Im Gedächtnis der Stadt? – Wilhelm Hauffs Stuttgarter Wohnstätten

Von Alexandra Birkert

Es ist so eine Sache mit den Gedenktafeln in einer Stadt. Ich meine nicht das bedauerliche Phänomen, dass diese hin und wieder „verschwinden“, mögen sie nun vermeintlichen Liebhabern, Gebäudesanierern oder mutwilligen Randalierern zum Opfer fallen.

Gedenktafeln fordern nicht selten die Imaginationskraft des Betrachters heraus, zumal in einer Stadt wie Stuttgart, deren Stadtkern sich durch Kriegszerstörung, autogerechte Verkehrsplanung und geschichtsresistentes Rentabilitätsdenken massiv verändert hat.

„Hier stand bis 1944 Hauffs Geburtshaus.“ So endet der kurze Text auf der 1985 vom Verlag Klett-Cotta gestifteten Erinnerungsplakette für Wilhelm Hauff (1802-1827), die am Hauseingang zum heutigen Gebäude Eberhardstraße 33 angebracht ist: Der Gebäudekomplex zählt zum so genannten „Schwabenzentrum“, das Anfang der 1980er Jahre errichtet wurde.

Der Märchendichter und Erfolgsschriftsteller Wilhelm Hauff – ein gebürtiger Stuttgarter!

Die Tafel erinnert an die − viel zu dicht beieinander liegenden − Lebensdaten des Dichters, an dessen historischen Roman Lichtenstein und, stellvertretend für viele, an das Märchen Zwerg Nase. Sie klassifiziert den Autor als „Erzähler“ und „Lyriker“.

Der flüchtige Passant nimmt all dies im glücklichsten Fall zur Kenntnis, angezogen von dem hübschen Konterfei des jungen Dichters, und eilt weiter. Nicht ahnend, welche Dramen sich hier einmal abgespielt haben, im „Vor-Vorgänger“-Haus, dessen Ansicht und Ausmaße angesichts der Komplexität des heutigen Straßenblocks schwer vorstellbar sind. Und es wird noch unübersichtlicher: Weder die tradierte Hausnummer des Hauffschen Geburtshauses (Eberhardstraße 23) noch der Name der an das Eckhaus angrenzenden Straße (Kreuzstraße, ab 1957 Dornstraße) stimmen heute noch überein, es ist so richtig zum Durcheinanderkommen. In einer Zeit, in der Stuttgarts Häuser noch überschaubar waren und innerhalb der drei Stadtteile „Innere Stadt“, „Esslinger Vorstadt“ und „Reiche Vorstadt“ durchgezählt wurden, trug Hauffs Geburtshaus die Nummer „Esslinger Vorstadt 1358“. Es stand „auf dem kleinen Graben“, der 1811, nach Hauffs Geburt, in Eberhardstraße umbenannt wurde. Erst mit der Einführung der Straßen-Hausnummern wenig später avancierte das Haus zur Eberhardstraße 23 und ging mit dieser Adresse in die Literatur ein.

Wilhelm Hauffs Geburtshaus ist ein Paradebeispiel dafür, dass und wie sich Straßenzüge, Straßennamen, Häuserzeilen und Hausnummern im Laufe der Jahrhunderte veränderten, mit und ohne Kriegseinwirkung. Auch Hegels Geburtshaus, das nur ein paar Meter weiter in der Eberhardstraße liegt, verdeutlicht dies geradezu plakativ: Erst in den 1960er Jahren wurde es aus der Einbettung in die eng aneinander geschmiegte Häuserzeile herausgerissen und zum markanten Eckhaus an der mehrspurig ausgebauten Torstraße gemacht, dessen Seitenhauswand nun als Werbefläche für den großen Philosophen genutzt wird. Aufwendig renoviert, dient das Haus heute als Hegel-Museum. In diesen Räumen kann man sich das Leben um 1800 schon weit besser vorstellen, doch Hegel hat hier nur als Kleinkind gewohnt.

