Neue und wiederentdeckte Bücher öffnen die Augen für eine Stadt im Umbruch
Von Elke Linda Buchholz
Mitten im tosenden Londoner Verkehr steht ein zierliches Haus aus Holz. Der solide gezimmerte Fachwerkbau balanciert in luftiger Höhe auf vier dünnen Pfosten nahe der U-Bahn-Station Aldgate. Durch die offenen Wände weht der Wind: »Paleys upon Pilers« gibt als literarisches Luftschloss den träumerischen Versen des mittelalterlichen Dichters Geoffrey Chaucer einen Ort – inmitten eines Cityquartiers, dessen bauliches Erbe gerade vom schwindelerregenden Wandel davongespült und durch ein Hochhauscluster ersetzt wird. Chaucers architektonische Phantasien waren poetischer. Er erträumte in seinem Gedicht »Parliament of Fowls« einen Götterpalast auf Säulen aus Jaspis. In »House of Fame« ließ er einen Glastempel auf einem Berg von Eis emporwachsen, wo alle Wörter zusammenfließen, die gesprochenen, gesungenen und in Angst geflüsterten.
Der als Sohn eines Weinhändlers geborene Chaucer wohnte ab 1374 im Stadttor von Aldgate. Aus seinem Fenster sah er die quirlige, vielstimmige Menschenmenge in die schon damals boomende Stadt strömen. Das auf die Römerzeit zurückgehende Stadttor ist längst verschwunden. Von hier gen Osten erstreckt sich kilometerweit East End, jahrhundertelang das verrufenste Elendsviertel der Stadt. Der Amerikaner Jack London stürzte sich 1902 mitten hinein. Er ließ sich von einem entsetzten Droschkenkutscher am Bahnhof Stepney absetzen, tauschte seinen Anzug bei einem Altkleiderhökerer gegen abgerissene Klamotten und lebte wochenlang unter Obdachlosen und Lumpenproletariat. Was er als Undercover-Reporter in den übervölkerten Quartieren von Whitechapel, Spitalfields, Mile End erlebte, schildert seine Sozialreportage The People of the Abyss. Die deutsche Erstausgabe Menschen der Tiefe ist jetzt als Reprint wiederaufgelegt. Schaudernd folgt man dem Autor in den Untergrund der urbanen Hierarchie. Kühl analysiert er die unausweichliche Abwärtsspirale von Mietwucher, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und zeichnet sensible Porträts der Menschen, denen er begegnet. Anhand von Straßen und Orten, die er nennt, kann man seinem Weg durch den Osten folgen. »Im Schatten der Christuskirche sah ich um drei Uhr nachmittags etwas, das ich nie wieder sehen möchte«: Er beobachtet, wie im Rinnstein und auf Bänken des angrenzenden Kirchhofs obdachlose Männer, Frauen, ganze Familien verzweifelt ein paar Stunden Schlaf zu finden versuchen, denn nachts werden sie von der Polizei überall verscheucht – das Nächtigen im Freien ist verboten.
Auch George Orwell trieb sich – allerdings drei Jahrzehnte später – im East End herum. Einen knappen Auszug aus seinem Buch Down and Out in Paris and London haben die Herausgeber in Wagenbachs London. Eine literarische Einladung aufgenommen. Aber kaum hat man sich im Text orientiert, wer hier mit wem und wo in London spricht, ist das Kapitel auch schon zu Ende. Ähnlich geht es einem leider bei vielen der 26 allzu kurzen Schnipsel aus der London-Literatur von Virginia Woolf bis Sadie Jones.
Inzwischen empfiehlt jeder Stadtführer die Gegend um die Christ Church und die Brick Lane als Ausgehmeile mit Off-Künstlerszene und Multikulti-Flair. Hinter den frisch sanierten Fassaden des überdachten Spitalfields Market haben stylische Fastfoodketten und touristische Secondhandshops die Obst- und Gemüsehändler verdrängt. Dass Gabriele Gugetzer dieses Viertel in ihrem Buch Indische Küche in London. Kulinarische Spaziergänge und Originalrezepte empfiehlt, ist also nicht eben originell. Sie stellt von Soho übers noble Mayfair bis Southall fünf indische Hotspots in London vor. Das Buch durchblättert sich mit seinen bunten Fotostrecken wie ein schickes Zeitschriftenmagazin und lässt sich auch im App-Format für unterwegs herunterladen. Das Ganze wirkt ein wenig aufgeblasen und allzu gestylt, macht aber neugierig. Der beste Tipp ist die Green Street, weit im Osten, außerhalb des normalen Touristenstadtplans. Hier ist man als weißer Europäer plötzlich ein Exot zwischen Frauen im Sari, die ihre Kinderwagen durch gewürzgeschwängerte Supermärkte schieben, vorbei an Früchten und Gemüsen, die man noch nie gesehen hat. Nobelkarossen parken vor Juwelierläden, in deren Schaufenstern der Prunk für eine Bollywood-Traumhochzeit glitzert. Green Street ist die Wedding-Shoppingmeile für indischstämmige Paare aus Westeuropa – oder solche, die den märchenhaften Stil einfach lieben. Wir nehmen mit einem Streifzug quer durch die Töpfe eines vegetarischen Lokals vorlieb: scharf, lecker und preiswert.
