Von Ulrike Frenkel
Die Wörter kommen nicht vom Himmel gefallen, sie haben einen konkreten räumlichen Bezug. Nach Esslingen schickt der Hasenpapa das hungrige Hasenkind in Rotraut Susanne Berners Bilderbuch Gute Nacht Karlchen, nach Feuchtlingen, als es sich waschen soll, nach Bettlingen, als es schließlich ans Schlafen geht. Ist Karlchen, der von hier nach da im „Pantoffelexpress“ reisen darf, ein Schwabe, weil seine Erfinderin in Stuttgart aufgewachsen ist, in dessen Umgebung es von Bempflingens und Schnürpflingens nur so wimmelt? So einfach liegen die Dinge natürlich nicht, dazu ist die Arbeit von RSB, wie sie in der Branche respektvoll genannt wird, viel zu komplex. Aber Karlchen, hat sie kürzlich während eines Interviews in ihrer Münchner Altbauwohnung gesagt, sei ihr wahrscheinlich von all ihren Figuren emotional am nächsten: „Der ist halt so ein Kind, wie ich es zum Teil selber war oder vielleicht auch noch bin. Er ist vielleicht auch das Kind an sich, vielleicht auch das Kind, das ich nicht habe. Das mag auch eine Rolle spielen.“
Auf jeden Fall ist der muntere Hase mit seinen recht entspannten Eltern eine ihrer derzeit erfolgreichsten künstlerischen Schöpfungen, ein Wesen, das Kinder und Erwachsene lieben. Was ihm zustößt, ist lebensnah, die Künstlerin findet in Wort und Bild immer wieder fantasievolle, versöhnliche Lösungen für bekannte Situationen, die im alltäglichen Familienmiteinander alle Beteiligten viel Nerven kosten können. Und weil ihre Sprache humorvoll ist und die dazugehörigen Bilder viel Charme haben, mag man sich in ihnen gerne aufhalten. Über eine ganz eigene Schönheit verfügen sie zudem. Die, hat Rotraut Susanne Berner einmal die Surrealisten zitiert, liege für sie etwa auch in der wundersamen Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch. Ein Haus muss bei ihr nicht immer aussehen wie ein Haus, Größenverhältnisse können sich verschieben: „Meine Arbeit ist durchaus auch ein Kampf gegen mich selber und gegen vertraute Ikonografien“, erklärt die vielfach ausgezeichnete, studierte Grafik-Designerin, die im vergangenen August zudem noch den renommierten Hans-Christian-Andersen-Preis für ihr Gesamtwerk bekam.
Wo in den Pariser Kreisen um André Breton und Salvador Dalí viel Grausames zutage trat, wenn die Herren ihre Vernunft schlafen ließen, entsteht bei der 67-Jährigen zärtliche Poesie. Alles, was er zeichnet, lächelt irgendwie, das hat Erich Kästner einmal über ihr Vorbild, den Künstler Walter Trier, geschrieben, der Kästners Kinderbücher kongenial illustrierte. Bei RSB lächelt, wenn auch ganz anders als bei Trier, ebenfalls alles irgendwie. Ein Rabe kann ein Nest bewachen, in dem eine Kleinfamilie gemeinsam liest, eine freche Sonne kann einen mürrischen Mond ablecken und eine Frau sich, immerhin unter dem Schutz eines Parapluies, selbst in den Regen stellen. Nichts ist unmöglich, vieles scheint in ihrer Darstellung zumindest vorstellbar.
Woher die Bilder kommen? „Man ist ja aus vielen Erinnerungen, Befindlichkeiten, Kraftquellen zusammengesetzt“, sagt Berner, „eine Kraftquelle ist sicher meine Kindheit, die nicht unbeschwert war im engeren Sinne. Aber in dem schwierigen, pietistischen Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin, das von der Idee von Schuld und Strafe beherrscht war, hatte ich ein Privileg, das Kinder damals oft hatten: Freiheit. Das ist ein Kapital, das man nicht unterschätzen darf.“
Ihre ersten fünf Jahre in Rotenberg, wo ihre Vorfahren Weingärtner gewesen waren, wo sie mit der Großmutter auf deren Stückle ging, wo Beeren, Nüsse, Blumen wuchsen, seien prägend gewesen. „Die Erinnerung an die Zeit damals ist bestimmt von Geräuschen, Gerüchen, Gewittern, von Kirschernten und Wolkenbrüchen, sehr naturhaft und sinnlich, aber auch voller Angst.“ Die folgenden sieben Jahre in Fellbach empfand sie als „auch noch ganz okay“, doch im negativen Sinne prägend war dann der Umzug mit den Eltern und den Geschwistern in den gerade neu erbauten Fasanenhof. Es muss ein Schock für eine Pubertierende gewesen sein, „einfach so umgepflanzt zu werden“, in ein unwirtliches Umfeld, das ihr überhaupt nicht behagte. In ihren fünf Wimmelbüchern, geistige Sehnsuchtsorte allesamt, deren Auflage derzeit bei 1,5 Millionen liegt (sie spielen in Wimmlingen, wo sonst?), gibt es denn auch alles, was Menschen sich, jenseits der großen Sehnsüchte, für ihr näheres Umfeld öfter mal herbeiträumen: prächtige Bäume und vielfältige Blumen, eine Buchhandlung und einen Bäcker, Busse und Badeweiher. Da ratschen drei Nonnen vergnügt mit dem Koch des Gasthauses Zur Gans, es riecht eine Katze an einem Rosenstrauß, und der Pechvogel Manfred rutscht beim Joggen auf einer Bananenschale aus, lernt dadurch aber Elke kennen, die ihn verarztet – und bald bekommen die beiden ein Baby.
