Buch – Kunst – Objekt: Das Zwiegespräch von Text und Bild – Akka und Wulf D. von Lucius im Gespräch über ihre Sammlung von Künstlerbüchern nach 1945

Seit über vierzig Jahren sammelt das Ehepaar Lucius Künstlerbücher – nicht zu verwechseln mit gut gestalteten oder ausgezeichneten schönsten Büchern. Sie besitzen inzwischen rund 600 Werke, von denen nun ein repräsentativer Querschnitt im Kunstmuseum Stuttgart gezeigt wird. Im Buchbinder-Colleg und in der Landesbibliothek waren in den vergangenen Jahren bereits andere Teile der Sammlung Lucius zu sehen: „Beispiele der Einbandkunst“, „Bücherlust. Buchkunst und Bücherluxus im 20. Jahrhundert“ und „Anmut und Würde. Bücher und Leben um 1800“; dazu sind ebenfalls Kataloge erschienen. Neben ihrer Sammelleidenschaft führen Akka und Wulf D. von Lucius seit 1996 den Wissenschaftsverlag Lucius & Lucius, in dem Publikationen zu den Bereichen Wirtschaftswissenschaften und Soziologie erscheinen.

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Wie kamen Sie auf das Sammelgebiet Künstlerbücher?

AvL: Das Scharnier waren die Pressendrucke. Während Pressendrucke oft rein typografisch gestaltet sind, hat der vielfältig kunstbegeisterte Harry Graf Kessler in seiner Cranach-Presse wichtige Künstler der Zeit für Illustrationen gewonnen. Sein berühmtestes Buch sind Vergils Eclogen mit Holzschnitten von Aristide Maillol (1926). Das stach uns schon lange ins Auge. Als wir Zwillinge erwarteten, dachten wir, dann haben wir ja nie mehr Geld für Bücher, und kauften uns, sozusagen zum Abschied, noch etwa ganz Schönes – eben den Vergil/Maillol, der genau die Grenze von Pressendrucken und Künstlerbüchern markiert. Erfreulicherweise hatten wir in den folgenden Jahren doch immer etwas Geld zur Verfügung und wir widmeten uns mehr und mehr dem Künstlerbuch.

WDvL: Wir sind in unserem Sammeln also schrittweise immer näher an die Gegenwart gerückt, aber der Kosmos der älteren schönen Bücher ist uns unverändert wichtig – in ihm sind die neueren Bücher verortet, ganz im Sinn von Oscar Wildes treffendem Satz: „All beautiful things belong to the same age.“
Obwohl die Künstlerbücher heute die meiste sammlerische Energie und auch erhebliche Finanzmittel binden, bleiben die vorangegangenen Bereiche lebendig: Wir erwerben immer wieder Bücher des Klassizismus oder des Art Déco und anderes. Die Multifokalität der Sammlung ist uns sehr wichtig, jedes Sammelgebiet bringt belebende Impulse für die anderen.

Was interessiert und fasziniert Sie an Künstlerbüchern?

WDvL: Von Anfang an waren illustrierte Werke für uns besonders anziehend und wichtig. Unsere Weltwahrnehmung speist sich stark aus Bildern. Gerade deshalb traten die Pressendrucke bald zugunsten der Künstlerbücher zurück. Es gibt von Goethe, der ja ein eminenter Augenmensch war, das schöne Wort: „Worte und Bild sind Correlate, die sich immerfort suchen“ – ich füge hinzu: „… und im Künstlerbuch in den besten Fällen vollständig verschmelzen“.

AvL: Die meisten Künstlerbücher enthalten ja Texte der Zeit, Künstler und Autor kannten sich gut, waren oft befreundet. Sie vermitteln also in Text und Bildern das Lebensgefühl und die Kunst ihrer Zeit, und das ist weitgehend unsere eigene. Deswegen verlangen wir – mit ganz wenigen Ausnahmen –, dass unsere Bücher Text enthalten, während es seit einiger Zeit eine starke Tendenz zu textlosen, oft unikalen Künstlerbüchern gibt. Da ist dann die Grenze zum grafischen Mappenwerk schnell erreicht. Zudem hat uns immer materiale Qualität angezogen, und fast alle Künstlerbücher zeichnen sich durch eine solche aus.

