Von Peter Kohl
Wer wissen will, was er Harald Hurst zu seinem 70. Geburtstag am 29. Januar schenken soll, der schlage in seinem Band Des mir! nach. Die Geschichte „Mit leere Händ“ beginnt mit der Warnung: „Herrgott! Ich hab doch g’sagt, schenkt mir bitte nix, was rumsteht. Womöglich länger als ich selber!“ Kurz darauf folgt der Rat: „Bringt e gutes Fläschle Wein mit. Oder en Mirabellenschnaps aus’m Elsass, Schwarzwälder Speck, Pfälzer Dosewurscht.“
Leicht dürfte es allerdings nicht sein, ihm das Mitbringsel persönlich zu überreichen, denn Badens beliebtester Schriftsteller mag keinen Wirbel um seine Person. Immer mal wieder nicht erreichbar zu sein, empfindet er nicht als Manko, sondern als Privileg. Er hat kein Handy und auch keinen Computer. Seine Texte schreibt er nach wie vor auf einer Schreibmaschine. Als unzeitgemäßer Zeitgenosse hat er den nötigen Abstand, um die Torheiten unserer Konsum- und Mediengesellschaft mit mildem Spott aufs Korn zu nehmen. Hurst ist wie viele Mundartautoren gelernter Lehrer und etwas von dem pädagogischen Eros scheint in ihm fortzuwirken, auch wenn er das selbst nicht zugeben würde. In einer launigen, als Poem getarnten „biographischen Notiz" (im Band Vergeß den Vogel) heißt es: „Hätt ich mich beim Staatsexame / un in de Referendarausbildung / zum Glück / net so blöd a’gstellt / wär ich heut Lehrer.“
In Buchen im Odenwald wird er kurz vor Kriegsende geboren, weil seine hochschwangere Mutter aus Karlsruhe evakuiert worden war, und mit ihr kehrt er in die kriegszerstörte Stadt zurück; der Vater ist gefallen. Das Dörfle wird zum Tummelplatz seiner Kindheit. In diesem berühmt-berüchtigen Stadtviertel, das in den 70er Jahren einer „Flächensanierung“ zum Opfer fällt, lebt er in Tuchfühlung mit dem ältesten Gewerbe der Welt, aber auch mit Handwerkern, Marktfrauen und Kneipiers wie seinem Großvater – es ist eine kleine untergegangene Welt im Abseits der Wirtschaftswundergesellschaft.
Was er dort so lernt und erfährt, kann er allerdings in der Schule nicht anwenden. Er rasselt zweimal durch die Sexta. Mit 15 Jahren erliegt er der Seefahrerromantik à la Freddy Quinn und heuert als Leichtmatrose bei der Handelsmarine an. Auf hoher See fängt er an, ein Tagebuch zu schreiben. Es fliegt ebenso über Bord wie seine Illusionen über die christliche Seefahrt. Um einige Erfahrungen reicher („Viel erlebt, wenig gesehen“), versucht der junge Hurst auf festem Boden Land zu gewinnen: Schließlich gelingt ihm im zweiten Anlauf das so genannte Schulfremdenabitur. In bewegten 68er-Zeiten studiert er Anglistik und Romanistik in Mannheim und Heidelberg, haust in einer Männer-WG und huldigt anarchistischen Weltbildern. Doch nach Studienabschluss und Referendariat bleibt er beim Beschreiten der Lehrerlaufbahn in den Startlöchern hängen. Es folgt eine Phase der Orientierungslosigkeit und der Unbehaustheit, was auch wörtlich zu verstehen ist.
Ende der 70er Jahre rappelt er sich auf und fängt ernsthaft an zu schreiben. Sein erstes Buch erscheint 1981 im neu gegründeten Fächer-Verlag des blutjungen Literaturenthusiasten Andreas Dürr: Lottokönig Paul ist ein Sammelsurium aus kurzen Prosatexten und Lyrik, in Mundart und in Schriftdeutsch. Die antibürgerliche Attitüde ist nicht zu überhören. Es gibt aber auch einige mundartliche Texte, in denen er bereits seinen ganz eigenen Ton anschlägt: „i hab der jo g’sagt / daß i ohne dich / net lebe kann / aber du / waisch jo immer / alles besser“.
