Von Michael Bienert
Pechvogel, Unglücksrabe, Taugenichts: Das waren die Assoziationen, die der Name Peter Schlemihl vor 200 Jahren auslöste, als der bis dahin erfolglose Dichter und angehende Naturforscher Adelbert von Chamisso sein später berühmtestes Werk beim Buchhändler Schrag in Nürnberg drucken ließ. Chamisso selbst hat die Herkunft des Namens so erklärt: „Schlemihl oder besser Schlemiel ist ein hebräischer Name und bedeutet Gottlieb, Theophil oder aimé de Dieu. Dies ist in der gewöhnlichen Sprache der Juden die Benennung von ungeschickten und unglücklichen Leuten, denen nichts in der Welt gelingt. Ein Schlemihl bricht sich den Finger in der Westentasche ab, er fällt auf den Rücken und bricht das Nasenbein, er kommt immer zur Unzeit.“ Langbeinig, linkisch und träge, so stellt der Autor die Figur am Anfang des Buches vor, aber: „Ich hatte ihn lieb.“
In einem polnischen Soldatenmantel mit Troddeln und Schnüren stolpert Schlemihl durch die Welt, in einer sogenannten Kurtka, wie sie um 1810 in Berlin unter den jüngeren Elegants angesagt war. „Der ganze Kerl wäre glücklich zu schätzen, wenn seine Seele nur halb so unsterblich wäre, als seine Kurtka“, so lautet ein von Chamisso kolportiertes Scherzwort. Heute wäre die Kurtka-Mode längst vergessen, wenn nicht Chamisso und seine Illustratoren sie unsterblich gemacht hätte. Der Schriftsteller selber hat solch ein Kleidungsstück gern getragen, auch noch als es verschossen und schon wieder aus der Mode war. Die Kurtka macht die literarische Figur als Alter Ego des Autors kenntlich.
Sein Schlemihl besitzt fast nichts, als er nach einer beschwerlichen Seefahrt in Hamburg das Schiff verlässt. Der arme Schlucker ist eine leichte Beute für den grauen Mann, der im Garten des reichen Herrn John mit Zauberkräften jeden Wunsch erfüllt. Dieser unheimliche Geselle bietet Schlemihl im Tausch gegen seinen schönen Schatten allerlei Seltsames an: die echte Springwurzel, die Alraunwurzel, Wechselpfennige, Raubtaler, das Tellertuch von Rolands Knappen, ein paar ganz neue Siebenmeilenstiefel, Fortunati Wunschhütlein oder ein Glückssäckel. Bei diesem Angebot wird Schlemihl schwach: „Ich bekam einen Schwindel, und es flimmerte mir wie doppelte Dukaten vor den Augen.“
Aber halt, in dieser Nacherzählung stimmt doch etwas nicht: Kommen die Siebenmeilenstiefel nicht erst viel später ins Spiel, als Schlemihl seines enormen Reichtums und des dadurch ausgelösten Unglücks überdrüssig geworden ist? Sind die Zauberstiefel nicht der Lohn für seine Standhaftigkeit gegenüber dem Teufel, der ihm die Seele abluchsen will? In der allbekannten Druckfassung der Geschichte ist es so, aber es gibt eben auch eine ältere Handschrift mit dem Titel „Peter Schlemiel’s Schicksale“. Sie erlaubt Einblicke in die Dichterwerkstatt, denn in dieser Fassung bietet der Teufel die Siebenmeilenstiefel schon im ersten Kapitel feil. Doch wäre es dabei geblieben, dann hätte Schlemihl am Ende der Erzählung immer noch Teufelswerk an den Füßen geklebt. Das sollte nicht sein, also blätterte Chamisso an den Anfang seines Manuskripts zurück, strich „ein paar ganz neue Siebenmeilen Stiefel“ durch und ersetzte sie durch „ein galgenmannlein zu beilligem preiss“.
Die extrem struppige Orthografie ist nicht allein der fehlenden Normierung der deutschen Sprache vor zweihundert Jahren geschuldet, sondern auch der Herkunft des Autors: Er war kein deutscher Muttersprachler, sondern ein verbürgerlichter Grafensohn aus Frankreich, von der Französischen Revolution nach Berlin vertrieben, wo er Anschluss an einen literarischen Zirkel um den jüdischen Verleger und Juristen Julius Eduard Hitzig und den dichtenden Offizier Friedrich de la Motte-Fouqué fand – beide sind die Korrespondenzpartner in den Briefen, die im Buch der eigentlichen Schlemihl-Erzählung vorangestellt sind. Ganz sicher haben Freunde intensiv geholfen, die Fabel druckreif zu machen.
Ausgedacht hatte sie sich Chamisso im Sommer 1813 für die Kinder seiner Gastgeber im märkischen Kunersdorf, die ihm eine Zuflucht vor der antifranzösischen Stimmung in Berlin zu Beginn der Befreiungskriege boten.
Dass ein Netzwerk von Dichterfreunden an einem Text arbeitete, dass man einander Motive und Figuren zuspielte, war damals durchaus nichts Ungewöhnliches: Auch E.T.A. Hoffmann ließ sich von seinem Freund Chamisso nach dessen Weltreise gerne in zoologischen Fragen beraten. In Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht taucht Schlemihl in typischer Kurtka plötzlich in einer Berliner Kellerkneipe auf, daraus entwickelt Hoffmann seine Geschichte eines verlorenen Spiegelbildes. Auf diese Weise fand die Figur später Eingang in Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen: Darin duelliert sich Schlemihl mit der Opernfigur Hoffmann.