WDvL: Es gibt ja zahlreiche Definitionsversuche für Livre de Peintre, Künstlerbuch, Artist’s Book, die dabei in intellektuell anspruchsvollen (aber oft auch etwas mühsamen) Erwägungen kategorisiert werden. Das interessiert uns überhaupt nicht, wir nennen Künstlerbücher die Bücher, die Originalgrafik enthalten und Text. So pragmatisch einfach hat es auch Riva Castleman, die langjährige Kuratorin der Künstlerbuchsammlung des Museum of Modern Art in New York, gehalten. Sie nannte ihre wunderbare Publikation, in der all diese künstlich auseinanderdefinierten Buchtypen enthalten sind, kurz und bündig A Century of Artists Books. Genau so halten wir es.

Ihre Sammlung deckt inzwischen sicher die wichtigen Kunststile des 20. Jahrhunderts ab – wie würden Sie Ihr Sammlungsprofil definieren?

AvL: So ganz ausgewogen ist unsere Sammlung sicher nicht. Wir haben nicht das Ziel, kunsthistorisch „objektiv“ und gerecht alles bei uns zu versammeln, was es da an verschiedensten Richtungen gibt. Wir haben ein ganz einfaches Prinzip: Wir kaufen, was uns gefällt, und haben (ganz großes Glück!) fast immer das gleiche Urteil: Manchmal braucht es zur Kaufentscheidung keine Minute.

WDvL: Die schöne Erfahrung bei einem solchen auf den ersten Blick unstrukturierten Sammeln ist, dass sich im Lauf der Jahre wie von selbst „Verdichtungen“ in der Sammlung ergeben, Sinnzusammenhänge sichtbar werden. Das merkt man immer erst nach einige Zeit.

AvL: Dazu muss man anmerken, dass Sammeln ein stetiger Lernprozess ist. Wir haben ja nicht mit dem Vorsatz begonnen, X oder Y zu sammeln, sondern sind neugierig, ästhetisch verführbar herangegangen. Jedes erworbene Buch verbreitert das Wissen.

WDvL: Unser Leitstern ist Vielfalt, nicht Vollständigkeit. Von kaum einem Künstler besitzen wir mehr als fünf, vielleicht auch mal sieben Bücher. Wir wollen auf der Landkarte des Bücherlands viele Fähnchen einpinnen.
Wichtig ist uns auch der Blick über den Tellerrand: Die Bibliophilie ist schon immer sehr national bezogen, Franzosen sammeln Französisches, Deutsche Deutsches und so weiter. Die Kunst des 20. Jahrhunderts ist aber von Jahrzehnt zu Jahrzehnt internationaler geworden, das findet sich auch in unserer Sammlung wieder. Die Druckorte unserer Bücher sind weit gestreut, neben vielen deutschen Orten gibt es Bücher aus Paris, London, Wien, Zürich, St. Gallen, Basel, Mailand, New York, Stanford …

Können Sie die gestalterischen Veränderungen bei den Künstlerbüchern in den letzten Jahrzehnten beschreiben?

WDvL: In der ersten Generation, bis etwa 1960, sind die meisten Künstlerbücher technisch eher konventionell – in Text, Illustration, Bindung und auch in den Materialien. Das ändert sich dann um 1960 deutlich, sowohl in der Buchgestalt, wo Dreiecksformen, kreisrunde Blätter, aber auch Faltungen wie Leporelli, Stanzungen, Perforierungen immer häufiger vorkommen. Der stärkste Wandel liegt aber sicher bei den Materialien, wo plötzlich Plastikfolien, Metallbleche, Sandpapier, Textilien, Xerox, Holz, Transparentpapier, Filz bis hin zu Stein und Flusssand (beides in der Ausstellung zu sehen) neben die klassischen Materialien wie Büttenpapier, Pergament, Leder treten und oft in kühner, nicht selten auch ironischer Absicht mit diesen vermischt werden.

AvL: Diese neue Ästhetik vermittelt einen sehr verwandelten Buchbegriff. Eine weitere Besonderheit ist die multimediale Ausweitung der Bücher durch Schallplatten, CDs oder DVDs. Dafür haben wir ebenfalls einige Beispiele in der Ausstellung. Das bietet sich besonders an, wenn der Künstler auch Komponist ist oder wenn der Dichter seine Texte liest. Gerade letzteres kann eine beeindruckende Erweiterung darstellen.

