Von Ulrike Frenkel
„Walter Jens spricht nicht nur druckreif. Er denkt druckreif“, notierte Wolfgang Hildesheimer 1966 in seinen Aufzeichnungen. Vor drei Jahren ist der Tübinger Rhetorikprofessor Walter Jens gestorben, druckreif denken konnte er schon lange vorher nicht mehr. Zuvor war er mehr als zehn Jahre lang krank gewesen, dem Denker war sein Geist abhanden gekommen. „Mein Mann litt an einer speziellen Form der Demenz, einer Angiopathie. Das heißt, seine Fähigkeiten wurden nicht nur immer weniger, sie wurden einfach auch weggeschnitten“, erklärt seine Witwe Inge Jens im Frühjahr beim Gespräch in ihrer Tübinger Wohnung. Bis zum Schluss hat sie mit dem Kranken unter einem Dach gelebt, unterstützt von einer Pflegerin, die sich hingebungsvoll und einfühlsam um ihn kümmerte. Frau Hespeler, so heißt die bewundernswürdige Person, nahm den intellektuell nicht mehr, emotional aber umso mehr Zugänglichen an vielen Tagen in ihrer bäuerlichen Großfamilie auf einem Hof in Mähringen auf, wo er sich unter Tieren und um ihn herum werkelnden Menschen überaus wohlgefühlt haben muss. Was ihn ausgemacht hatte, seine intellektuelle Auseinandersetzung mit der Welt und ihren Erscheinungen, war ihm nicht mehr verfügbar, Bücher hielt er sich verkehrt herum vors Gesicht, Musik, kitschige, ans Gemüt gehende Lieder ausgenommen, machte ihm Angst. Aber er streichelte gerne junge Hunde, malte in Malbüchern, nahm passiv am Puppenspiel eines kleinen Zwillingspärchens teil und aß Hefezopf mit der Oma. „Ich bin Frau Hespeler unendlich dankbar“, sagt Inge Jens, und diese Gefühle sind auch in dem neuen Buch nachzulesen, das die 89-Jährige, die zeitlebens viel mehr war als „die Frau an seiner Seite“, kürzlich veröffentlicht hat. Motiviert wurde sie dazu von ihrem Sohn Tilman und dem Rowohlt-Lektor Uwe Naumann, seit vielen Jahren ein engagierter Mentor und Freund.
Langsames Entschwinden heißt der Band, er enthält ein reflektierendes Vorwort und Nachwort über das Leben mit einem Demenzpatienten, vor allem aber Briefe, die Inge Jens zwischen 2006 und 2013 an Freunde, Weggefährten, aber auch Fremde über den Zustand ihres Mannes geschrieben hat, wobei die Namen der Empfänger selbstverständlich anonymisiert sind. „Mir wurde von Menschen in meinem Umfeld gesagt, dass das anderen Betroffenen helfen könne. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich die Briefe veröffentlichen soll“, sagt die Autorin, „aber jetzt stehe ich dazu.“ Es gibt keinen Grund, das nicht zu tun, denn nichts ist peinlich an dieser Sammlung. Inge Jens schreibt überaus beherrscht, nachdenklich, auch selbstkritisch, sie versucht, in kurzen Schilderungen das Unfassbare ganz nüchtern zu fassen: Wie einer der prägenden Intellektuellen der alten Bundesrepublik, ein nie um die richtigen Worte verlegener Redner, geistig verlischt und wie seine Familie mit der Aufgabe ringt, ihm auch in diesem Zustand ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Auch finanzielle Gründe mögen bei der Veröffentlichung dieser Briefe eine Rolle gespielt haben: Die nüchterne Autorin macht keinen Hehl daraus, dass die langjährige Privatpflege selbst mit einer „doch recht ordentlichen“ Professorenrente nicht zu finanzieren war. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie deshalb das gemeinsame Haus auf dem Apfelberg verkauft und in einer Wohnanlage im Universitätsviertel eine Drei-Zimmer-Wohnung – „ich habe schon gern ein kleines Büro, damit mein Computer nicht im Wohnzimmer stehen muss“ – bezogen.
„Dr. Inge Jens“ steht jetzt auf ihrem Klingelschild, ganz so, als wolle sie sich selbst und anderen signalisieren, dass sie die letzte Runde auf dem Karussell des Lebens allein und unter eigenem Namen fahren wird. „Also, ich hätte den Doktor weggelassen“, sagt die 89-Jährige mit ihrer ruhigen und festen Stimme. Den habe eine Bekannte mit draufgepackt, die sich um einiges in dem neuen Domizil gekümmert habe. „Er stört mich auch nicht, denn der Titel ist ehrlich erworben. Aber ich hätte Inge Jens geschrieben, nur Jens hätte ich nicht gewollt. Ich bin eine eigene Persönlichkeit und ich bin nun mal eine Frau, deswegen kann da auch mein weiblicher Vorname stehen. Katia Mann hätte wahrscheinlich geschrieben: Frau Thomas Mann.“ So ließ die Gattin des Literatur-Nobelpreisträgers ja einst ihre Briefbögen bedrucken. „Ich habe laut gelacht, als ich das gesehen habe“, erinnert sich Inge Jens.
