Liebe und Erkenntnis – Olga Martynova ist schreibend in zwei Sprachen zuhause

Von Beate Tröger

Olga Martynovas Gedichtband In der Zugluft Europas beginnt mit den Versen:

„So seltsam in der Zugluft Europas zu stehn. / Die Spalten in diesem Raum dichtet niemand zu. / Der vierblättrige Wind, der Klee rollt / Nach dort, nach hier den Tau auf die unnötigen Träume.“

Erstaunlich, wie viel sich schon aus diesen ersten vier Gedichtzeilen über ihr Werk ablesen lässt: Die Verwunderung – „seltsam“ – darüber, auf diesem Kontinent zu leben, das Unbehauste dieses Aufenthalts (in der Zugluft steht niemand gerne), der Anspruch, es mit diesen Leerstellen und blinden Flecken aufzunehmen, die mit all dem zusammenhängen. Diese Leerstellen erscheinen hier als „Spalten“, sind also nicht nur im Sinne von Ritzen lesbar, die es gegen Zugluft abzudichten gilt, sondern – und hier erkennt man die Vielschichtigkeit von Martynovas Sprache – auch als „Spalten“, wie sie in einem Text, einem Buch zu füllen, zu (be-)dichten sind. Wie beunruhigend, aber eben auch beruhigend, dass „niemand“ sie ganz „zudichtet“, dass immer weiter gedichtet wird und werden muss. Dass der „vierblättrige Wind“, der aus jeder Himmelsrichtung wehen kann, zu Klee wird, sich in einer Pflanze materialisiert, ist ein eindrückliches Bild: Das ganz Große, das Elementare des Windes wandelt sich in etwas sehr kleines: in Tau, der bekanntlich glitzert und die „unnötigen Träume“ berührt, tränengleich, perlengleich, und damit diese „unnötigen Träume“ gleichermaßen tröstet wie adelt.

Vier Verse (von insgesamt zwölf) eines Gedichts sollen genügen, sich der Kunst dieser Autorin zu nähern und gleich auf einen weiteren Aspekt im Werk der 1962 in Dudinka geborenen, in Leningrad aufgewachsenen, heute in Frankfurt am Main lebenden Olga Martynova zu sprechen zu kommen: Es handelt sich bei dem zitierten Gedicht um eine Übersetzung aus dem Russischen, der Sprache, die die Autorin nach wie vor für die Lyrik wählt, während sie für die Prosa das Deutsche verwendet. Sind diese Verse der Gegenbeweis für die vielzitierte Behauptung von Robert Frost: „I could define poetry this way: it is that which is lost out of both prose and verse in translation“? Vielleicht, denn wenn schon in der Übersetzung dieser Verse so viel zu entdecken ist, wie mögen sie erst im Original klingen, worauf (an-)spielen? Oder waren hier außerordentlich begabte Übersetzer am Werk, die tatsächlich alle semantischen Schwingungen aus dem Russischen herübergerettet haben?

In dem Zitat ist das Gregor Laschen, an anderen Texten von In der Zugluft Europas haben auch Gerhardt Czejka, Sylvia Geist, Sabine Küchler, Hans Thill und Ernest Wichner mitgewirkt. Und Elke Erb, Lyrikerin und Freundin der Autorin, die auch für die Übersetzung von Von Tschwirik und Tschwirka mit Olga Martynova zusammengearbeitet hat, jenem Band, dessen Erscheinen im Jahr 2012 zeitlich zusammenfiel mit der Verleihung des Klagenfurter Bachmann-Preises, den Martynova für den Text „Ich werde sagen: Hi!“ zugesprochen bekam, jener Auskoppelung aus dem 2013 erschienenen Roman Mörikes Schlüsselbein,. Dass die deutschen Übersetzungen ihrer Gedichte so geist- und bedeutungsreich bleiben, hat wohl insbesondere damit zu tun, dass sie selbst daran mitwirkt.