Harald Hurst wird Teil einer sich neu konstituierenden Karlsruher Literaturszene, die als lose Vereinigung Lesungen organisiert. Kuno Bärenbold, der zu Hursts ständigem Wegbegleiter wird, stößt etwas später dazu. Hurst schreibt für den Dampedei, ein sehr schlicht gemachtes Stadtmagazin, und für die kurzlebige Karlsruher Rundschau. Beide Publikationen können ihm weder Geld noch eine gesicherte Zukunft bieten. Seinen bescheidenen Lebensunterhalt verdient er sich als Teilzeitlehrer, dabei wächst seine Fangemeinde stetig. Hurst bringt seine Texte mit seiner brüchig-sonoren, von Nikotin und Rotwein gegerbten Stimme zum Klingen und das gelingt ihm am besten, wenn sie mundgerecht sind, Mundart eben. Seine Lesungen entwickeln sich zu Publikumsrennern. Lottokönig Paul und sein zweites Büchlein mit dem Mordstitel ´s Freidagnachmiddagfeierobendschtrassebahnparfüm verkaufen sich gut, aber es reicht nicht hin, um den Fächer-Verlag am Leben zu halten. Vom dritten Hurst-Buch Menschengeschichten bleibt eine Restauflage übrig, die der Verlag von Loeper übernimmt. Dieser Band mit stark autobiografisch gefärbten Geschichten in Hochdeutsch ist seine wohl unbekannteste Publikation überhaupt.
1985 erscheint bei von Loeper mit Ich bin so frei das Buch, in dem Hurst zu sich selbst und seiner eigentlichen Bestimmung gefunden hat. In dem schmalen Band stehen kurze, prägnante Texte, einige davon ("Do hanne num", "Bei de schwäbische Verwandtschaft") gehören fortan zum ständigen Repertoire der Hurst-Lesungen. In der Hymne "Salut Schtroßburg" zeigt er sich auf der Höhe seiner poetischen Sprachmacht: "salut schtroßburg, ça va, wie geht´s? / mein apfelbackichs bauremädle / mit deinre gugelhupffrisur / e goldenes kettle / um dei bauremädlefüß". Aber der Erfolg dieses Buches, das 1991 in einer erweiterten Fassung neu aufgelegt wird, ändert nichts daran, dass er schon wieder den Verlag wechseln muss. Zum Glück holt ihn Andreas Dürr zu G. Braun, dem größten Karlsruher Verlag. 1987 wird dort Zwiebelherz veröffentlicht. Die hochdeutsch geschriebenen Geschichten handeln von Paarbeziehungen in der Krise, von schwankenden Nachtgestalten, von Einsamkeit und Zweisamkeit. Obwohl das Buch sich nicht schlecht verkauft, erweist sich der darauf folgende Band De Polizeispielkaschte (1990) mit Geschichten und Gedichten in Mundart als weitaus publikumsträchtiger. Mit der Sproch für deheimrum, der Karlsruher Spielart des rheinfränkischen Dialekts, erreicht er Herz und Zwerchfell seiner Leser- und Zuhörerschaft am besten.
In Hursts Geschichten können sich viele wiedererkennen. Er schildert in bildhaftiger, saftiger Sprache Alltagssituationen, macht das Absurde und auch das Komische im Alltäglichen und im Gewohnten sichtbar, führt das Lifestyle-Getue in seiner Lächerlichkeit vor. Die Paradoxien des Lebens bringt Hurst, ein Dialektiker des Dialekts, wie kein zweiter umgangssprachlich auf den Punkt, etwa bei der Definition von Gemütlichkeit in dem Text „G’mütlich sitze“, einem Evergreen: „Es isch, oberflächlich g’sehe, so e Art laute Besinnlichkeit im g’sellige Kreis“.
Das gemütliche Beisammensein auch in seinen ungemütlichen Aspekten wird fortan zum Standardthema – und verbessert seine Lebenssituation, denn Hurst stellt fest, dass er vom Schreiben leben kann. Nach den wilden Jahren in einem abbruchreifen Haus in Grötzingen lebt er für einige Jahre weitaus gediegener in Weingarten bei Karlsruhe und seine Gedichte zieren die Etiketten der dortigen Winzergenossenschaft. Mehrere Preise beim Mundartpreis des Regierungsbezirks Nordbaden und zwei Literaturstipendien bestätigen seine Ausnahmestellung, 1993 erhält er dann den renommierten Thaddäus-Troll-Preis.
