Von Ulrich Rüdenauer
Die Frage, die Judith Schalansky einmal bei einer Lesung stellte, ist legitim; sie entlarvt das libidinöse Verhältnis, das viele Menschen mit Büchern eingehen – und wohlgemerkt: nicht nur mit ihren Inhalten, die im digitalen Zeitalter zum Content verkommen, sondern auch mit ihren Körpern. Um die Körperlichkeit des Buches ist es Judith Schalansky von Anfang an zu tun: Sie hat in Potsdam Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign und ganz besonders die Anatomie des Buches studiert. Sie weiß als gelernte Buchgestalterin, wie man Gedanken verführerisch in Szene setzt, übersetzt also in eine Form, die das Gedruckte noch einmal eindrücklicher und schöner zum Sprechen bringt. Die Materialität des Buches prägt die Lektüren. Sein Aussehen verleiht Charakter. Sein Gewicht und sein Geruch machen es zu einem Erlebnis. Sein Volumen verräumlicht die Zeit – was weiß ein Leser von E-Books über das stolze Voranschreiten in einem Tausend-Seiten-Roman wie Moby Dick? Wie lässt sich der innere Lesekompass einnorden, wenn nicht Seiten umgeblättert und die mit der Pequod zurückgelegten Seemeilen auch in Milli- und Zentimetern gemessen werden können? Das Glück des Lesens hängt auch mit der Lust am physischen Buch zusammen. Zumindest bislang. Zumindest für viele leidenschaftliche Leser. Ganz gewiss für Judith Schalansky. „Ich lebe unter dem Zwang, das perfekte Buch zu machen“, sagte sie einmal in einem Interview. „Aber das gibt es natürlich nicht.“
Oder vielleicht doch? Ihre eigenen Bücher jedenfalls kommen dem perfekten Buch sehr nahe. Sie gestaltet sie selbstverständlich selbst. Für den Atlas der entlegenen Inseln und Der Hals der Giraffe strich sie Preise für das schönste Buch des Jahres ein. Ihre Bände sind bibliophil, aber nicht in einem gourmethaften Sinn. Sie laden zum schwärmerischen Blättern und Betrachten ein. Ihr Äußeres gleicht, frei nach Gérard Genette, einem Vestibül, das einen verlockt einzutreten.
Auch beim letzten Roman der 1980 in Greifswald geborenen Autorin ist das so: Was man bei der gebundenen Ausgabe von Der Hals der Giraffe zunächst wahrnimmt, ist ein schlichter grauer Leineneinband. Aber dieser Einband führt ein Eigenleben. Vom Cover zur Hauptfigur ist es nur ein kleiner Schritt: Die Biologielehrerin Inge Lohmark wirkt zu Beginn ähnlich spröde, streng und abweisend wie das graue Leinen, mit dem man zuallererst in Berührung kommt. Wenn man das Buch dann anfasst, spürt man das Raue und das Besondere des Materials, das Gewebe. Dass es zudem noch die Anmutung eines naturwissenschaftlichen Lehrbuchs aus früheren Zeiten hat, verweist auf die dogmatische Biologielehrerin, die Inge Lohmark zweifellos ist.
„Da ist ja ein Fleck auf dem Leineneinband!“ Judith Schalansky lacht bei dieser Bemerkung, die nicht als Vorwurf gemeint ist, vielmehr als Ausdruck der Freude über eine Besonderheit. „Interessant. Das finde ich gut“, sagt sie. Bücher seien schließlich Gebrauchsgegenstände. Der winzige Fleck auf dem Cover macht das Buch zu einem Einzelstück. „Tatsächlich mag ich Leineneinbände sehr gerne. Ich bin ja nun als Buchgestalterin auch sehr sensibilisiert, und mich haben Schutzumschläge immer ratlos gemacht. Ich gehöre tatsächlich zu denjenigen Leuten, die damit nicht so richtig umzugehen wissen. Angeblich sind es ja Plakate der Bücher, und sie gehören überhaupt nicht richtig zum Buch. Ich wollte auf jeden Fall eines ohne Schutzumschlag. Und ich wollte ein Buch, das noch einmal zeigt, wie die Einbände früher aussahen. Heutzutage ist es nämlich so, dass der Schutzumschlag das eigentliche Cover geworden ist. Das war aber niemals so. Er war eben etwas, was man wegwarf. Und darunter kam dann plötzlich eine sehr schöne Einbandgestaltung zum Vorschein. Insofern habe ich den nackten Einband gleich zur Gestaltungsidee erhoben. Ja, ich mochte Leineneinbände immer. Es gibt vor allem viele naturwissenschaftliche Werke, die eine tolle Tierprägung haben, eine Grafik. Das bot sich an. Und gleichzeitig ist es eine Art Nichtgestaltung. Es ist von der Anmutung her etwas, das nicht schreit, sondern rein über die Materialität funktioniert.“
Ihre innige Verbundenheit mit dem Gewand des Buches zeigt sich auch, wenn sie die Werke anderer veredelt und dabei ihre Aufgabe als so bedeutsam betrachtet, dass sie zuweilen fürchtet, dem Autor in die Parade zu fahren, ihm sein Buch „wegzunehmen“. „Die Gestaltung ist für mich eine Autorenleistung“, gab sie einmal im Gespräch mit der FAZ zu Protokoll. Das kann man selbstbewusst nennen – oder einfach als notwendige Voraussetzung für eine intensive Auseinandersetzung mit dem zu Gestaltenden ansehen, das sich ja vom Inhalt her definiert, aber gleichwohl etwas Neues darstellt. Dem Suhrkamp-Kollegen Clemens J. Setz hat sie für dessen Roman Indigo einen gelungenen Umschlag gebunden. Und beim Berliner Verlag Matthes & Seitz verantwortet sie seit letztem Jahr inhaltlich und gestalterisch eine wunderbare Reihe mit dem Titel „Naturkunden“, in der neben kulturwissenschaftlichen Tierporträtbüchern prächtig aufgemachte Bildbände wie Äpfel und Birnen mit Bildern des Pfarrers und Pomologen Korbinian Aigner erscheinen.