Frau Thomas Mann hieß denn auch die Biografie, die sie gemeinsam mit ihrem Mann veröffentlichte und die so erfolgreich war, dass das Projekt schließlich zu einer Pringsheim-Trilogie mit Büchern über Katia Manns Mutter Hedwig Pringsheim und Katias Bruder, den „verlorenen Sohn“ Erik, erweitert wurde. Das Projekt kam nicht vom Himmel gefallen, die promovierte Literaturwissenschaftlerin – das Thema ihrer Dissertation war die expressionistische Novelle gewesen – hatte in den frühen 60er Jahren zunächst die Briefe Thomas Manns an den Kölner Germanisten Ernst Bertram ediert, in den Achtzigern in der Nachfolge Peter de Mendelssohns die Herausgabe von Thomas Manns Tagebüchern übernommen und von der Fachwelt für ihre sorgfältige Arbeit viel Lob geerntet.
In diesem Zusammenhang hatte sie die Dichterwitwe im schweizerischen Kilchberg besucht, eine Begegnung, die einen bleibenden Eindruck hinterließ, auch wenn Inge Jens ihre Frauenrolle ganz anders sah als die sechsfache Mutter und Gralshüterin aus dem Münchner Großbürgertum. Sie habe, nach der langen Beschäftigung mit dem von seiner Familie als „Zauberer“ bezeichneten, überaus schwierigen Großschriftsteller interessiert, „wer diese von mir so bewunderte Frau jenseits seiner Interpretation und über meinen kurzen Eindruck hinaus eigentlich gewesen war“, heißt es in Inge Jens’ inhaltsreicher Autobiografie Unvollständige Erinnerungen von 2009. Darin wurde vieles aus dem gemeinsamen Leben des gesellschaftlich und politisch so aktiven Paars aufgearbeitet. Frau Thomas Mann war ein Gemeinschaftswerk des Ehepaares Jens, wie zuvor schon die Festschrift zum 500. Geburtstag der Universität Tübingen. „Ich hatte von da an immer in den Archiven gesessen, wir haben das dann gemeinsam aufgearbeitet, und geschrieben hat mein Mann meistens mehr als ich, das hatte ich in der Form ja vorher noch gar nie getan.“ Doch schon bei den Recherchen für das zweite Buch der Reihe wurde immer deutlicher – „ich habe das zu Anfang sicher verdrängt“, sagt Inge Jens –, dass der Partner sich zunehmend veränderte. „Daran habe ich schon wesentlich mehr getan als mein Mann, da wurde die Verständigung schon sehr viel schwieriger. Er hat sich noch in einzelne Episoden vertieft und viel geschrieben, aber den Sinn für die richtigen Proportionen hatte er schon verloren.“
Und so ist sie, die sich das neben dem wortgewaltigen Lebensgefährten lange gar nicht zugetraut hätte, in ihren späten Jahren noch zu einer fleißigen Schriftstellerin geworden, deren exakte Sprache und deren eleganter Stil den Lesern viel Freude bereiten. Die Veröffentlichung des neuen Briefbands kommt zu einem passenden Zeitpunkt, sie fühlt sich den daraus entstehenden Herausforderungen gewachsen. Nach zwei Klinikaufenthalten im vergangenen Jahr, erzählt die Mutter zweier erwachsener Söhne und zweifache Großmutter, fühle sie sich derzeit so gut wie schon lange nicht mehr. Sie habe genug Zeit zu lesen, sie wird weiter schreiben, „das ist für mich ein Überlebensmittel geworden, ein Dialogersatz“, nach einer über sechzigjährigen Ehe, die auch ein nicht enden wollendes Gespräch war.
„Es war uns vergönnt, eine lange glückliche Zeit miteinander zu verbringen. Die letzten Jahre aber waren bitter“, heißt es in Langsames Entschwinden. Selbst darüber ist die während des Krieges großgewordene Femme de lettres, deren Leben interessant, aber alles andere als einfach war, allerdings nicht bitter geworden. Ihre Haltung, ihre Fähigkeit, angesichts des Unausweichlichen dieses zu bedenken, und ihr Mut, das Gedachte auch öffentlich zu äußern, ist beeindruckend. Einen Grund, wegen der Erkrankung ihres Mannes mit ihrem Schicksal zu hadern, heißt es in Langsames Entschwinden, sah und sehe sie nicht. „Ich habe gerade in dieser Zeit eine Menge über das Leben in all seinen Höhen und Tiefen gelernt – und auch über das Wesen der Demut.“
Zum Weiterlesen:
Langsames Entschwinden. Vom Leben mit einem Demenzkranken.
2016. 153 Seiten, 14,95 Euro
Unvollständige Erinnerungen.
2009. 318 Seiten, 19,90 Euro (TB 10,99 Euro)
Am
Schreibtisch. Thomas Mann und seine Welt. 2013. 208 Seiten,19,90
Euro
Inge und Walter Jens, Frau Thomas Mann. Das Leben
der Katharina Pringsmann. 2003. 352 Seiten, 19,90 Euro (TB 10
Euro)
Alle im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg.
Ulrike Frenkel, Jahrgang 1962, lebt nach fünfzehn Jahren in Oberbayern seit kurzem wieder in Stuttgart. Sie schreibt als freie Journalistin für verschiedene Zeitungen über Literatur-, Medien- und Gesellschaftsthemen.