meinen absoluten
Autorenalbtraum.«
Auch bei dieser Begegnung mit Texten von
Nora Gomringer kehre ich zu meiner Lieblingsgeschichte zurück.
»Einen schweren Schuh hatte ich gewählt. Natürlich auch einen
entsprechenden zweiten, das Tragen von Socken hatte ich erwogen, die
Entscheidung zugunsten blauer Exemplare gefällt. Vorabendlich hatte
ich in der Bar bei einem dunklen Glas auf der Karte einem Finger den
Weg gebahnt. Dem, der mit Vorliebe aufzeigt. Auf exakt diesem Weg
wollte ich dem Laufapparat befehlen, beschuhten Fuß vor beschuhten
Fuß zu setzen. Mit dem Volksmund hatte ich die Worte: Ich gehe
jetzt los gemurmelt. […] Dass mich ein Hermelin ansprechen und
aufgrund eines zaghaft artikulierten, zarten und unbestimmten
Einsamkeitsgefühls und zum Widerstand gegen eben dieses auch den
ganzen Tag begleiten sollte – wie hätte es mir beim Aufbruch um
7:13 Uhr vom Vorplatz des Lindner Hotels in Leukerbad ersichtlich
sein sollen?« Der Hermelin hat die Wanderin nicht zufällig
gewählt, er hat die Verwandtschaft gespürt, auch sie ist eine
Einsame. »Als zwei verwaiste Seelen liefen wir voran, still wie
zwei, die etwas Wesentliches teilen.« Zärtlich, voller Trauer und
Heiterkeit, Wehmut und Glück, gehen sie durch eine eindrückliche
Landschaft (»Selbstverständlich kann ich sagen: das ist sehr schön
hier!«), gleichzeitig ist da das andere, das Nachdenken über den
Verlust, über das Verlassenwerden, über die Depression. Nora
Gomringer entführt uns wiederum in die schöne Bergwelt rund um
Leukerbad und gleichzeitig in eine Welt voller Märchen und Sagen,
in der Hermeline verständnisvoll sind, wie es ein Mensch nie sein
kann.
Am Freitag, 3. Februar um 20 Uhr kommt Nora Gomringer
mit dem Schlagzeuger Philipp Scholz ins Backnanger Bürgerhaus und
präsentiert ihr Programm »Peng! Du bist tot!«
Zum Weiterlesen:
Ich bin doch nicht
hier, um Sie zu amüsieren. 176 Seiten, 15,90 Euro
Mein Gedicht fragt nicht lange reloaded. 320 Seiten. Mit Audio-CD, 24,90 Euro
Beide Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2015
achduje. edition spoken script 16. Der gesunde Menschenversand, Luzern 2015. 160 Seiten, 17,50 Euro
Liliane Studer, Jahrgang 1951, lebt und
arbeitet als Lektorin, Literaturvermittlerin und Publizistin in Muri
bei Bern. Der Artikel ist eine erweiterte Fassung des 2015 in
Virginia erschienenen Gomringer-Porträts.