Von Irene Ferchl
„Willkommen, eilfter Februar, der unsern Vater Carl gebahr“, hieß es im Württembergischen Hofcalender, und der 11. Februar wurde in den 1760er Jahren zum schönsten Anlass für tage-, ja wochenlange Festivitäten, die idealerweise zudem in die Karnevalszeit fielen. Schier unvorstellbar ist der Aufwand, der in Ludwigsburg und Stuttgart mit Opern-, Ballett- und Theateraufführungen, Redouten und Konzerten, Jagd, Feuerwerk und Hofzeremoniell zu Ehren des Herzogs Carl Eugen betrieben wurde und die Welt mit verschwenderischer Pracht entsprechend beeindruckte. Für die Saison 1765 errichtete man in vier Monaten mitten im Winter einen Holzbau, mit 3000 Zuschauerplätzen das größte Opernhaus Europas, in dem am 11. Februar Niccolò Jommellis Singspiel „Demofonte“ mit „Geschmak und Pomp“ gegeben wurde.
Auf denselben Tag, Carl Eugens 37. Geburtstag, fiel die Gründung der Öffentlichen Bibliothek, deren Eröffnungsfeier wegen Empfängen, Schmausereien, Opernbesuch und Schlittenfahrt allerdings auf den 13. Februar verschoben wurde. (Aber was bedeuten zwei Tage vor der Geschichte?) Die Einrichtung sollte als Vorläuferin der heutigen Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart eine der nachhaltigsten Aktivitäten des Herzogs werden, jedoch gewiss nicht die kostspieligste.
Untergebracht wurde die Bibliothek für die ersten Jahre im Beckschen Haus (heute Stuttgarter Straße 12/1), wo die Lehrer der nach Ludwigsburg verlegten Académie des Arts wohnten. Die Stiftungsurkunde gibt nicht nur einen Eindruck von den Motiven der Gründung, sondern regelt auch den Betrieb. Nach dem Wunsch Carl Eugens sollten in der Bibliothek „die Artisten und Gelehrte, auch Liebhabere der Künste und Wißenschaften auf gewiße Tage darinnen zusammen komen, und die nöthige Hülfsmittel und Subsidia finden können, sich zum Dienst ihres Vatterlandes immer geschickter und nützlicher zu machen“. Neben dieser regelmäßigen Gelehrtenversammlung zum geistigen Austausch ging es um die Vermehrung der Bestände, deren Grundstock teils von dem Bibliothekar und Geschichtsprofessor Joseph Uriot, teils vom Herzog selbst gestiftet worden war: „Sammlungen von Büchern, Land-Carten, Estampes, nebst unserem Antiquitaeten und Medaillen Cabinett“. Um die Bibliothek „mit den raresten und berühmtesten Büchern zu vermehren und zu vergrößern“, stellte Carl Eugen einen Etat zur Verfügung, auch wurden Personen und Einrichtungen zum Stiften eingeladen. Und die „in Unserm Herzogthum etablirten Buchdrucker“ sollten „ein wohl conditionirtes Exemplar“ aus ihrer bisherigen und künftigen Produktion übersenden; inzwischen erhält die Landesbibliothek kostenlose Pflichtexemplare aller im Land erscheinenden Publikationen.
Zwar war Carl Eugen absolutistischer Herrscher in einem Ständestaat, doch die Bibliothek war tatsächlich größeren Kreisen zugänglich, „jedermänniglich ohne Unterschied des Ranges oder Standes, mit alleiniger Ausnahme der Livrée-Bedienten“, zumindest als Präsenzbibliothek – die Ausleihe war nur wenigen erlaubt. Während der 18 Wochenöffnungsstunden, montags, mittwochs und freitags jeweils von 9 bis 12 Uhr und 15 bis 18 Uhr, gaben Bibliothekare Bücher aus, gingen denen zur Hand, die etwas „extrahiren“ wollten, sorgten für Ordnung und Stille und dafür, dass kein Buch verstellt wurde.
Schon im März 1765 berichtete die Stutgardische Privilegirte Zeitung, dass die Bibliothek fleißig besucht werde, sowie von dem „grossen Vergnügen des Publici“ und dem Eifer der Schenkenden; Werke zu Ehren des Herzogs, Widmungsgedichte, Reden und Erlasse kamen natürlich in den Bestand.
Die besondere Leidenschaft Carl Eugens galt der Bibelsammlung, die durch Ankäufe zu einer der größten überhaupt anwuchs. Auf seinen Reisen besuchte er berühmte Bibliotheken und Buchversteigerungen, erstand prächtig illuminierte mittelalterliche Codices und neben vielem anderen eine zweisprachige Homer-Handschrift auf Pergament aus der Mitte des 15. Jahrhunderts.