Bei all dem verwundert es nicht, dass die Gestaltung von Der Hals der Giraffe bereits erdacht wurde, bevor der Roman über die aus der Zeit gefallene Lehrerin Inge Lohmark überhaupt zu Ende geschrieben war. Judith Schalansky denkt im Format Buch, und das ist eben mehr als nur Text. Von diesem absehen sollte man allerdings nicht, gerade bei einer Autorin, die mit verschiedenen Formen experimentiert und dabei jeweils ihre große stilistische Kraft unter Beweis stellt: Nach dem typografischen Frühwerk Fraktur mon amour (2006) folgte vor sechs Jahren das literarische Debüt, der Matrosenroman Blau steht dir nicht im Mare Verlag. Mit dem Atlas der abgelegenen Inseln, ebenfalls beim Meerverlag Mare erschienen, hatte Schalansky 2009 ihren Durchbruch. Darin reist sie in der Phantasie zu Inseln, auf denen sie niemals war und niemals sein wird. Die Karten werden, mit feinen Strichen gezeichnet, jeweils mitgeliefert. Mitten hinein ins literarische Leben katapultierte sie dann im Jahr 2011 der nun schon öfter erwähnte Roman Der Hals der Giraffe – mit allen denkbaren Folgeerscheinungen wie renommierten Preisen und ausgedehnten Lesereisen.
Wie aber hängen diese höchst unterschiedlichen und höchst eigensinnigen Werke zusammen? „Jedes Buch ist eine Welt für sich“, sagt Judith Schalansky. „Aber alle meine Bücher beschäftigen sich mit Obsessionen. Das allererste Buch, das sich um Typografie und Fraktur, um gebrochene Schriften und den ambivalenten Umgang mit Schriften drehte, ist ein bisschen außen vor. Aber es ist doch als Objekt ein zutiefst fetischistisches Buch. Beim literarischen Debüt mit den Matrosenanzügen ging es ganz klar um eine Kindheitsobsession von mir – und der Protagonistin. Außen steht da zwar ‚Matrosenroman‘ drauf, obwohl er nicht als Roman im klassischen Sinne durchgehen würde – aber bekanntlich erzählen Matrosen viel, wenn der Tag lang ist, und insofern passt die Gattungsbezeichnung doch ganz gut. Der ‚Atlas‘ war für mich eine Art Synthese aus den ersten beiden Büchern. Es ging mir darum zu zeigen, dass Form und Inhalt viel mehr verschränkt werden können. Das ist eben mein Begriff von Autorschaft – also ein Buch, das jenseits der Gattungsgrenzen funktioniert, etwa ein Atlas, der beweist, dass Atlanten poetische Bücher sind, eine Art Wunderbuch mit hohem Bild- und gestalterischem Anteil. Nach der Geografie kam folgerichtig die Biologie.“
Judith Schalansky dekliniert Obsessionen und Schulfächer durch. Und das nicht nur mit einem Gespür fürs Poetische, sondern auch für gesellschaftliche Umbruchsituationen, die äußerst humorvoll bis zynisch dargestellt werden. Die Schule wird in Der Hals der Giraffe zum Mikrokosmos, in dem sich ein Verfallsprozess genau beobachten lässt. Dass alles bestimmten Naturgesetzen folgt, hilft der Lehrerin Inge Lohmark, die zunehmende Unordnung ihrer Welt zu ertragen. Sie setzt sich immer starrsinniger zur Wehr gegen die Zumutungen ihres Alltags. Sie sieht sich umzingelt von geistig minderbemittelten Kindern und inkompetenten Lehrern, von denen manche sogar noch eine falsche Kumpanei mit ihren „natürlichen Feinden“ – den Schülern – anstreben. Das ist sarkastisch und lustig. Es ist aber eben auch bitterer Ernst und der Untergang des alten Systems, an dem sie sich festhalten konnte, unaufhaltsam. Judith Schalansky hat eine wunderbar-grausame und mindestens ebenso bemitleidenswerte wie anrührende Figur geschaffen. Sie hat dafür eine eigensinnige Stimme entwickelt. Ganz stringent und konsequent offenbart Schalansky nach und nach den Charakter von Inge Lohmark. „Nein, diese Kinder hier kamen ihr wirklich nicht vor wie Diamanten auf der Krone der Evolution. Entwicklung war etwas anderes als Wachstum. Dass qualitative und quantitative Veränderung weitestgehend unabhängig voneinander geschah, wurde hier erschreckend eindrücklich demonstriert. Die Natur war nicht gerade schön anzuschauen auf dieser unentschiedenen Schwelle zwischen Kindheit und Adoleszenz.“
