Ferrara – Stadt der Nebel, Stadt der Erinnerungen – Wo sich die Pfade von Ariost und Giorgio Bassani kreuzen

Von Elke Linda Buchholz

»Obgleich die Dichter, die in dieser Stadt geboren wurden, es noch nicht bemerkt haben: Ferrara ist eine außerordentlich metaphysische Stadt«, meinte Giorgio de Chirico. Der Maler war während des Ersten Weltkriegs in Ferrara einquartiert. Schrecklich feucht fand er die Stadt, fast wie München, wo er studiert hatte. Die Bauwerke Ferraras verrätselte er in seiner Pittura Metafisica zu Kulissen des Imaginären. Tatsächlich ist Ferrara ein sehr literarisches Pflaster. Unwirklich und wirklich zugleich.

Wenn es nach Ariost ginge, müsste man auf einem fliegenden Pferd anreisen. Oder als kampfesmutige Edelfrau in Ritterrüstung. Oder wenigstens zu zweit auf dem Rücken eines starken Rosses Platz nehmen, um in furiosem Ritt den Ort der Handlung zu erreichen, so wie die Recken Rinald und Ferragu: Gerade noch hatten sie bis aufs Blut um die schöne Angelika gestritten. Da müssen die grimmen Helden feststellen, dass die entzückende Dame das Weite sucht und den Blicken zu entschwinden droht. Ihr nach! Nur wie? Die beiden, eben noch erbitterte Konkurrenten, rücken vereint auf einem Sattel zusammen und setzen flugs der Begehrten nach. »O Trefflichkeit der Ritter alter Zeiten!« seufzt Ariost.

Aber leider, die heutige Wirklichkeit funktioniert anders. Mit Flugzeug und Nahverkehrszug gelangt man in die Stadt, wo der Dichter lebte und seinen Orlando Furioso reimte. Vor genau 500 Jahren kam die Erstausgabe in Ferrara aus der Druckerpresse. Für den Autor war dies nur ein Zwischenstopp: Er hörte bis kurz vor seinem Tod nicht auf, an seinem Riesenepos weiterzuschreiben. Wer sich das ganze Stück vornimmt, hat vorerst mit Lesestoff ausgesorgt. 45 000 Verse, verflochten in unzählige Handlungsstränge, Akteure und irrwitzige Wendungen, angefüllt mit Waffengeklirr und Liebesgeplänkel liegen auf dem Nachttisch, eine »daily soap« im Format eines literarischen Klassikers. Auf Deutsch ist Der rasende Roland seit Jahren vergriffen, nur »on demand« auszudrucken. Als Appetizer für Einsteiger bietet sich Italo Calvinos liebevoll-leichtfüßige, kenntnisreich erläuterte Nacherzählung an.

Ferrara liegt im Nebel, wofür es berühmt ist. Den UNESCO-Welterbe-Status aber verdankt das Provinzstädtchen in der Poebene seine nahezu komplett erhaltene Altstadt. Von einem neun Kilometer langen Befestigungswall umschlossen, zeigt sich dieses Stadtbaukunstwerk zu weiten Teilen so, wie Ariost es erlebte. Das Netz der Straßen und selbst ihr aus runden Kieseln gefügtes, holprig-schönes Pflaster ist noch erfahrbar. Im Zentrum thront aggressiv das Castello Estense, Trutzburg und Wohnpalast der Fürstenfamilie Este. Von deren Schatulle und Wohlwollen war auch Ariost abhängig, was ihm keineswegs lieb war. »Mit Schreibwerk zahl’ ich und mit Reimgeflechte / Zum Teil zurück, was ich durch dich gewann«, dedizierte er seinem Gönner Kardinal Ippolito d’Este den Rasenden Roland. Der Este-Sippschaft dichtete er darin einen erlauchten Stammbaum bis zu den Paladinen Karls des Großen an. Doch Ippolito gefiel der umfängliche Versroman nicht. Künstlerpech. Ariost hatte den ehrwürdigen Ritterroman des Mittelalters mit leichter Hand modernisiert und in eine elegante, oft witzige Abenteuer-Fortsetzungsgeschichte verwandelt. Dass es eigentlich um den Krieg zwischen Orient und Abendland unter Karl dem Großen geht, gerät fast aus dem Blick. Das alltägliche Ferrara, in dem sich der Schriftsteller bewegte, kommt gar nicht vor.

