Robert Seethalers Roman Der Trafikant kommt in Esslingen auf die Bühne – für die Uraufführung hat der Autor ihn selbst dramatisiert
Von Irene Ferchl
Beinahe intuitiv sei die Bühnenfassung geschrieben, erzählt Regisseur Hans-Ulrich Becker, denn Robert Seethaler habe ja auch Drehbücher geschrieben und besitze das Wissen eines Theatermanns: Er hatte in Wien die Schauspielschule besucht und auf den Theatern in Wien, Berlin, Stuttgart und Hamburg gespielt, zudem in Fernseh- und Kinofilmen mitgewirkt, zuletzt in Paolo Sorrentinos »Ewige Jugend«.
Im Vorfeld der Esslinger Produktion waren einige schöne Zufälle zusammengekommen. Seethaler hatte Friedrich Schirmer, dem Intendanten der Württembergischen Landesbühne, den Stoff angeboten, nachdem sie sich im Umfeld des Spreewald-Literatur-Stipendiums kennengelernt hatten.
Doch erst nach der ihm missfallenden Aufführung am Salzburger Landestheater beschloss der Autor, sein Erfolgsbuch selbst zu dramatisieren. Und als Schirmer bei seinem Hausregisseur in den 90er Jahren in Stuttgart, Hans-Ulrich Becker, wegen der Inszenierung anfragte, hatte dieser den Trafikanten soeben mit Begeisterung gelesen. Wie übrigens jeder – die Meinungen und Geschmäcker gehen nur darüber auseinander, ob Der Trafikant von 2012 oder Ein ganzes Leben, zwei Jahre später erschienen, der bessere, beeindruckendere, perfektere Roman sei. Für den Letzteren, der das Schicksal eines Knechts in den Alpen erzählt, wurde Seethaler mit dem Grimmelshausen-Preis und der Nominierung für den Man Booker International Prize geehrt, aber auch schon vorher haben Juroren seine Qualität erkannt und ihm seit dem Debüt Die Biene und der Kurt (2006) zahlreiche Preise und Stipendien zuerkannt; 2008 war Robert Seethaler übrigens Stipendiat im Stuttgarter Schriftstellerhaus.
Wollte man Seethalers Intention auf einen Nenner bringen, könnte man dies vielleicht mit dem Zitat aus einem Interview (in der Stuttgarter Zeitung im Mai 2016). Er wolle immer wissen, wie ein Individuum mit einer Herausforderung umgeht: »Ich glaube daran, dass man durchgehen kann und muss – und unter Umständen sogar gestärkt aus solchen Ereignissen hervorgeht. Das ist nicht romantisierend, das ist die Vorstellung, die ich habe. Letztlich geht es immer nur um dasselbe – um Überleben, um Liebe und Tod.« Große Themen, lakonisch dargestellt, mit einer Zartheit und Melancholie, die Hans-Ulrich Becker an Robert Walser denken lässt. Vielleicht geht Seethaler noch sparsamer mit Worten um, bemüht sich noch stärker um die Essenz, das unbedingt Wesentliche. Er habe seinen eigenen Roman fast skelettiert, meint die Dramaturgin Michaela Stolte im Gespräch nach den ersten Proben, sie hätten – natürlich in Absprache mit dem Autor – um der Anschaulichkeit willen einiges wieder hinzufügen müssen.
»Der Bub soll kommen. Stop. Aber nicht zu viel erwarten. Stop.«
Franz Huchel, 1920 am Attersee geboren, wird mit siebzehn Jahren von der Mutter zu einem Bekannten nach Wien geschickt. Dank der großzügigen Unterstützung ihres Liebhabers hatte sie nach dem Tod des Ehemanns und Vaters sich und den Jungen ernähren können, doch das endet, als Alois Preininger ertrinkt.
Franz fährt also in die große Stadt und arbeitet in der Tabaktrafik von Otto Trsnjek. Das heißt, zunächst einmal soll er ruhig neben der Eingangstür »sitzen, nicht reden, auf Anweisungen warten und ansonsten etwas für Hirn und Horizont tun, sprich: Zeitungen lesen. Die Zeitungslektüre sei überhaupt das einzig Wichtige, das einzig Bedeutsame und Relevante am Trafikantendasein; keine Zeitungen zu lesen hieße ja auch, kein Trafikant zu sein, wenn nicht gar: kein Mensch zu sein.« Zuvor hatte Franz Zeitungspapier nur handlich zerrissen auf dem Plumpsklo gekannt, selten einmal ein paar Zeilen gelesen. Zum Bildungsprogramm in einer Trafik – diese Verkaufsräume für Zeitungen, Schreibwaren und Rauchwaren wurden in Wien oft an invalide Kriegsheimkehrer gegeben – gehört außerdem ein profundes theoretisches Wissen über Zigarren.