Auch Wilhelm Hauff hat sein Geburtshaus als Bub mit dreieinhalb Jahren verlassen, weil der Vater nach Tübingen versetzt wurde, ist dann allerdings zwei Jahre später nochmals für kurze Zeit hier eingezogen, bis zum frühen Tod des Vaters im Februar 1809. Lässt man die wenigen Jahre Revue passieren, in denen die junge Familie Hauff in der Eberhardstraße gewohnt hat, gerät man mitten hinein in eine turbulente Zeit. Dieses Haus war weit mehr, hier wurde gelebt, geliebt und gelitten: Fünf Monate nach der Eheschließung der Eltern Hauff wurde Wilhelms Vater mitten in der Nacht aus dem Bett geholt und für drei Monate auf die Festung Hohenasperg gesperrt, konspirative, ja revolutionäre Absichten wurden ihm angelastet. Krank und verschlossen kehrte er im Mai 1800 zu seiner schwangeren Frau in die Eberhardstraße zurück und durfte zunächst monatelang seinen Beruf als Regierungsratssekretär nicht mehr ausüben.

Auch das Stuttgarter Haus, in dem Wilhelm Hauff am 18. November 1827 kurz vor seinem 25. Geburtstag gestorben ist, lässt sich heute nicht mehr besichtigen, ja nicht einmal mehr in der Straßenflucht auf den Punkt bringen. Das − auch aus anderen Gründen berühmt gewordene und nach seinem langjährigen Eigentümer benannte − „Hartmannsche Haus“ stand bis zu seinem Abriss 1874 dort, wo sich heute im Minutentakt Straßenbahnen von der Haltestelle Hohe Straße auf den Berliner Platz schieben. Auch „hier“ wurde eine Erinnerungsplakette gestiftet und stellvertretend an einem Neubau in der Fritz-Elsas-Straße 49 / Ecke Leuschnerstraße angebracht. In den seit Ende des 18. Jahrhunderts sporadisch gedruckten Stuttgarter Adressbüchern, zutreffend „Wegweiser“ genannt, wird das Haus „am oberen Ende“ der „Gartengasse“ (ab 1811 Gartenstraße, seit 1946 Fritz-Elsas-Straße) verortet. Wie alte Stadtpläne zeigen, lag es gegenüber der Einmündung der (damals viel schmaleren) Gartenstraße in die querlaufende „Casernenstraße“, die heutige Leuschnerstraße.

In diesem Haus, das einst dem bekannten Stuttgarter Hof- und Domänenrat Johann Georg Hartmann (1731-1811) gehörte, setzten nicht nur Goethe und Herzog Karl August von Sachsen-Weimar, Lavater, Schiller, Matthisson und viele andere Berühmtheiten den Fuß über die Schwelle. Hier eilte auch Wilhelm Hauff 1827 kurz vor seinem Tod im Fieber-Delirium zur Tür hinaus und die Gartenstraße hinunter. Im viel gerühmten, hinter dem Haus liegenden großen Garten, der den Hartmanns auch zum Gemüse- und Obstanbau gedient hatte, um die vielen illustren Gäste des Hauses bewirten zu können, schrieb Wilhelm Hauff an seinen Phantasien im Bremer Ratskeller, denen er den malerischen Untertitel gab: „Ein Herbstgeschenk für Freunde des Weines“. Hauff war in das Haus nach der Hochzeit mit seiner Cousine Luise im Februar 1827 eingezogen. Hier wurde ihre Tochter Wilhelmine geboren, ganze acht Tage vor dem Tod des Dichters. Auch sie starb früh, sie wurde nur sechzehn Jahre alt.

All dies hat die Mutter Hauff miterleben müssen, sie war es, die ihrem geliebten Sohn Wilhelm die Augen zudrücken sollte. Auf ihn hatte sie all ihre Hoffnungen gesetzt, aus der finanziellen Misere seit dem frühen Tod ihres Mannes herauszukommen. Der ehrgeizige junge Schriftsteller hatte es schon früh verstanden, sich erfolgreich auf dem literarischen Parkett zu vermarkten.