Ob man diese Szenen naiv oder schlicht menschenfreundlich findet, liegt wohl im Auge des Betrachters. Auf jeden Fall aber erzählen sie humorvoll gebrochen davon, wie kleines Glück in Stadt und Land aussehen kann, in jener wortlosen Darstellung, die Rotraut Susanne Berner natürlich nicht selbst erfunden hat – „da gab es ja vorher unter anderem die Herren Brueghel und Mitgutsch“ –, denen sie aber eine neue Dimension hinzufügte. „Da mich das Erzählen schon immer interessiert hat, entstand die Idee, den ,Zeitfaktor’ stärker einzubeziehen.“ Und so kann der Betrachter ihr buntes Wimmlingen in allen vier Jahreszeiten anschauen, zu allen Tageszeiten inklusive der Nacht. Er folgt dabei rund 80 handelnden Personen mit den Augen. „Dass es am Ende ein ganzer Roman würde, war mir am Anfang beim Zeichnen nicht klar“, erzählt die Autorin. Dass sie in ihrer Arbeit aber immer vom Text her kommt – sie hat ja auch viele Buchcover und -illustrationen für Erwachsene gestaltet –, daraus macht sie keinen Hehl. „Die Geschichte, der Text ist von Anfang an der Motor meiner Arbeit gewesen“, sagt sie. „Deshalb ist die Illustration für mich auch das geworden, was sie heute ist, und nicht das frei gemalte Bild. Angewandte Kunst halt!“
Sie sei in Württemberg durch die Kinderkirche und die Bilder in der alten Bibel ihrer Oma mit den alttestamentarischen Geschichten aufgewachsen wie Kinder heute mit Bibi Blocksberg. Gerade befasst sie sich, als seit langem Ungläubige, mal wieder mit dem religiösen Stoff und ist fasziniert und schockiert gleichzeitig, „von der wunderbaren Sprache und der enormen Gewalt, die da vorkommt“. Fast wissenschaftlich setzt sie sich damit auseinander, denn eigentlich will sie unter dem Titel Von der Erschaffung des Menschen und des Paradieses demnächst ein „tolles Heft“ publizieren, „aber ich ringe noch damit“. Für die „Tollen Hefte“, die ihr 2012 verstorbener Ehemann Armin Abmeier als textbegleitete Erwachsenen-Spielwiese für Zeichner und Illustratoren in Original-Flachdruckgrafik begründet hat, fungiert sie, noch auf seinen Wunsch hin, inzwischen als Herausgeberin. „Sie sind eine komische Mischung aus etablierter Bibliophilie und leise anarchistischen Anklängen“, findet Berner. Gerade wurden die Reihe 25 Jahre alt und dafür während der Kinderbuchmesse in Bologna mit einer Ausstellung geehrt, für die sie jetzt weitere Stationen sucht. Das ziehe zwar Energien von ihrer eigentlichen Arbeit ab, bedeute ihr aber viel. „Armin war ein sehr kritischer, aber auch sehr zugewandter Begleiter meiner Arbeit, das war für mich sehr wichtig“, sagt sie – die „Tollen Hefte“, bei denen sie von Anfang an beteiligt war, sind Armin Abmeiers Vermächtnis, das Rotraut Susanne Berner nun alleine weiterträgt. Falls es einen Himmel für Verdienste um die Kunst der Illustration geben sollte, bekommen die beiden dort eines Tages auf jeden Fall einen feinen bunten Doppelthron.
Zum Weiterlesen und -schauen die neuesten Werke:
Nacht-Wimmelbuch. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2008
Mit Hans Magnus Enzensberger: Bibs. C. Hanser, München 2009
Das ABC-Spielebuch und Der prosaische Hund. Die schönsten Hundetexte. Verlagshaus Jacoby & Stuart, Berlin 2010 / 2011
Mit A. L. Kennedy: Das Wörterbuch der Familie Mausbock, und mit Ingrid Bachér: Das Kind und die Katze. Die Tollen Hefte, 2004 / 2010
Mit Jürg Schubiger: Als der Tod zu uns kam. Peter Hammer, Wuppertal 2011
Pick pick Picknick. Aladin, Hamburg 2015
Karlchen für jeden Tag. C. Hanser, München 2015
Ulrike Frenkel, Jahrgang 1962, schreibt seit ihrem Studium der Geschichte und Romanistik und einem Zeitungsvolontariat über Kultur- und Gesellschaftsthemen. Sie lebt in Stuttgart und ist seit kurzem Redakteurin beim Weinbrenner-Verlag.