Von Ulrike Frenkel
»Unsere Schalen zerbrechen, und wir ergießen und mischen uns.« Es ist eine wilde Tanzszene, ein »dombolo« in einem improvisierten Klub mitten in der Halbwüste, die Binyavanga Wainaina in dieses Bild fasst. Ein gängiges Afrika-Klischee, wenn man so will, Menschen, die enthemmt ihre Körper schütteln, sinnliche Lebensfreude – faszinierend für auswärtige Beobachter. Für Einheimische aber, sagte kürzlich der kenianische Schriftsteller, der am New Yorker Bard College das Chinua Achebe Center für afrikanische Literatur leitet und in Nairobi das Literaturmagazin Kwani? mit herausgibt, sei es eine Notwendigkeit, sich dieser Bilder wieder selbst zu bemächtigen, sie mit dem eigenen Blick zu betrachten und in der eigenen Sprache festzuhalten. »Mir liegen diese Dinge, die unter der rülpsenden Selbstzufriedenheit der zertifizierten Welt liegen, ungemein am Herzen«, formuliert der 42-jährige Autor in seinen Erinnerungen Eines Tages werde ich über diesen Ort schreiben, die auch eine literarische Wiederaneignung sind. Wainaina erzählt da die Entwicklungsgeschichte eines für den gesellschaftlichen Aufstieg programmierten Sohnes aus urbaner Mittelklassefamilie, verflochten mit unzähligen anderen Geschichten anderer Menschen aus seinem Heimatland Kenia und dessen Nachbarländern. Es sind Menschen auf ihren schwierigen, abenteuerlichen und manchmal, wie in seinem Fall, erfolgreichen Wegen zur Selbstfindung in der postkolonialen Welt.
Der zwischen Wut und Selbstbewusstsein, Narzissmus und Zärtlichkeit schwankende Text ist in der Reihe AfrikAWunderhorn des Heidelberger Verlags Das Wunderhorn erschienen, die 2010 vom Verleger Manfred Metzner und der Literaturwissenschaftlerin Indra Wussow begründet wurde. Auf der Frankfurter Buchmesse hatten die beiden mit der Idee zusammengefunden, zeitgenössische afrikanische Literatur zu veröffentlichen, zwei bis drei Titel pro Jahr aus verschiedenen Herkunftsländern, herausgegeben von der zwischen Deutschland und Südafrika pendelnden Kennerin der Szene.
Ist diese Art von internationaler Kulturvermittlung wichtig in Zeiten, in denen sich die öffentliche Wahrnehmung der so genannten Entwicklungsländer langsam zu wandeln beginnt? »Literatur«, sagt Indra Wussow, die seit vielen Jahren mit afrikanischen Künstlern arbeitet, »kann uns einen Innenblick davon vermitteln, was in den afrikanischen Ländern passiert, wie ein Leben dort wirklich aussieht, ganz anders, als wenn ein Außenstehender dort hinfährt und etwa eine Zeitungsreportage darüber schreibt. Afrika besteht eben nicht nur aus Gewalt und Armut, wie das in Europa immer noch häufig wahrgenommen wird.«
Zwölf Titel hat sie inzwischen auf den Markt gebracht, der Gedichtband Aussicht auf eigene Schatten von Chirikure Chirikure aus Zimbabwe in einer dreisprachigen, shona-englisch-deutschen Ausgabe ist ebenso darunter wie Helon Habilas nigerianischer Ökothriller Öl auf Wasser, der 2013 in der Kategorie »Internationales« des Deutschen Krimipreises den zweiten Platz belegt hat, und – neu im Januar – Ellen Banda-Aakus Familienroman Patchwork aus Sambia. Ihr Programm, so Wussow, versuche zumindest einen Teil der Vielfalt des Kontinents widerzuspiegeln, seine 55 Staaten, in denen mehr als 2000 Sprachen gesprochen werden. »Aus Ländern wie dem Senegal oder Kenia kommen natürlich ganz andere Bücher als aus Südafrika oder aus dem Maghreb. Wir verlegen mozambikanische Autoren, Schriftsteller aus Ruanda, die französisch schreiben, und südafrikanische, die in unterschiedlichen Sprachen, auch in Afrikaans oder Zulu, schreiben. Und außer den unterschiedlichen Sprachen gibt es natürlich sehr unterschiedliche Lebensbedingungen.« Ist die Auswahl schwierig? Da sie seit langem auf dem Kontinent unterwegs sei, sagt Wussow, und dort unter anderem Literaturfestivals kuratiere, im Jahr 2014 zum Beispiel eine große Veranstaltung in Kapstadt, »bekomme ich natürlich vieles mit, kann Leute weiter beobachten, die vielleicht erst eine Kurzgeschichte geschrieben haben, und so Interessantes auswählen.«