Von Tschwirik und Tschwirka ist übrigens der titelgebende Zyklus des Gedichtbandes, der im zeitlichen Umfeld von Martynovas Debütroman Sogar Papageien überleben uns, also 2010 entstanden ist. Dessen Hauptfiguren, Marina und Andreas, tauchen in Martynovas zweitem Roman Mörikes Schüsselbein wieder auf. Was kompliziert klingt, ist eine weitere Besonderheit von Martynovas Schreiben, das kontrolliert und anarchisch ist und dessen Figuren, Motive und Fragen durch die einzelnen Bücher weiterwandern. Im Grunde ist es gar nicht so „tschwirik“ zu begreifen, wenn man erst einmal damit begonnen hat, sie zu lesen. Man wird die vielfältigen Bezüge auf das eigene und das Schreiben anderer nicht unbedingt alle entschlüsseln können, aber bemerken, dass sie da sind, dass es ein ganz besonders bezugs- und anspielungsreiches Schreiben ist, das „in der Zugluft Europas“ vieles empfängt, was dann literarisch produktiv wird.

Olga Martynova, Tochter eines Journalisten und einer Laborantin, studierte in Sankt Petersburg, damals noch Leningrad, russische Literatur und begann früh, Gedichte zu schreiben. Mit neunzehn lernte sie ihren Mann Oleg Jurjew kennen, ebenfalls Lyriker und Romancier. Das Paar begann zusammen zu arbeiten, während der Perestroika unter anderem für einen deutschen Radiosender. 1990 kamen die beiden im Zuge eines Autorenaustauschs nach Deutschland und blieben hier. Neben Gedichten entstehen seither Radiobeiträge, Kritiken und Essays für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, etwa die Neue Zürcher Zeitung und Die Zeit, vornehmlich über russische Dichter. Viele von ihnen, etwa Ossip Mandelstam oder Joseph Brodsky, spielen in ihrem Werk eine Rolle, wenngleich in Martynovas Schreiben sich die „Zugluft Europas“ auch in Form zahlreicher Bezüge auf nichtrussische Autoren wie Paul Celan, Emily Dickinson, Johann Wolfgang von Goethe, Eduard Mörike ausmachen lässt. In Martynovas Auseinandersetzung mit der russischen Literatur wird man auch aufmerksam auf das mit dem Unsinn so innig sich verbindende Schreiben der „Oberiuten“ um Daniil Charms, die in Von Tschwirik und Tschwirka und in Sogar Papageien überleben uns eine zentrale Rolle spielen. In deren Schreiben erkennt die Autorin, so scheint es, etwas von dem, was Paul Celan in seiner Büchnerpreis-Rede als „die für die Gegenwart des Menschlichen zeugende Majestät des Absurden“ bezeichnet hat.

Dass die Texte der „Oberiuten“ heute überhaupt noch existieren, beruht auf Glück und Zufall: „Wir kennen ihre Texte nur, weil einer von ihnen, der Philosoph Jakow Druskin, im belagerten Leningrad beinahe verhungert, sich eines Tages zur Wohnung des verhafteten Charms begab und dessen Archiv auf einem Kinderschlitten zu sich nachhause brachte. Er hätte auf dem Hin- und Rückweg unter den deutschen Bomben sterben können, oder am Hunger, wie mehr als eine Million Einwohner in Leningrad, oder er hätte verhaftet werden und das Schicksal seiner Freunde teilen können“, bemerkt Martynova in einem Essay. Fast alle Dichter, die sich zu den „Oberiuten“ zusammengetan hatten, starben: Daniil Charms verhungerte 1942 im Gefängnisspital, Alexander Wwedenskij starb 1941 beim Häftlingstransport, Nikolaj Olejnikow wurde 1937 verhaftet und erschossen. Es kommt, und auch davon spricht Martynovas Schreiben, eben auf Glück und Zufall an. Und auf das, was jemand zu tun bereit ist für andere oder im Dienst der Kunst, auf das, was jemand findet, schätzt, bewahrt oder rettet.

