Ästhetik der Renitenz – Die BRUETERICH PRESS von Ulf Stolterfoht und ihre „Widerstandsnester“

Von Michael Braun

Literaturverrückte Schwaben, vor allem wenn sie aus der ehemaligen Arbeitervorstadt Heslach stammen, neigen offenbar zur Renitenz. In seinem autobiografischen Gedicht holzrauch über heslach (2007) hatte der Ex-Heslacher und Wahl-Berliner Ulf Stolterfoht von der verblüffenden revolutionären Sozialisation der jungen Vorstadt-Community berichtet. Diese Subkultur nährte sich, so die Legende seines Gedichts, in den aufsässigen 1970er Jahren von revolutionären Schriften anarchosyndikalistischen Ursprungs, darüber hinaus von Free Jazz, Stechäpfeln, Tollkirschen und anderen bewusstseinserweiternden Substanzen – und nicht zuletzt von Weizenbier und experimenteller Lyrik. Die Begeisterung für eine Poesie der experimentellen Aushebelung der geläufigen Sprache entzündete sich beim jungen Stolterfoht nach dem Besuch eines berühmten Jazz-Festivals. An den Pfingsttagen des Jahres 1983 pilgerte Ulf Stolterfoht aus Stuttgart mit vielen anderen Jazzbegeisterten nach Moers am Niederrhein, in das Mekka der improvisierten Musik, und hatte dort eine Art Offenbarungserlebnis. Im Auftritt einer wunderbaren kleinen Band, der Skeleton Crew, entdeckte er das Modell einer unerhörten Freiheit. Von den anarchischen Kompositionen der Tonkünstler nahm er dann die Lizenz für eine eigene poetische Freiheit – die Freiheit der spielerischen Wort- und Satzbildung.

In Moers stellte sich zum ersten Mal jenes Glücksgefühl ein, das ihn einige Jahre später zu seinem großen poetischen Projekt mit den vier „fachsprachen“-Büchern trieb.

Der „holzrauch über heslach“ hat sich mittlerweile aufgelöst, die Lust an poetischer Dissidenz aber ist geblieben. Ulf Stolterfoht hat seine subversiven Stützpunkte seither immer weiter diversifiziert.

Vor zwölf Jahren bereits hatte er in Zwischen den Zeilen, der Zeitschrift des Schweizer Lyrik-Editors Urs Engeler, elf poetische „Widerstandsnester“ angelegt. Hier stellte er seine wichtigsten poetischen Weggefährten vor, von dem späteren Peter-Huchel-Preisträger Paulus Böhmer über den Berliner Anarcho-Poeten Bert Papenfuß bis hin zu dem Heidelberger Dichter und Übersetzer Hans Thill. In einem kleinen Manifest forderte Bert Papenfuß die „antipolitische Artikulation“ und Hans Thill notierte in Anspielung auf seinen literarischen Kronzeugen Raymond Queneau: „Immer n bisschen extrem / son Poem“.

Danach mutierte Stolterfoht zum spaßguerillahaften Staatengründer. In einer diplomatischen Überraschungsaktion rief er 2010 die „Volksrepublik Brueterich“ aus, deren Staatsgebiet „passgenau die Schenkel“ der Berliner S-Bahn-Linien 1 und 2 umfasst. Als Dependance dieser sehr kreativen Volksrepublik erfand er die „Lyrikknappschaft Schöneberg“, die kurz zuvor auf dem geografisch gleichen Terrain gegründet wurde.

Indes: Neu gegründete Staaten sind manchmal krisenanfällig. Kaum hatten die Aktivisten der anarchischen Volksrepublik Brueterich den sozialen Grundriss ihres Staates entworfen, wurde der Think Tank der Volksrepublik, das „System Brueterich“, im Internet abgeschaltet. Doch der Spiritus Rector der rebellischen Volksrepublik hat mittlerweile für Ersatz gesorgt.

Nach längerem Anlauf gründete Stolterfoht die Brueterich Press, in der er Mittel aus einer Erbschaft für einen Verlag einsetzt, der kommerziell schwer vermittelbare Gedichtbände und Essays anbietet. Der Ein-Mann-Verlag hat gleich zwei Verlagssitze: einen in Berlin-Schöneberg und einen in der nordöstlichen Steiermark, wobei die steirische Dependance es in ein paar Jahren ermöglichen könnte, in den Genuss der österreichischen Verlagsförderung zu gelangen. „Schwierige Lyrik zu einem sehr hohen Preis – dann ist es Brueterich Press“: Der launige Werbeslogan verweist auf die Zielrichtung dieser Edition. Der annoncierte „hohe Preis“ indes erweist sich als koketter Schwindel. Die 20 Euro pro Band entsprechen längst den Marktüblichkeiten und können sogar durch ein Abonnement der kompletten Brueterich-Reihe auf 15 Euro pro Buch gesenkt werden. Ästhetisch gibt es aber keinen Rabatt: Die Passion für das Extrem-Poem ist zum Leitfaden des Programms geworden.

