Von Beate Tröger
„Seht ihr den Mond dort stehen? – / Er ist nur halb zu sehen, / Und ist doch rund und schön. / So sind wohl manche Sachen, / Die wir getrost belachen, / Weil unsre Augen sie nicht sehn.“ An Verse aus Matthias Claudius' bekanntem „Abendlied“ fühlt sich womöglich erinnert, wer Marion Poschmanns Essayband Mondbetrachtung in mondloser Nacht in Händen hält. Der Titel scheint diese Verse aufzugreifen und weiter zu denken, denn im Titel von Poschmanns Band ist der Mond nicht einmal mehr halb zu sehen, sondern dem menschlichen Auge gänzlich entzogen. Vielleicht herrscht Neumond. Doch auch dann wäre der Mond noch da, eben nur in Konjunktion mit der Sonne und deswegen von der Erde aus nicht sichtbar.
Marion Poschmann setzt schreibend genau an solchen Stellen an, an denen eine präzise, ja immer noch präzisere Arbeit des Hinschauens, Bewusstwerdens, Fragens und Denkens aufkommen kann oder dringend nötig ist. Überlegungen wie: „Was sehen wir, wenn wir etwas sehen?“, „Was sehen wir, wenn wir nichts sehen?“, „Was geschieht hinter der Oberfläche dessen, was wahrnehmbar ist?“, „Wie lässt sich das, was hinter dem Sichtbaren, Hörbaren, Fühlbaren steht, in Sprache fassen?“ oder: „Wie greifen Wahrnehmung und Erkenntnis ineinander?“ werden im Werk der 1969 geborenen Autorin fortwährend implizit verhandelt.
Marion Poschmann hat neben Germanistik und Slawistik auch Philosophie studiert, ehe sie zu einer inzwischen vielfach belobigten Schriftstellerin wurde. Ihr über die Jahre gewachsenes, tiefes Interesse an ästhetischen und erkenntnistheoretischen Fragen macht den Grundton ihres Schreibens aus, das bei aller philosophischen Hintergründigkeit durch die Exaktheit des sinnlich Wahrnehmbaren nie spröde wirkt.
Die Handlung ist in Poschmanns erzählenden Texten nur einer von mehreren Motoren, nicht der übergeordnete Antrieb, nicht das übergeordnete Ziel des Interesses der erzählenden Instanz beziehungsweise der Autorin. In „Über Unsichtbarkeit“, einem Essay aus Mondbetrachtung in mondloser Nacht, behauptet sie: „Die Handlung ist die Politik des Romans“ und stellt damit in einer unter den Gegenwartsautoren ungewöhnlich skrupulösen Weise die Reflexion über die ästhetische Praxis des Romanschreibens an. Wer Romane liest, wird geführt, unter Umständen auch verführt. In Poschmanns Worten: „Über die Handlung übt der Autor die größte Macht aus. Er zwingt den Leser durch die Seiten, er hält ihn mit Cliffhangern bei der Stange, macht ihn gierig und atemlos, reißt ihn durch unvorhersehbare Wendungen mit, diktiert ihm die Identifikation mit dem Wohl und Wehe der Hauptfigur auf, ermöglicht ihm das Dasein als Konsumenten, der idealerweise sein eigenes Leben vergißt und dem Autor hörig durch alle Vorgaben folgt.“ Eine Autorin, die ihrem Schreiben solche Überlegungen voranstellt, weiß um ihre Macht und die damit verbundene Verantwortung und gesteht ihrer Leserschaft Freiheit und die Fähigkeit selbst zu denken in hohem Maße zu.
Dem Handlungsproblem als Machtproblem begegnete Marion Poschmann, wie sie in „Über Unsichtbarkeit“ ausführt, in ihrem Romandebüt Baden bei Gewitter (2002). Darin sprach sie von einer eigenartigen Beziehung zwischen einer jungen Frau und einem älteren Mann, indem sie Handlung zu vermeiden gesucht und das, was auf eine deutliche Bewegung in der Zeit hätte hinauslaufen können, in Bilder aufgelöst und verräumlicht habe. Im zweiten, dem Schwarzweißroman (2005), habe sie eine Hauptfigur entwickelt, die die Handlung, die um sie herum stattfindet, eher erleide, auch wenn sie in die Geschehnisse hineingezogen werde. (Der Schwarzweißroman ist in seinen präzisen Schilderungen der Beziehung einer jungen Frau zu ihrem Vater, der als Ingenieur in der russischen Stadt Magnitogorsk arbeitet, und in der subtilen Bildkraft der Sprache ein ganz und gar eindrückliches Buch.) Mit der Hundenovelle (2008) habe sie eine klassische Novelle geschrieben, mit Handlungsbogen, Wendepunkt und unerhörter Begebenheit. Darin widersetze sich die Hauptfigur jeglicher Aktion, und als sie dann doch etwas unternehme, sei es nichts Gutes. Und schließlich ist da noch der jüngste Roman, Die Sonnenposition, mit dem Marion Poschmann 2013 auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis kam und für den sie den Wilhelm-Raabe-Preis erhielt. Die Sonnenposition – ein Titel, der Mondbetrachtung in mondloser Nacht zu korrespondieren scheint – bezeichnet im Roman unter anderem die Situation von Altfried Janisch, einem dicken, einsamen Arzt, der in einer im Osten Deutschlands gelegenen psychiatrischen Klinik arbeitet. Janisch ist der Erzähler, der sein Leben zunächst im Griff hat, dann aber durch den Tod seines Jugendfreundes Odilo in eine Krise gerät. Der Titel ist dabei dialektisch zu verstehen. Die Sonne bringt es an den Tag, heißt es in einem Sprichwort. Aber die Sonne kann auch blenden, gleißen, blind machen. Womit wir wieder bei der Fähigkeit der Literatur wären zu erhellen und zu verdüstern, aufzuklären und gleichzeitig zu verunsichern.