Allgemeines, erklärt sie, lasse sich über die Autoren allerdings kaum sagen. »Es ist ja nicht nur bedeutsam, in welchen Ländern, sondern auch in welcher Generation sie groß werden, leben und schreiben. Die Erfahrung des Kolonialismus ist ein Metathema, es beschäftigt junge Autoren immer noch, aber natürlich anders als ihre Väter und Großväter.«
Auch in Binyavanga Wainainas an Bildern und Figuren überreichen Erinnerungen spielen neben dem autochthonen das britische Erbe und der Einfluss der amerikanischen Popkultur eine große Rolle. Das alles verwebt er zu einem verwirrend bunten Teppich aus Eigenem und Fremdem, aus aufoktroyierten und freiwillig adaptierten Elementen global geprägter Alltagsrealität. In seiner Sprache sind Spuren von englischsprachigen Comics, Fernsehserien und R&B-Musik ebenso zu finden wie von der mündlichen Tradition der zu den Gikuyu gehörenden Erzählern aus seiner Familie. »Die Oralität bekommt zum Beispiel auch in Zwietracht von Shimmer Chinodya eine Stimme«, sagt Indra Wussow, »das ist in den einen oder anderen Werken ganz spannend. Ich glaube aber nicht, dass man bei afrikanischen Romanen einen völlig anderen Erzählstil festmachen kann. Jeder Autor schreibt anders, geht anders mit seiner Herkunft um und hat andere Vorbilder.« Die in London geborene Schriftstellerin Taiye Selasi, Tochter einer Mutter nigerianischer und eines Vaters ghanaischer Herkunft und kürzlich in Deutschland sehr erfolgreich mit ihrem Roman Diese Dinge geschehen nicht einfach so, hat für ihre Generation schwarzer, über alle Welt verstreuter Individuen den Begriff Afropolitain geprägt. Was hält Indra Wussow von dem Begriff? »Ich finde es interessant und gut, dass jemand so klug sagt, ,ich bin Afrikanerin, aber ich bin auch Teil dieser Welt’. Das ist ganz wichtig, weil im Afrikabild, das viele Menschen immer noch pflegen, solche Leute gar nicht vorkommen«, antwortet Indra Wussow. Dabei geschähen dort sehr viele interessante Dinge, es gebe in vielen Bereichen eine Entwicklung nach vorne, das wolle AfrikAWunderhorn abbilden. Man verlege aber »keine Modebücher; alles, was wir hier zeigen, ist auch noch in zehn Jahren interessant«. Gefragt, welche Titel sie denn für Einsteiger empfehlen könne, nennt sie nach kurzem Zögern ihren Favoriten. »Wer ein bisschen tiefer in afrikanische Kultur und Kosmologie einsteigen möchte, dem empfehle ich sehr das vorhin genannte Buch Zwietracht von Shimmer Chinodya, eine Familiengeschichte, die sich vor dem Hintergrund des Mugabe-Regimes abspielt. Gleichzeitig gibt es eine andere Ebene aus der Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinreicht, aus der sehr viel Ahnenkult und afrikanische Kultur mit hineinspielen.« Am Autor Binyavanga Wainaina schätzt sie, wie intensiv er die Veränderungen in seinem Leben, seiner Welt beschreibt »und was das mit ihm macht. Er verbindet sehr schön, was sich im Inneren eines Landes und im Inneren eines Menschen wandelt, in seiner Heimat, und dann im Exil in Südafrika und in den USA.« Ein spannendes Experiment, findet Indra Wussow. Womit wohl auch die ganze Reihe AfrikAWunderhorn gut beschrieben wäre.
Zum Weiterlesen:
Binyavanga Wainaina, Eines Tages werde ich über diesen Ort schreiben. Erinnerungen. Aus dem Englischen von Thomas Brückner. 2013. 320 Seiten, 24,80 Euro
Chirikure Chirikure, Aussicht auf eigene Schatten. Gedichte. Dreisprachige Ausgabe. Aus dem Englischen von Sylvia Geist. 2011. 120 Seiten, 18,90 Euro
Helon Habila, Öl auf Wasser. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Brückner. 2012. 240 Seiten, 24,80 Euro
Ellen Banda-Aaku, Patchwork. Roman. Aus dem Englischen von Indra Wussow. Januar 2014. 220 Seiten, 24,80 Euro
Shimmer Chinodya, Zwietracht. Roman. Aus dem Englischen von Manfred Loimeier. 2010. 256 Seiten, 24,80 Euro
Alle Titel in der Reihe AfrikAWunderhorn im Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg
Ulrike Frenkel, Jahrgang 1962, hat nach dem Studium der Romanistik und Geschichte bei der Stuttgarter Zeitung volontiert. Sie lebt mit ihrer Familie südlich von München, leitet dort Lesekreise und schreibt als freie Journalistin für verschiedene Zeitungen über Literatur-, Medien- und Gesellschaftsthemen. Sie ist ehrenamtliche Vorsitzende des Vereins »Gemeinsam für Afrika«, der Schulbauten in Burkina Faso unterstützt.