Der Schlemihl ist ein Wanderer durch die Literaturen, Kulturen und Kunstgattungen, zu seiner Rezeptionsgeschichte gehören Theaterstücke und weltweite Übersetzungen ebenso wie eine Schlemihl-Puppe in der deutschsprachigen Version der „Sesamstraße“. Chamissos Erzählung regte erstrangige Künstler wie George Cruikshank, Adolph Menzel, Emil Preetorius, Ernst Ludwig Kirchner oder A. R. Penck zu Bildzyklen an. Was hätte näher gelegen als eine große Ausstellung zum 200. Geburtstag von Chamissos Buch in diesem Jahr, veranstaltet durch eine der namhaften Kulturinstitutionen, allen voran die Berliner Staatsbibliothek, die Chamissos schriftlichen Nachlass besitzt, oder die Deutsche Nationalbibliothek? An frühzeitiger Initiative hat es nicht gefehlt, jedoch am Willen und am Geld. Jetzt kann man nur hoffen, dass eine schon für das letzte Jahre geplante, leider nur kleine Ausstellung des Londoner Chamisso-Forschers Bernd Ballmann doch noch zustande kommt – und dass sie nicht allein im abgelegenen Kleist-Museum in Frankfurt/Oder zu sehen sein wird. Frankfurt liegt zwar recht nah bei Kunersdorf, dem Geburtsort von Chamissos Erzählung. Aber unverhältnismäßig bleibt es doch, wenn ein Buchjubiläum von weltliterarischer Bedeutung so abgefeiert wird, als sei Chamisso ein märkischer Provinzdichter gewesen.
Immerhin, der in Kunersdorf ansässigen Chamisso-Gesellschaft ist es zu verdanken, dass nun ein Faksimile der Handschrift „Peter Schlemiel’s Schicksale“ gedruckt vorliegt, samt Transkription und Aufsätzen mehrerer junger Forscherinnen über neue Chamisso-Editionsprojekte. Neben der Handschrift aus der Staatsbibliothek in Berlin ist eine weitere im Nachlass Julius Eduard Hitzigs im Berliner Stadtmuseum erhalten. Im Rahmen des Forschungsprojekts „Berliner Intellektuelle 1800-1830“ wird sie demnächst online ediert. Die Würzburger Germanistin Katrin Dennerlein plant gar eine historisch-kritische Ausgabe des Schlemihl, die einen Vergleich aller Fassungen erlauben soll. Die Online-Veröffentlichung des schriftlichen Nachlasses Chamissos aus der Staatsbibliothek war bereits für 2013 angekündigt und dürfte alsbald Wirklichkeit werden. Damit bekommt die weltweite Beschäftigung mit diesem Text und seinem Autor eine völlig neue Materialbasis.
Chamisso hat diesen editorischen Aufwand verdient. Mit seinem Migrationshintergrund, seiner Welterfahrung und seiner Doppelexistenz als Dichter und Naturwissenschaftler ist er eine höchst inspirierende Erscheinung der europäischen Geistesgeschichte geblieben. Und wie aktuell erscheint erst seine Schlemihl-Fabel, die von den verheerenden Folgen des schnellen Geldes erzählt.
Während Chamisso an seinem Text arbeitete, war Europa in Aufruhr: Niemand wusste damals, ob die Volkserhebung des Jahres 1813 gegen Napoleons Herrschaft glücken würde. In einer ähnlich brenzligen politischen Situation begann im Sommer 2013 eine Germanistin in Kairo damit, Peter Schlemihls wundersame Geschichte erstmals ins Arabische zu übersetzen. Während in den Straßen Blut floss und das Militär sich zurück an die Macht putschte, kommentierte Lobna Fouad das ägyptische Drama auf Facebook und fand Halt in ihrer geduldigen und genauen Übersetzungsarbeit. Zu Beginn dieses Jahres wurde sie fertig, ließ ihre Übersetzung von Fachleuten prüfen und bemüht sich nun um einen geeigneten Verlag.
Ein für die Chamisso-Rezeption typischer Vorgang: In Deutschland ist es nicht möglich, den 200. Geburtstag Peter Schlemihls gebührend zu feiern, dafür aber kommt aus der Ferne eines der größten Geschenke, das man sich vorstellen kann.
Zum Weiterlesen:
Peter Schlemiel’s Schicksale mitgetheilt von Adelbert von Chamisso. Faksimileausgabe der Original-Handschrift von 1830 (Urschrift). Hrsg. von der Chamisso-Gesellschaft. Transkription Katrin Dennerlein. Findling Verlag, Kunersdorf 2013. 184 Seiten, 24,90 Euro
Wissenschaftliche Online-Editionen: Peter Schlemiel’s Schicksale (sog. Urschrift). Staatsbibliothek zu Berlin PK / Digitalisierte Sammlungen http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/dms/
Peter Schlemiels Wundersame Geschichte (sog. Abschrift). Stadtmuseum Berlin, ediert von Anna Busch auf der Homepage „Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin um 1800“ http://tei.ibi.hu-berlin.de/berliner-intellektuelle/
Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte
(Erstausgabe)
Edition des „Deutschen Textarchivs“ der
Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
www.deutsches-textarchiv.de/book/show/chamisso_schlemihl_1814
Nachlass Chamissos http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de
Michael Bienert lebt und arbeitet in Berlin als Journalist, Buchautor und Stadtführer. Er redigiert das Chamisso-Forum im Internet (www.chamisso-forum.blogspot.de). Von ihm ediert, erscheint im April Henry F. Urbans Die Entdeckung Berlins (Verlag für Berlin und Brandenburg).