Das Scheitern als Lebensform – Karl-Heinz Ott und seine Weltanschauungschwadroneure

Von Michael Braun

Auf der Schwäbischen Alb können die Utopien ein bisschen länger überwintern als anderswo. In der „schwermütig dösenden Welt“ am nördlichen Donauufer zwischen Ehingen und Ulm haben Träume eine hohe Lebenserwartung. In dieser Gegend, in der, wie es in seinem neuen Roman Die Auferstehung heißt, die idyllische Friedfertigkeit manchmal wirkt, „als befinde man sich in einer vorzeitlichen Welt, die von Menschen nichts wusste“, ist der 1957 in Ehingen geborene Schriftsteller Karl-Heinz Ott aufgewachsen. Nach einem Studium der Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft in Tübingen war Ott erst als Dramaturg in Freiburg, Basel und Zürich in verschiedenen Sparten des Musiktheaters tätig, bevor er seine Leidenschaft für die Literatur und das Erzählen entdeckte. In seinem Romandebüt Ins Offene (1998) umkreiste er die Beklemmungen und Traumata einer katholischen Kindheit, die durchwirkt war von schauerlich-schönen Heiligenlegenden und Gruselgeschichten von einem rächenden Gott, der seine furchtsamen Gläubigen mit der Strafe ewiger Verdammnis bedroht. Zwar wird hier immer wieder die Enge, „das Dumpfe“ und „das Klobige“ dieser Herkunftswelt beschworen, im Gegenzug imaginiert der Erzähler idealische „Wunschbilder von Heimat“, die alle Kindheitsschrecken überstrahlen.

Otts tragikomische Helden erleben die Heimat aber meist als Quelle chronischen Unglücks. Die ihnen gemäße Lebensform ist das permanente Scheitern. Der Protagonist des Romans Ob wir wollen oder nicht (2008) ist ein arbeitslos gewordener Tankstellenpächter im Südschwarzwald, der eines Morgens verhaftet wird, ohne dass er etwas Böses getan hätte. Dieser Richard T. ist ein alternativer Aussteiger und unbelehrbarer Anhänger leicht ranzig gewordener Utopien, wie auch die Protagonisten in Otts jüngstem Opus Die Auferstehung. Eine zentrale Eigenschaft haben alle Figuren Otts gemeinsam: Sie sind sämtlich „Weltanschauungsschwadroneure“, die sich in weit verzweigten Räsonnements über Kunst und Leben, Utopie und Alltag, Gott und die Welt ergehen und dabei in immer tieferen Aporien landen. In Endlich Stille (2005) und in Ob wir wollen oder nicht demonstrierte Ott dabei seine Kunstfertigkeit als Baumeister existenzialistisch verschlungener Sätze. An Meinungsfreude kann es auch der berühmte Held im Roman Wintzenried (2011) mit diesen Schwadroneuren aufnehmen, der genialische Menschheitserzieher Jean-Jacques Rousseau. Hier wählt Ott eine völlig andere Erzählweise als etwa im geistesverwandten Roman Endlich Stille, in dem ein Basler Philosophieprofessor vor dem ausufernden Geschwätz eines ungebetenen Gesprächspartners die Flucht ergreift. Brillierte Ott dort mit weit ausgreifenden Satzperioden, um die irre Rabulistik des unheimlichen Protagonisten abzubilden, so zieht er sich in Wintzenried weitgehend auf die Innenperspektive seines tragischen Helden zurück und skizziert in knappen Sätzen dessen Kreuzzug gegen die verderbte Welt der Zivilisation. Jean-Jacques Rousseau, der Vordenker einer emanzipatorischen Pädagogik, schrumpft hier zum triebgesteuerten Eiferer, der seine fünf Kinder ins Waisenhaus steckt und mit sektiererischen Ansichten sein Denken ruiniert.

Von Genialität ist bei den oberschwäbischen Nachzüglern der Alternativkultur in Die Auferstehung nichts mehr zu spüren. Bis in unsere Tage schleppen die sechs herzensguten Weltveränderer, die sich an einem Augusttag im Haus ihres plötzlich verstorbenen Vaters und Schwiegervaters in Ulm versammeln, bleischwere ideologische Altlasten in ihrem Handgepäck mit sich. Uli und Franziska haben es über Jahrzehnte vermocht, ihren mit Hesse und Castaneda aufgepolsterten Traum von der Öko-Utopie künstlich zu beatmen. Joschi, der struppige Altlinke, wirft immer noch mit Evergreens aus den blauen Bänden des vollbärtigen Karl Marx um sich. Linda, die so selbstbewusst auftretende Kuratorin eines kleinen Kunsthauses, importiert mit ihrem resoluten Lebensgefährten Fred resonanzlos die Avantgarde in die Provinz. Und Jakob, der feinsinnige Feuilletonist und Fernsehautor, hangelt sich seit Ewigkeiten am Existenzminimum entlang und lässt auch den letzten lukrativen Auftrag platzen. Das Familientreffen dieser sanften Versager im Haus des toten Vaters gerät zu einer Tragikomödie mit groteskem Ausgang. Ihr antibürgerliches Selbstverständnis hält die illusionsanfälligen Antihelden nicht davon ab, ihre Gier auf das väterliche Erbe  zu aktivieren. Die Person, die ihrem Beuteinstinkt im Weg steht, ist „die ungarische Hure“, die Betreuerin des hochbetagten Vaters, die offenbar auch als Liebesobjekt des pornophilen Greises fungierte und sich – so mutmaßen die misstrauischen Söhne und vor allem die habituell verbitterte Tochter – den Status als Alleinerbin erschwindelte.