In seinen Versen durchstreift der Dichter nicht die Straßen der Stadt, sondern Phantasie und Mythos. Was Ariost vielleicht im Geiste vor sich sah, wenn er Reiterkämpfe und Rendezvous reimte, will eine Ausstellung in Ferrara anlässlich des »Orlando Furioso«-Jubiläums mit hochkarätigen Kunstwerken von Leonardo bis Raffael zeigen. Sogar das »Bacchanal« Tizians aus dem Prado kehrt dafür zurück an den Ort, wo es einst das berühmte »Camerino« Alfonso d’Estes schmückte.

Weniger prächtig als die fürstlichen Wohnpaläste war des Dichters eigenes bescheidenes Backsteinhaus in einer unscheinbaren Seitenstraße. Der Autor kommentierte es mit einem lateinischen Spruch, der noch heute quer über der Fassade steht: »Das Haus ist klein, aber passend für mich, sauber, nicht mit Abgaben belastet und allein mit meinem eigenen Geld erstanden.« In dem sorgsam sanierten Gebäude erinnert ein kleines Museum an den Dichter, der hier seine letzten Jahre verbrachte.

Um 1500 war Ferrara Großbaustelle. Im Fürstenauftrag realisierte der Architekt Biagio Rossetti eine großräumige Renaissance-Stadterweiterung, die Ferrara zur ersten modernen Stadt Europas machte. Ariosts Haus steht genau in diesem Neubauareal »Arianuova«. Flaniert man über dessen Hauptachse, den schnurgeraden Corso Ercole I d´Este, nach Norden, werden die Paläste bescheidener, die Fassaden schlichter, die Häuser kleiner. Schon schieben sich Gärten ein und schließlich wandert man wie auf dem Dorf dahin. Sehr ruhig ist es hier, die Gegenwart schweigt. Weiter östlich dehnt sich das Gelände der Certosa, des einstigen Kartäuserklosters. Jenseits davon liegt der Cimitero Ebraico, der jüdische Friedhof. Nur nach Anmeldung beim Pförtner ist er zu besichtigen, wie ein Zettel am Tor mitteilt. Heute am Samstag nicht, natürlich, es ist Sabbat. Auch die Synagoge im Herzen der Altstadt an der belebten Via Mazzini bleibt geschlossen, auf unbestimmte Zeit, seit ein Erdbeben sie 2012 erschütterte. Dafür schreiten die Bauarbeiten für ein neues jüdisches Museum (MEIS – Museo Nazionale dell’Ebraismo Italiano e della Shoah) im ehemaligen Gefängnis voran. Auch der Schriftsteller Giorgio Bassani, jüdischer Herkunft, war 1943 in dessen Mauern eingesperrt. Der Deportation, die fast die gesamte jüdische Bevölkerung  Ferraras auslöschte, entkam er durch Glück.

Zu Ariosts Zeiten hatte Ferrara eine bedeutende jüdische Gemeinde. Die Este-Fürsten förderten aus ökonomischem Kalkül die Ansiedlung jüdischer Familien. Später, unter päpstlicher Herrschaft, wurden sie ins enge Gassengeviert des Ghettos gepfercht. Als der Schriftsteller Giorgio Bassani 1916 geboren wurde, stellten jüdische Bürger wieder die gesellschaftliche und kulturelle Oberschicht. Sie waren so perfekt integriert und national gestimmt, dass sich viele, als Ferrara zu einer Hochburg der Faschisten wurde, der Mehrheitsmeinung und der Partei des Duce anschlossen. 1937 schnellte die Zahl der Parteimitglieder in der jüdischen Gemeinde auf 90 Prozent, wie Bassani einen jüdischen Protagonisten in seinem Roman Die Gärten der Finzi-Contini stolz konstatieren lässt. Gespenstisch.

Ferrara lässt sich nicht ohne Bitternis durchwandern, ohne eine immer wieder aufflackernde Beklemmung – da hilft die ganze schöne Renaissance nichts. Dass man die Verschwundenen und Ermordeten nicht verdrängen kann, liegt auch an Giorgio Bassani. An jeder Straßenecke stößt man auf seine literarischen Spuren. Nicht nur sein berühmtestes Buch Die Gärten der Finzi-Contini von 1962 hat er der Stadt eingeschrieben, in der er zwar nicht geboren wurde, aber aufwuchs. Das Familienhaus in der Via Cisterna del Follo 1 trägt eine Gedenktafel, ein Park ist nach Bassani benannt.