Mit solchen Vieldeutigkeiten spielt oder experimentiert Marion Poschmann nicht nur in ihren erzählenden Texten. In ihren Gedichtbänden, in denen das erzählerische Moment und die Handlung dem Genre gemäß noch viel weiter zurücktreten, lassen sich die virtuosen Suchbewegungen der schreibenden Instanz ebenso deutlich intellektuell wie sinnlich nachvollziehen. Von den Verschlossenen Kammern, ihrem Lyrik-Debüt aus dem Jahr 2002, dessen Titel auf das Hermetische wie auf das zu Entdeckende, den „Inhalt“ der Kammern, hinweist, über Geistersehen von 2010, wofür sie den renommierten Peter-Huchel-Preis zugesprochen bekam, bis zu den Geliehenen Landschaften von 2016, die ihr als zweiter Lyrikerin in der Geschichte des Preises der Leipziger Buchmesse eine Nominierung brachten, führen die Wege in ihren Gedichten zu Erkenntnis- und Verhältnisfragen, etwa nach dem zwischen Mensch und Natur, zwischen Natur als dem immer schon Gegebenen und Landschaft als dem von der Zivilisation Geformten, oder nach dem Verhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem, was „unsre Augen nicht sehn“.
Ein getrostes Verlachen des nicht Sichtbaren ist aus den Gedichten und erzählerischen Texten Marion Poschmanns übrigens nicht herauszulesen, wohl aber ein differenzierter Humor, gelegentlich auch milder Spott. Dazu greift die Autorin tief und zielsicher in die Trickkiste der Sprache und der Sprachgeschichte, etwa wenn sie Wörter zu überraschenden, waghalsigen Komposita wie „Pyramidenschweigsamkeit“ (in Die Sonnenposition) aufhäuft, wenn sie, ebenfalls dort, das Wort „Glanzapparat“ seinem historischen Kontext entreißt, wenn sie raffinierte Bildbrüche einsetzt: „Kinder schwappen, Tee in Tassen, an der Elternhand“ (in „Bunt“ aus Geliehene Landschaften), wenn sie Wörter aus ihren bekannten Kollokationen oder Kontexten löst, wie in ihrem Gedichtzyklus „Wiese sein“ aus dem Band Grund zu Schafen. Dieser Titel bezieht sich auf Andreas Gryphius' Vers „Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiese sein“ und befreit diesen aus seinem Vanitas-Kontext, der jedoch noch mitschwingt.
In der Sonnenposition legt Poschmann dem Arzt Altfried folgenden Satz in den Mund: „Heutzutage erwartet man von den Patienten, daß sie mit Hilfe eines Obstkorbes die Familiensituation als Stilleben nachstellen“ – ein gelungener Seitenhieb auf fragwürdige Therapieformen unserer Zeit und einmal mehr ein Beleg dafür, wie die Autorin Konkretion und Abstraktion zueinander ins Verhältnis setzt.
Es kann einem beim Lesen von Marion Poschmanns Texten oft so vorkommen, als bedenke jeder Satz, jeder Vers die Fülle seiner Auslegungsmöglichkeiten schon in Gänze mit. Eine geradezu atemberaubend aufmerksame reflexive Instanz scheint sich im Schreiben fortwährend selbst über die Schulter zu schauen. Überheblich werden die Texte dabei aber nie, sie wissen bei aller Denk- und Wortgewandtheit, bei aller Wucht ihrer langsamen Genauigkeit, in den weiten, bisweilen nach dem Unendlichen sich sehnenden Kreisen ihrer Umlaufbahnen sehr wohl um die Grenzen des Sagbaren, sind offen und doch präzise. Oder, wie in „Kindergarten Lichtenberg, ein Lehrgedicht“ aus Geliehene Landschaften zu lesen ist: „Denk dich als den Traum eines Baumes, jenes nichtigen / aus den Rissen im Putz, die sich weiter verzweigen. […] Erweise dich leichthin als beides, sei / Humus, gib aber auch harte Signale wie Marder, die Kabel zerbeißen.“
Zum Weiterlesen:
Verschlossene Kammern. Gedichte. Zu Klampen, Springe 2002.
48 Seiten, 17 Euro
Baden bei Gewitter. Roman. 2002. 303
Seiten, 19,90 Euro
Grund zu Schafen. Gedichte. 2004. 112
Seiten, 15,90 Euro
Schwarzweißroman. 2005. 320 Seiten,
19,90 Euro
Hundenovelle. Novelle. 2008. 128 Seiten,
17,80 Euro
alle bei der Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt
a. M.
Geistersehen. Gedichte. 2010. 126 Seiten, 17,80 Euro
Die
Sonnenposition. Roman. 2013. 337 Seiten, 19,95
Euro
Mondbetrachtung in mondloser Nacht. Über Dichtung.
2016. 221 Seiten, 18 Euro
Geliehene Landschaften.
Lehrgedichte und Elegien. 2016. 123 Seiten, 19,95 Euro
alle im
Suhrkamp Verlag, Berlin
Beate Tröger, geboren 1973 in Selb/Oberfranken, lebt in Frankfurt a. M. und arbeitet als Literaturkritikerin vor allem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Freitag.