Die ersten drei Titel zeigen an, wohin die Reise geht. Der derzeit wohl bedeutendste Ästhetiker der Gegenwart, der österreichische Dichter Franz Josef Czernin, veröffentlicht im Band Beginnt ein Staubkorn sich zu drehn eine Auswahl seiner Essays zur Gegenwartsliteratur, die sich mit der von Czernin bekannten Akribie mit grundsätzlichen Fragen befassen, etwa mit dem Verhältnis von „Poesie, Autor und Intentionalität“ oder den für die Dichtung möglichen „Verwandlungen“. Am Ausgangspunkt dieser poetologischen Erkundungen steht eine Einsicht des Romantikers Novalis: „Dass wenn einer bloss spricht um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmtem sprechen, so lässt ihn die launige Spache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen.“

Diese Novalis-Sätze bilden so etwas wie das ästhetische Grundsatzprogramm der Brueterich Press. Sie gelten auch für die zwei anderen Introduktionen des neuen, wagemutigen Verlags, Hans Thills Gedichtband Ratgeber für Zeugleute und Oswald Eggers Gnomen & Amben. Egger, der eigensinnige Sprachmystiker aus Südtirol, der seit 2002 auf der Raketenstation Hombroich lebt, ist so etwas wie der „cherubinische Wandersmann“ der experimentellen Poesie. Im Anschluss an die metaphysischen Sinnsprüche des Barockpoeten Angelus Silesius präsentiert Egger in seinen Gnomen & Amben eine nach subtilen mathematischen Kompositionsregeln gegliederte Sammlung von typografisch unterschiedlich gestalteten Einzeilern, Distichen und Dreizeilern, die am unteren Seitenrand flankiert werden von einem Fließtext, in dem jeder Satz mit Ordnungszahlen versehen ist. „Wie meine zwei reifen schwarzen Ribiselaugen Ruzsel-Trauben sind“: Egger ist ein Meister solcher verschlungenen poetischen Vexierbilder, die zu einem hermetischen Textgewebe verflochten werden.

Im Zwischen den Zeilen-Heft mit lyrischen „Widerstandsnestern“ hatte sich Hans Thill zu den „schönen krummen Sätzen der Moderne“ und zu seinen surrealistischen Gewährsleuten Apollinaire, Breton, Soupault und Queneau bekannt.

Der Ratgeber für Zeugleute geht aber in seinen sieben Zyklen sehr unterschiedliche Wege, die nur auf den ersten Blick als Variationen surrealistischer Poetik zu beschreiben sind. Allenfalls der erste Zyklus „Aus dem Babylonischen“ ist als Fortschreibung der ästhetischen Programme von Hans Arp und Hugo Ball zu lesen, eine „Fischpredigt“, die auf die Verflüssigung der Sprache und des Körpers zielt. Je weiter man sich aber vorwagt, desto stärker verdunkelt sich das Bild und desto mehr vermischen sich die Tonlagen, wechseln die hellen, spielerischen Wortexplorationen mit elegischen Diskursen und Anmutungen von Vergänglichkeits-Motiven. Das Titelgedicht des Bandes schließlich führt in eine andere dunkle Welt. Die Fügung Ratgeber für Zeugleute ist einem Text des schizophrenen Künstlers Heinrich Klett entnommen, dessen Texte zu den faszinierendsten Zeugnissen der berühmten Prinzhorn-Sammlung gehören. In diesen scheinbar sinnlosen, oft einem wahnhaften Ordnungssinn verfallenen Texten haben schon die historischen Avantgardebewegungen die Impulse einer verzweifelten Subjektivität aufgesucht. Gegen den Herrschaftsanspruch der „alternativlosen“ Vernunft setzt hier die Poesie die undomestizierten Triebkräfte des Unbewussten und eine Poesie der ästhetischen Abweichung. Eine Aufgabe, an der die Brueterich Press in schöner Kompromisslosigkeit weiterarbeitet.

Zum Weiterlesen:
Hans Thill, Ratgeber für Zeugleute. Gedichte. BP 001. 128 Seiten, 20 Euro

Franz Josef Czernin, Beginnt ein Staubkorn sich zu drehn. Ornamente, Metamorphosen und andere Versuche. BP 002. 136 Seiten, 20 Euro

Oswald Egger, Gnomen & Amben. BP 005. 88 Seiten, 20 Euro

www.brueterichpress.org

Michael Braun, geboren 1958, lebt als Literaturkritiker für die NZZ, den Tagesspiegel, den SWR und den Deutschlandfunk in Heidelberg. Er ist Herausgeber einiger Anthologien sowie des Deutschlandfunk-Lyrikkalenders und des Lyrik-Taschenkalenders im Verlag Das Wunderhorn.