Karl-Heinz Ott hat seit seinem Roman Endlich Stille in seinen Büchern immer wieder solche meinungsfreudigen Protagonisten installiert, die sich in weltanschaulichen Spitzfindigkeiten ergehen, aber mit ihren klischeeanfälligen Überzeugungen regelmäßig im Bodenlosen landen. Und so ist auch diesmal all den diskursiven Erhitzungen seiner Helden eine rührende Vergeblichkeit und tiefe Lächerlichkeit eingeschrieben. Aus dem Gefängnis ihrer angestaubten Weltanschauungen vermag keine der Figuren zu entkommen. Stattdessen überbieten sie sich in der Reanimation alter Ressentiments, hauen sich gegenseitig ihre existenziellen Desaster um die Ohren – und erkennen am Ende des Romans, dass sie sich mit all ihren Spekulationen lächerlich gemacht haben. Selbst Jakob, der über weite Strecken des Buches als Erzähler firmiert und in der selbstkritischen Erforschung seines verkorksten Lebens weit fortgeschritten ist, vermag sich nicht selbst aus dem Sumpf seiner schlecht bezahlten Feuilletonistenexistenz zu ziehen. Seine große Passion ist der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal, der den oberschwäbischen Antihelden die Stichworte für eine Verfehlung ihrer Existenz liefert: „Was ist der Mensch, fragt Pascal und klagt: Ein Schilfrohr im Wind, das denken kann und über sich selbst nachsinnt, was ihm aber, wenn es geschüttelt und gerüttelt wird, rein gar nichts nützt.“

Pascal, der Erfinder der ersten Rechenmaschine, gab schon als Dreißigjähriger die Mathematik auf, um sich nur noch religionsphilosophischen Fragen zu widmen. Und sein Adept, der wenig beschäftigte Fernsehautor Jakob, versinkt nun ebenso in ausgedehnten Grübeleien über die letzten Dinge und die metaphysischen Falltüren, in die man als unerlöster Skeptiker hineinstürzt. Und am Ende erlebt Jakob, der mit Pascals »Logik des Herzens« so seine Schwierigkeiten hat, das Comeback der religiösen Heilsgeschichte von der „Auferstehung“ als theologische Farce. Denn die verhinderten Erben des zunehmend eigensinnigen Vaters registrieren zunächst nur die „Auferstehung“ der erotischen Triebkräfte eines weit über achtzigjährigen Mannes. Ganz zum Schluss widerfährt ihnen auch noch eine unerwartete Rückkehr aus dem Totenreich.

Karl-Heinz Ott hat mit Die Auferstehung das ironische Sittenbild einer libertären Generation geschrieben, die für 1968 zu spät kam und deren Vertreter nur noch als handlungsarme Zaungäste der Revolte beiwohnten. Die Familienaufstellung wird zur rabenschwarzen Komödie. Otts unglückliche Helden, die dem Autor mitunter zur Karikatur geraten, verwechseln Nonkonformismus mit lebenspraktischem Ungeschick. Sie stolpern als „herzensgute Trottel“ durch ihr gut subventioniertes Leben. Zwar erkennt man als Leser früh, dass die Lebensreise dieser Tagträumer nur in einer Blamage enden kann. Der Spott über die frustrierte Generation der Erben wäre indes billig. So mancher Leser wird peinlich berührt feststellen, dass er selbst dieser saturierten Spezies angehört.

Zum Weiterlesen:

Endlich Stille. Roman. dtv, München 2007. 208 Seiten, 9,90 Euro

Ins Offene. Roman. dtv, München 2010. 144 Seiten, 8,90 Euro

Ob wir wollen oder nicht. Roman. dtv, München 2011. 208 Seiten, 8,90 Euro

Tumult und Grazie. Über Georg Friedrich Händel. Hoffmann & Campe, Hamburg 2008. 320 Seiten, 22 Euro

Wintzenried. Roman. dtv, München 2013. 208 Seiten, 9,90 Euro

Die Auferstehung. Roman. C. Hanser, München 2015. 352 Seiten, 22,90 Euro


Michael Braun, geboren 1958, lebt als Literaturkritiker für die NZZ, den Tagesspiegel, den SWR und den Deutschlandfunk in Heidelberg. Er ist Herausgeber mehrerer Anthologien sowie des Lyrik-Taschenkalenders im Verlag Das Wunderhorn.