Mittlerweile tourt er gelegentlich auch durch den württembergischen Landesteil, dessen Zuhörerschaft die Spitzen gegen vermeintliche schwäbische Eigenarten und Beobachtungen wie "Des Stuttgart könnt e Großstadt sei. Wenn d’Leut net wäre" schmunzelnd hinnimmt. Für den damaligen Süddeutschen Rundfunk schreibt Hurst mehrere Mundarthörspiele, von denen er nie viel Aufhebens macht. Einen Eindruck davon, wie es klingt, wenn der Hurst volkstümlich wird, vermittelt auch das Theaterstück „’s Veschperkischdle“, das er für die Badisch Bühn schreibt. Noch erfolgreicher ist die Komödie „Fuffzich“ über einen Mann in der etwas verspäteten Midlife Crisis, das seit 2001 auf dem Spielplan des Karlsruher Sandkorn-Theaters steht. "Kein gutes Stück", konstatiert er selbst, aber eine stete Einnahmequelle. „Fuffzich“ läuft und läuft, auch dank der Besetzung der Hauptrolle mit Peter Schell, einem der Stars aus der beliebten SWR-Kernseifenoper „Die Fallers“, in der Harald Hurst auch schon mal als er selbst in Erscheinung getreten ist.
Dass seine Bücher Daß i net lach! (1993), So e Glück! (1995), Vergeß den Vogel (1998), Komm, geh fort! (2003), Des elend schöne Lebe (2006) und Des mir! (2009) Sammelsurien aus Prosa, Lyrik und Dialogen sind, sieht er nicht als Schwäche: „Ich schreib halt, wie es kommt, und das kommt nicht in Schubladen daher.“ Mit drei Hurst-CDs verkürzte der Verlag sich selbst und den Hurst-Fans die Wartezeit auf den jeweils neuen Hurst-Band. Dass es so wenig „Büchle“ von ihm gibt, hat nicht zuletzt mit seiner regen Lesetätigkeit zu tun.
Hurst und Bärenbold bildeten zusammen mit dem quecksilbrigen Comedian und Musiker Gunzi Heil ein Trio, das regelmäßig für ausverkaufte Veranstaltungen sorgte, und das nach dem Tod von Kuno Bärenbold im Jahr 2008 verbliebene ungleiche Duo ist nicht weniger erfolgreich.
Seit Anfang der 90er Jahre lebt Hurst in Ettlingen, „in diesem putzig sanierten, picobello aufgeräumten, sandgestrahlten und fast besenreinen Spielzeugstädtchen“, wie er in einem liebevoll-ironischen Stadtporträt schreibt. Die Gefahr, dass er in dieser Idylle zu gefällig wird, sieht er selbst, nicht immer entgeht er ihr: Unübersehbar ist die Wiederholung von bestimmten Situationen, Charakteren und Verhaltensmustern in den letzten Büchern, was gewiss auch mit der Stabilisierung der eigenen Lebenssituation zu tun hat. Jetzt hat er in reifen Jahren doch noch einen still dahinfließenden Lebenslauf zustandegebracht und kann in aller Ruhe sein Glas Wein und sein Zigarettchen genießen – allen Gesundheitsaposteln und Selbstoptimierern zum Trotz. Aber selbst wenn er „zum Schaffe“ immer weniger Zeit hat, ist doch auch mal wieder ein neuer Hurst-Band fällig, der tatsächlich Mitte Januar im Silberburg-Verlag erscheinen wird.
Zum Weiterlesen:
Alle Bücher und CDs von Harald Hurst,
bisher im G. Braun Verlag, sind jetzt im Silberburg-Verlag
lieferbar. Neu erscheint dort am 15. 1.: Mol gucke. Geschichten
und Gedichte. 160 Seiten, 14,90 Euro
Peter Kohl, 1958 in Bruchsal geboren, promovierter Literaturwissenschaftler, lebt und arbeitet in Karlsruhe als freier Kulturjournalist, unter anderem für die Badischen Neuesten Nachrichten, das Stadtmagazin Klappe auf und die Katholische Nachrichtenagentur.