Es ist dieses Wissen um das Singuläre, das Unersetzliche, und es ist die kluge und phantastische Kombinatorik von Zufälligem und Absicht, die Olga Martynovas Schreiben ebenfalls bestimmt. Was sich auf der Handlungsebene ihrer Romane zuträgt, ist so schnell zusammengefasst wie nichtssagend: In Sogar Papageien überleben uns trifft die Russin Marina in Deutschland während eines Forschungsaufenthaltes ihren deutschen Geliebten wieder, in Mörikes Schlüsselbein überkreuzen sich zwei Familiengeschichten, eine deutsche und eine russische. Die Bezauberung liegt im bereits erwähnten Aufladen der Worte mit Bedeutungen und in den Gängen durch die (Literatur-)Geschichte und die Zeit. Beliebig geht die Autorin dabei aber nie vor, wie sich an folgendem Beispiel zeigt: In Mörikes Schlüsselbein, jenem Roman über das untergründige Netz, das die Literatur durch die Zeit hindurch webt und für dessen Wirken Mörikes Schlüsselbein steht, das er in einer mystisch-phantastischen Transformation gegen dasjenige Hölderlins ausgetauscht hat, denkt Moritz, ein junger Mann, der Schriftsteller werden will, über Folgendes nach: „Hätte Adam Eva geliebt, hätte er anders reagiert, als sie ihm sagte: ,Schau, eine Frucht. Schmeckt auch. Koste mal, hat mir ein Kerl von nebenan gegeben.‘ Was tat Adam? Er kostete, klar, warum nicht. Er war nicht wählerisch und aß alles, was sie ihm auftischte. Hätte Adam Eva geliebt, hätte er sich gefragt: ,Von was für einem nebenan bekommt meine Frau Geschenke?‘ – ,Eva‘, hätte er gesagt, ,bring das Ding sofort zurück und sprich nie wieder mit dem Typen von nebenan.‘ – ,Mensch‘, hätte Eva gesagt, ,er ist so ein netter, ein Engel von einem Wurm!‘ ,Wurm?!‘, hätte Adam gesagt. Und er hätte den Feind erkannt und erschlagen.“

Auch Olga Martynova würde beileibe nicht „in jeden Apfel beißen“, den man ihr hinhält. Sie unterscheidet messerscharf, fragt nach, legt, wie das Zeitflussweib in Sogar Papageien überleben uns, sich überlagernde Bedeutungs- und Zeitschichten frei. Die Dichterin gewinnt ihre Erkenntnis aber nicht nur aus der Intelligenz, die aus all ihren Texten hervorblitzt, sondern eben auch aus Liebe. Liebe und Erkenntnis fallen, anders als in der Genesis, nicht nur in dieser Szene, im Moment des Erzählens, in eins. Martynovas Schreiben lebt ganz grundsätzlich aus dieser glücklichen und nicht nur in der Literatur höchst seltenen Konjunktion. Nicht zufällig trägt ein früher Essayband von Olga Martynova den Titel Wer schenkt was wem. In ihrem Werk werden sozusagen dauernd (nicht nur intertextuelle) Geschenke freudig entdeckt, vorsichtig ausgepackt, dann aber sorgfältig untersucht und nur nach bestandener kritischer Prüfung und Verwendung durch die Autorin weitergereicht. Dadurch bewegt sich etwas, im Schreiben der Schenkenden, aber auch in den Köpfen der von ihr Beschenkten.

Zur Zeit lebt Olga Martynova als 52. Stipendiatin der Calwer Hermann-Hesse-Stiftung in Calw. Am Sonntag, 26. Juli wird sie um 11.15 Uhr im Saal des Hesse-Museums aus ihrem Roman Mörikes Schlüsselbein lesen und sich im Gespräch vorstellen.

Zum Weiterlesen:
Mörikes Schlüsselbein. Roman. Droschl, Graz 2013. 320 Seiten, 22 Euro

Von Tschwirik und Tschwirka. Gedichte. Droschl, Graz 2012. 96 Seiten, 16 Euro

Zwischen den Tischen. Olga Martynova und Oleg Jurjew im essayistischen Dialog. Bernstein-Verlag, Bonn 2011. 128 Seiten, 12,80 Euro

Sogar Papageien überleben uns. Roman. btb, Berlin 2012. 208 Seiten, 9, 99 Euro

In der Zugluft Europas. Gedichte. Deutsch von Elke Erb und Olga Martynova, Gregor Laschen, Ernest Wichner, Sabine Küchler u.a. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2009. 48 Seiten, 13,50 Euro

Rom liegt irgendwo in Russland. Gedichte. Mit Jelena Schwarz. Deutsch von Elke Erb und Olga Martynova. Edition per procura, Lana/Wien 2006. 150 Seiten, 15 Euro

Wer schenkt was wem.
Essays und Buchkritiken. Rimbaud Verlag, Aachen 2003 (nur antiquarisch)

Brief an die Zypressen.
Gedichte. Deutsch von Elke Erb und Olga Martynova. Rimbaud Verlag, Aachen 2001 (nur antiquarisch)


Beate Tröger, geboren 1973 in Selb/Oberfranken, lebt in Frankfurt a. M. und arbeitet als Literaturkritikerin vor allem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Freitag.