Die Zahl der Häuser in Stuttgart, in denen Wilhelm Hauff, seine Eltern, Großeltern und drei Geschwister gewohnt haben, ist groß. Zu jedem einzelnen gäbe es viel zu erzählen. Brächte man an jedem eine Erinnerungsplakette an, würde sich ein dichtes Netzwerk ergeben, das sich über die heutige Innenstadt erstreckt.

Auch Eduard Mörike ist sehr häufig innerhalb Stuttgarts (und darüber hinaus) umgezogen. Wie Mörike hat auch Wilhelm Hauff manche Reminiszenz in das literarische Werk einfließen lassen, etwa an das herrschaftliche Haus des Großvaters Johann Wolfgang Hauff, das er in seiner Novelle Jud Süß beschrieben hat. Es lag dort, wo heute das Gewerkschaftshaus an der Willi-Bleicher-Straße steht. An das Grundstück des Großvaters grenzte der riesige Garten an, der einst dem legendären jüdischen Hoffaktor Joseph Süß Oppenheimer gehörte. In seiner Novelle lässt Hauff die zarten Liebesszenen zwischen dem jungen Christen Georg Lanbeck und der schönen Schwester des „Jud Süß“ symbolisch am Gartenzaun spielen − die beiden dürfen nicht zueinander finden.

Wohnorte können nicht nur für das literarische Werk eines Autors von Bedeutung sein und sich darin (mehr oder weniger konkret) niederschlagen. Oft lassen sich gerade über sie, zumal wenn andere Quellen und Lebenszeugnisse fehlen, Einflüsse nachvollziehen − wird Nachbarschaft beredt: Bevor Hauffs Mutter Wilhelmine mit ihrer Heirat im Sommer 1799 in die Eberhardstraße zog, wohnte sie als junges Mädchen mit ihrer Familie zehn Jahre „auf der Leimengrube“ zur Miete (die spätere Marienstraße 10). Auch dieses Haus steht schon lange nicht mehr, es gehörte damals dem Rektor des Stuttgarter Gymnasiums, Christoph Friedrich Schmidlin. Durch ihn, so ist mit großer Gewissheit anzunehmen, wird Wilhelmine Hauff den letzten Schliff für ihre außergewöhnliche Bildung erhalten haben. Denn sie war, wie ihr Vetter Justinus Kerner zu berichten weiß, eine Frau, die „sich durch Geist und Bildung auszeichnete“. Und nicht nur das, von Zeitgenossen gerühmt wurde auch ihre ungewöhnliche Phantasie.

In seinem ersten Mährchen-Almanach auf das Jahr 1826 für Söhne und Töchter gebildeter Stände, den Gustav Schwab übrigens für Hauffs gelungenstes Werk hielt, hat dieser metaphorisch vieldeutig auf die eigene Familienkonstellation angespielt: Er setzte seiner Mutter eingangs in der Figur der „Königin Phantasie“ ein bezauberndes literarisches Denkmal – eine „Gedenktafel“ der besonderen Art.

Zum Weiterlesen:
Hauffs Märchen. Vollständige Ausgabe. Anaconda Verlag, Köln 2012. 480 Seiten, 9,95 Euro
Wilhelm Hauff, Märchen und Novellen. Auswahl und Nachwort von Otto Heuschele. Manesse Verlag, München / Zürich 2002. 520 Seiten, 22,90 Euro
Wilhelm Hauff, Lichtenstein. Romantische Sage aus der württembergischen Geschichte. Mit einem Nachwort von Friedrich Pfäfflin. Diogenes Verlag, Zürich 2006. 416 Seiten, 11,90 Euro
Wilhelm Hauff, Jud Süß. Hrsg. und mit einem Nachwort von Lars-Thade Ulrichs. Peust & Gutschmidt, Göttingen 2010. 169 Seiten (antiquarisch)

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Alexandra Birkert, geboren 1957 in Stuttgart, arbeitet als Historikerin und Literaturwissenschaftlerin. Sie bietet Vorträge, literarische und historische Stadtspaziergänge an, am 10. und 20. Mai führt sie zu „Wilhelmine Hauff und ihren begabten Kindern“ durch die Stuttgarter Innenstadt. Nähere Informationen unter www.stuttgart-recherche.de.