„Bildungsroman“ nennt Judith Schalansky ihr Buch im Untertitel. Das ist ein wenig ironisch gemeint – denn eine Entwicklung macht die Hauptfigur nur in sehr beschränktem Maße durch. Diese Frau ist am Ende ihrer Bildungskarriere und buchstäblich am Ende ihrer Schulzeit angelangt, und auch ihres Lateins. Mit ihren vorgeformten Lerneinheiten kommt sie zumindest in ihrem stockenden Leben nicht weiter. Inge Lohmark beharrt auf den Naturgesetzen, auf ihrem biologistischen Weltbild. Schalansky hat Sympathie für diese Figur – und lässt sie doch zugleich auch immer wieder über ihre eigenen Ideologien stolpern.
So nimmt es kaum Wunder, dass Judith Schalansky sich mit einer deutlichen Widerrede zu Wort meldete, als kürzlich eine andere Autorin des Suhrkamp Verlags über die drastische Verbalisierung ihrer Ansichten stolperte. Auf die Dresdner Rede von Sibylle Lewitscharoff, in der die Büchnerpreisträgerin ihre Abscheu vor künstlicher Befruchtung und der Selbstermächtigung etwa lesbischer Paare kundtat, entgegnete Judith Schalansky in der Süddeutschen Zeitung: „Als Kollegin und als lesbisch lebende, schwangere Frau bin ich von Sibylle Lewitscharoffs Äußerungen geschockt, ist mein Kind doch auf eine Weise entstanden, die sie als ‚abartig‘, ‚widerwärtig‘, ‚abscheulich‘ verteufelt: Ein Frauenpaar und ein schwuler Mann gründen eine Familie, freuen sich auf ein Kind, um das sie sich gemeinsam kümmern wollen.“
Man sieht: Judith Schalansky scheut auch die öffentliche Auseinandersetzung nicht. Auf den Bühnen der diversen Leseinstitutionen ist sie ein gern gesehener Gast, weil sie mit Verve, schlagfertig und eloquent ihre Standpunkte vertritt. Dass sie obendrein noch eine begnadete Vorleserin ihrer eigenen Texte ist, prädestinierte sie dazu, in diesem Jahr den Preis der Literaturhäuser verliehen zu bekommen. Nun wird sie (die sich 2014 zudem noch über die Stadtschreiberstelle der Stadt Mainz freuen darf) durch die diversen Literaturhäuser Deutschlands, Österreichs und der Schweiz ziehen, jedes Mal von einem neuen Laudator gewürdigt. Wenn sie im Anschluss an die Lesungen ihre Bücher signiert, kann das dauern: Dann packt sie nämlich ein schönes hölzernes Set mit kleinen Stempeln aus. Ihre Leser dürfen sich eine Giraffe, einen Hirsch oder eine Palme in ihr Exemplar drucken lassen. So wird jedes Buch, ganz im Sinne der Autorin, wirklich zu einem Unikat.
Zum Weiterlesen:
Der Hals der Giraffe. Bildungsroman. Suhrkamp, Berlin 2011. 222 Seiten, 21,90 (TB 9,99 Euro)
Atlas der abgelegenen Inseln. Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde. mareverlag, Hamburg 2009. 144 Seiten, 34 Euro (Taschenatlas, Fischer TB, 14,99 Euro)
Blau steht dir nicht. Matrosenroman. mareverlag, Hamburg 2008. 144 Seiten, 18 Euro (Suhrkamp TB, 7,99 Euro)
Fraktur mon amour. Hermann Schmidt Verlag, Mainz 2006. 648 Seiten mit CD (nur noch antiquarisch)
Ulrich Rüdenauer, Jahrgang 1971, arbeitet in Bad Mergentheim und Berlin als freier Autor, unter anderem für Süddeutsche Zeitung, taz, Deutschlandfunk und SWR. Er ist Kurator der Lesereihe „Literatur im Schloss“ in Bad Mergentheim.