1767 zog die Bibliothek nebst Münzkabinett, Kunstkabinett und Kunstakademie in den Gesandten- und Grafenbau in der Schlossstraße 31, dann mit der Verlegung des Hofes nach Stuttgart im Jahr 1776 in das sogenannte Herrenhaus auf der südlichen Seite des Marktplatzes, das bisher als Amtshaus der gräflichen Herrschaft für die peinliche Gerichtsbarkeit und als Kaufhaus gedient hatte. Es war ein Holzgebäude, aber die Feuergefahr wegen der freien Lage gering. Zehn Jahre später hatte sich die Bibliothek auf drei Etagen mit insgesamt drei Sälen und 26 Zimmern ausgedehnt. Aus zeitgenössischen Beschreibungen sind wir recht gut über sie informiert. So schrieb beispielsweise der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai in seinem Reisebericht über die Stuttgarter Bibliothek: „Schon das Aeußerliche derselben ist einladend. Die Treppe, auf welcher man zu derselben steigt, ist mit einer Menge roemischer Steine und Inschriften und Statuen (aber von schlechter Arbeit), welche in Wirtemberg gefunden worden, desgleichen mit Abguessen von antiken Bildsaeulen, fast allzureichlich besetzt. Die Bibliothek ist in eilf Zimmer abgetheilt. […] Ich ging die verschiedenen Zimmer nach einander mit Vergnuegen durch, und sah da die wichtigsten und rarsten Werke in allen Wissenschaften. […] Ein ganzes Zimmer ist Buechern aus der theologischen Polemik und Ascetik geweiht. Ich schlug ein Kreuz, und verließ das Zimmer mit einer Anwandlung von Grausen und Gähnen.“
Der 14-jährige Schüler Hegel notierte im Juli 1785 in sein Tagebuch: „Ich war heute das erstemal auf der Herzoglichen Bibliothek. […] Es ist ein grosses Zimmer mit einer langen Tafel und Feder und Papier da, wo man sich aufhält. Das Buch, das man begehrt schreibt man nächst dem Namen auf einem Papier und gibt es dem Bedienten, der einem dann das Buch überbringt. Ich forderte, weil andere Bücher nicht da waren, Batteux Einleitung in die schöne Wissenschafften, und laß das Stük von der Epopée.“
Wirklich geeignet war der Holzbau – für um die Jahrhundertwende immerhin rund 100 000 Bände – nicht, aber erst 1820 bestimmte König Wilhelm I., dass die Bibliothek in das ehemalige „Invalidenhaus“ in der Neckarstraße beim Cannstatter Tor umziehen sollte, auch damals schon eine wegen des Verkehrs mit Staub und Lärm ungünstige Lage. Kritiker bemängelten über Jahrzehnte die Unterbringung derart kostbarer Bücher und Handschriften in diesem unschönen, stallartigen Gebäude und die Brandgefahr in den Fachwerketagen.
Doch es dauerte – weil die Gelder immer wieder in wichtigere Kriegsfinanzierungen gingen – bis 1886, dann bezog die Bibliothek erstmals ein eigenes, nach ihren Bedürfnissen erbautes Haus, errichtet auf demselben Grundstück am heutigen Standort. Die Allgemeine Bauzeitung lobte den für die Kaiserzeit typischen Bau nach dem Entwurf von Theodor von Landauer mit „würdigem Charakter schöner Monumentalität“ als geradezu mustergültig. Untergebracht waren unten das Lapidarium und die Altertumssammlung, im Hauptstockwerk die Büchersäle, durch Oberlicht beleuchtet, weil künstliches Licht wegen der Feuergefahr nicht erlaubt war, dazu im Verwaltungstrakt Lesesäle und Katalogsaal.
1901 wurde sie in „Königliche Öffentliche Bibliothek“ umbenannt, nach dem Ende der Monarchie in „Württembergische Landesbibliothek“.
In der Ausstellung „Carls Eugens Erbe – 250 Jahre Württembergische Landesbibliothek“ und dem gleichnamigen, 260-seitigen, reich bebilderten Katalog werden die Geschichte und gegenwärtige Funktion der Bibliothek dargestellt – wie ihre Zukunft aussehen könnte, darüber werden wir zu gegebener Zeit berichten. Anstelle der üblichen Ausstellungseröffnung soll es eine Festveranstaltung im Neuen Schloss geben, unter anderem mit Musik von Jommelli und Zumsteeg, wie sie am 11. Februar 1765 erklungen sein könnte – aber vermutlich erscheinen die Herren nicht wie damals „in Galla und die Damen in Roben“ …