Sie erwähnten, dass Ihnen der Text in den Künstlerbüchern wichtig ist. Kann man in diesen Ausgaben denn überhaupt lesen?

WDvL: So richtig lesefreundlich sind die in der Regel großen Formate von Künstlerbüchern ja nicht. Wo sie Texte enthalten, die man auch in „normalen“ Ausgaben zur Hand hat, wird man eher zu diesen greifen, wegen der Lesebequemlichkeit zumindest ergänzend. Aber oft führt einen das Künstlerbuch zu einem bisher nicht gekannten Text und dann prägt sich dieser besonders tief in dieser speziellen Darbietung ein – dauerhafter als bei sonstiger Lektüre. Die Rezeptionsästhetik ist ja eben eine besondere.

AvL: Auf jeden Fall liest man die Künstlerbücher, wenn es sich – was recht oft der Fall ist – um Erstveröffentlichungen handelt, die man (noch) nicht anderswo lesen kann und die vielleicht auch später nicht mehr gedruckt werden. Deshalb sammelt ja zum Beispiel das Deutsche Literaturarchiv in Marbach auch Künstlerbücher, wenn sie Erstausgaben deutscher Literatur darstellen.

Und wo finden, wo kaufen Sie die Künstlerbücher?

WDvL: Bei Künstlerbüchern ist die Anschauung unverzichtbar, sei es eine Katalogabbildung, eine Vorbesichtigung von Auktionen, das Inspizieren in einem Ladenantiquariat (die werden immer seltener und nur ganz wenige interessieren sich für Künstlerbücher) sowie – das ist immer wichtiger geworden – die Begegnung mit solchen Büchern auf Kunst- und Antiquariatsmessen.

AvL: Da ist noch als ganz wichtig zu erwähnen die Frankfurter Buchmesse, auf der in zwei Gassen viele Kojen von Buchkünstlern und einschlägigen Händlern sind. Vor zwanzig Jahren waren das sicher mehr als sechzig ernstzunehmende Anbieter, heute sind es allenfalls noch zwanzig – bei dem Rest handelt es sich eher um Bastelstuben auf Volkshochschulniveau.

Als letzte Frage: Wie sehen Sie die Zukunft des Künstlerbuches?

AvL: Von der Produktionsseite geradezu unerschöpflich. Jedes Jahr entstehen weltweit von Moskau bis Bogotá und von San Francisco bis Tokyo oder Berlin Tausende von Künstlerbüchern. Viele Universitäten unterrichten Book Art, besonders in den USA. Die riesige, alle zwei Jahre stattfindende Spezialmesse Codex in Berkeley gibt eine Ahnung von der (Über-)Fülle des Angebots – als Sammler kann man das gar nicht systematisch wahrnehmen.

WDvL: Angesicht der starken Entwicklung zum elektronischen Buch im Bereich der praktischen Buchnutzung kann man sich als Gegenposition eine bewusste Zuwendung zum Buchobjekt, zu Materialien und künstlerischen Gestaltungen als vielversprechend vorstellen. Aber ob in ausreichender Zahl nachhaltige Sammler nachwachsen? Was man von Händlern und Antiquaren hört, stimmt nicht sehr zuversichtlich: Bibliotheken und Museen sind hier stark gefordert, sich zu engagieren, damit dieser wichtige Teil der Buchkultur lebendig bleibt und überliefert wird. Jeder Ankauf bedeutet Förderung und Ermutigung, aber die privaten Sammler allein reichen nicht.

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Die Ausstellung Buch – Kunst – Objekt. Sammlung Lucius ist im Kunstmuseum Stuttgart vom 28. Februar bis  30. August zu sehen.

Wir drucken (mit Dank) eine gekürzte Fassung des Interviews, das Akka und Wulf D. von Lucius mit Ulrike Groos und Sven Beckstette geführt haben. Es findet sich – neben Texten über die Sammlung Lucius von Petronela Soltész, die Präsentation, das Herstellen und Verlegen von Künstlerbüchern sowie das Verhältnis von Buchkünstler und Sammler im Katalog Buch – Kunst – Objekt. Sammlung Lucius. Ausgewählte Künstlerbücher nach 1945. Kunstmuseum Stuttgart, 182 Seiten, 29 Euro.