Franz lernt die Kundschaft kennen, darunter den Stammkunden Professor Sigmund Freud, dessen Name ihm schon als der des sogenannten »Deppendoktors« geläufig ist. Durch das Interesse aneinander entwickelt sich eine Art Freundschaft zwischen dem Knaben und dem alten Mann. Dessen Ratschlag »Amüsier dich. Such dir ein Mädchen« wird gleich befolgt, Franz begegnet im Prater der jungen Böhmin Anezka und verliebt sich Hals über Kopf in sie. Leider endet die Beziehung, weil Anezka einen Nazi vorzieht.
Inzwischen ist Österreich an das Deutsche Reich angeschlossen und alles verändert sich: Der Trafikant Trsnjek wird als Jude verfolgt, erliegt in der Gestapo-Zentrale angeblich einem Herzleiden, Franz muss die Trafik weiterführen, Freud geht nach England ins Exil. Ursprünglich sollte Der Trafikant ein Freud-Roman werden, was Regie und Dramaturgie bewogen hat, sich mit der Figur des Psychoanalytikers sehr intensiv zu beschäftigen, um ihn nicht gar so zugewandt-sympathisch, sondern authentischer als einen kranken, verbitterten alten Mann zu zeigen, der nicht weiß, ob überhaupt etwas von seiner Lehre bleiben wird.
Für die Bühnenfassung hat Robert Seethaler Szenen umgestellt und Rückblenden eingebaut; die wöchentlich zwischen Franz in Wien und der Mutter am Attersee gewechselten Postkarten werden vorgelesen, ebenso die Traumnotizen, die Franz an die Trafik-Schaufenster klebt. Der historische Hintergrund ist auf das Zeitkolorit reduziert, einige Erzählstränge sind ganz gestrichen.
Auf Vorschlag des Autors treibt ein Live-Musiker respektive Geräuschmacher (Steffen Moddrow) die Handlung mit Großstadtlärm, Gewitter oder Einspielungen von Aufnahmen aus den 30er Jahren voran.
Felix Jeiter, der den Franz verkörpert, wird ständig auf der Bühne sein, im Dialog mit den Hauptpersonen Otto Trsnjek, Anezka und Freud; neben ihm spielen Ursula Berlinghof, Sabine Bräuning, Frank Ehrhardt, Peter Kaghanovitch, Antonio Lallo, Nina Mohr und Martin Theuer.
Hans-Ulrich Becker, der sich als Fan von situativ-figurativem Theater charakterisiert, ist begeistert von Seethalers detailgenauer Beobachtung und Beschreibung von Menschen und wird mit den Schauspielern deren Ambivalenz herausarbeiten; ganz wichtig sind ihm in der Inszenierung die Vexierbilder, die ein bisschen versponnen ineinandergleiten wie bei Träumen. Das von Frank Chamier gestaltete Bühnenbild, variabel für Sommer wie Winter, innen wie außen, sollte dafür den idealen Rahmen abgeben und die kleine Tabaktrafik an der Währingerstraße im neunten Wiener Bezirk als einen Mikrokosmos zeigen.
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Zum Weiterlesen:
Die Biene und der Kurt. Roman. 2006. 288 Seiten, 18,90
Euro
Die weiteren Aussichten. Roman. 2008. 318 Seiten,
12 Euro (TB ab 8. 9. 2016)
Jetzt wird’s ernst. Roman
2010. 304 Seiten, 14,90 Euro
Der Trafikant. Roman. 2012.
256 Seiten, 11 Euro
Alle bei Kain & Aber, Zürich
Ein ganzes Leben. Roman. Hanser Berlin, München 2014. 160 Seiten, 17,90 Euro (Goldmann TB 9,99 Euro)
Die Premiere von Der Trafikant findet am 20. Oktober in der Württembergischen Landesbühne Esslingen statt.