Gleich mit dem ersten Satz verankert Bassani den geheimnisvollen Finzi-Contini-Roman, eine zarte Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des aufkommenden Antisemitismus, in der konkreten Stadttopografie: Am Corso Ercole I d’Este, dieser Renaissancestraße, die »geradlinig wie ein Schwert« aus der Stadt herausführt, liegt der titelgebende Handlungsschauplatz, Sehnsuchtsort, Erinnerungsraum. Bassani schildert das weitläufige Anwesen der aristokratischen jüdischen Familie Finzi-Contini so präzise, dass sich ein Plan davon zeichnen ließe: mit dem herrschaftlichen Haus, den Feigen- und Pfirsichplantagen und dem privaten Tennisplatz, auf dem sich die jungen Leute treffen, nachdem der städtische Tennisclub Eleonora d’Este alle Juden ausgeschlossen hat. Hochmütig grenzt sich dieses Anwesen vom alltäglichen Ferrara und seinen Normalmenschen ab. Von einer hohen Mauer umschlossen, konstituiert es sich als ein Hortus Conclusus, wie die Paradiesgärtchen des Mittelalters. Hier Einlass zu finden, wie der anfangs zögerlich, dann selbstbewusster auftretende und schließlich doch abgewiesene Erzähler, empfindet man beim Lesen als etwas Kostbares, Besonderes. Doch in Wirklichkeit gibt es diesen Garten nicht. Es hat ihn nie gegeben. Aber wer zwischen dem historischen Stadtwall, den Obsthainen einer hier gärtnernden Biokommune und dem jüdischen Friedhof umherstreift, spürt: Hier irgendwo müsste er sein, könnte er sein. Gewesen sein.

Auch die Figuren des Romans sind so real wie erfunden. Die jüdische Familie Magrini gab, wie Bassani später verriet, ein Vorbild ab. Erfunden sei nur eine: die weibliche Hauptfigur Micól. Gerade sie aber ist es, in die sich nicht nur der Erzähler, sondern auch der Leser unausweichlich verliebt: die schöne, eigensinnige Micól.

Von der sich verschärfenden Bedrohung der Juden durch die faschistische Hetze erzählt Bassanis Roman fast beiläufig, in scheinbaren Nebenepisoden. Einmal will sich der Erzähler, Student der Literatur, in den ehrwürdigen Lesesaal der Städtischen Bibliothek zurückziehen, der ihm seit Schülerzeiten vertraut ist. Er wird kühl hinausgewiesen. Als Jude darf er die Bibliothek nicht mehr benutzen. Der bürokratische Akt ist auch eine Vertreibung aus dem Paradies: Denn die Biblioteca Comunale Ferraras hat ihren Sitz seit 1742 in einem Renaissancebau namens Palazzo Paradiso.

Giorgio Bassani erwähnt diesen symbolträchtigen Namen nicht. Nie trägt er überdeutlich auf, und das verleiht der Lektüre ihre Eindrücklichkeit. Seine stillen Erzählungen verdienen wiedergelesen zu werden. Am 4. März 2016 wäre sein 100. Geburtstag, aus diesem Anlass sind sie auf Deutsch wieder lieferbar.

Zum Weiterlesen:

Der Geruch von Heu. 112 Seiten, 8,90 Euro
Der Reiher. Roman. 160 Seiten, 9,90 Euro
Die Brille mit dem Goldrand. Erzählung. 112 Seiten, 8,90 Euro
Die Gärten der Finzi-Contini. Roman. 320 Seiten, 13,90 Euro
Ferrareser Geschichten. 256 Seiten, 12 Euro
Hinter der Tür. Roman. 144 Seiten, 9,90 Euro
(Alle übersetzt von Herbert Schlüter, erschienen im Wagenbach Verlag, Berlin)

Ludovico Ariost. Rasender Roland. Nacherzählt von Italo Calvino. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2015, 448 Seiten, 14,99 Euro

Giorgio De Chiricos Gemälde aus seiner Schaffenszeit in Ferrara sind vom 18. März bis 3. Juli in einer großen Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart zu sehen: »Giorgio de Chirico. Magie der Moderne«.


Elke Linda Buchholz, geboren 1966, lebt als freie Autorin und Kunsthistorikerin in Berlin. Sie schreibt unter anderem für den Tagesspiegel.