Biegt man von den multikulturellen Geschäftsstraßen der Vorstädte in die Nebenstraßen ab, reihen sich typisch britische Vorstadthäuschen aneinander, dutzendfach, hundertfach, schmalbrüstig Seite an Seite, liebevoll mit Backsteinornamenten, Säulen und Erkern verziert. Jedes Haus hat denselben Grundriss, eine schmale Treppe nach oben und einen kleinen Garten nach hinten raus. Diese typische Londoner Wohnhausstruktur faszinierte den dänischen Architekten Steen Eiler Rasmussen – mehr als alle berühmten Sehenswürdigkeiten. In seinem 1934 erschienenen Buch London. The Unique City versuchte er zu verstehen, wie dieses Modell einer »gestreuten Stadt« entstand. In London fand Rasmussen sein städtebauliches Ideal vorgebildet: die Gartenstadt, geformt aus überschaubaren Parzellen, nicht aus Hochhäusern, wie Le Corbusier oder Walter Gropius sie propagierten. Warum wuchs London so anders als andere Städte? Rasmussen analysiert die Biografie Londons seit dem Mittelalter, nimmt sich die Parks vor, die Entwicklung der Verkehrssysteme, das Zusammenspiel von Königssitz und Kaufmannsstadt, selbst die Vorliebe der Engländer für Sport – und ihren Wunsch nach gut belüfteten Wohnräumen. Das in der Reihe »Bauwelt Fundamente« neu erschienene Buch ist ein Augenöffner. In einem allerdings täuschte sich der Autor: Er war sicher, dass London niemals eine Hochhausstadt werden würde … Viele der von Rasmussen fotografierten Häuser stehen nicht mehr, etwa das berühmte »Adelphi«, ein fashionabler Appartementpalast für Besserverdienende am Ufer der Themse. Aber Bedford Square und andere Plätze im noblen Bloomsbury, die der Autor liebte, zeigen unverändert ihre elegant geordneten, zurückhaltend schönen Fassaden mit Blick auf alte Bäume.
Hier hängt an jedem zweiten Haus eine Gedenktafel für die Schriftsteller, die sich – wie Virginia Woolf und ihre Freunde – im Viertel um das British Museum und die Universität einquartierten. Karl Marx, der unter der kreisrunden Lesesaalkuppel im Britischen Museum die »kapitalistische Scheiße« analysierte, dem Ladykiller Henry VIII., Shakespeare, Agatha Christie, Mick Jagger und anderen Zelebritäten widmet Marina Bohlmann-Modersohn im London-Band der Reihe »Merianporträts« je eine kurze, flotte Biografie. Leider sind die Texte wenig originell geschrieben, die Hinweise auf Orte und Adressen reichlich dürftig und die beigefügte Karte ist unbrauchbar.
Umso größer ist das Vergnügen, wenn man Miroslav Saseks London zur Hand nimmt. Der jetzt neu aufgelegte Klassiker der Bilderbuchkunst von 1959 bezaubert mit charmantem Witz und wirkt trotz des Retrodesigns der Illustrationen überhaupt nicht angestaubt. Die erste Bildseite zeigt nichts als eine grau-beige Fläche. Darunter steht: »Ja, das ist London – im Nebel. Aber keine Angst, meist sieht die Stadt anders aus …«. Und dann blättert Sasek die Highlights auf: St Paul’s im Dauerstau, die roten Doppeldeckerbusse (die guten alten Routemaster kurven wieder durch die City, nachdem die Stadtverwaltung sie bereits abgeschafft hatte), die Scharen schwarzer Anzugträger, die noch fast genauso aussehen, nur den Bowler Hat haben sie abgelegt. Die Pressehäuser an der Fleet Street – naja, die Zeitungen werden jetzt anderswo gemacht. Downing Street No 10: Da wohnt der britische Premierminister noch immer. Der Milchmann, der die Milch ins Haus bringt. Gibt’s den noch? Ja, es werden noch immer Milchflaschen vor die Tür geliefert, haben wir selbst gesehen. Doch die Skyline Londons hat sich sehr verändert: Wo Sasek nur Tower Bridge, St Paul’s und Westminster Abbey aus dem Häusermeer herausragen lässt, müsste er heute ganze Cluster von Hochhäusern zeichnen – und sein Bild alle paar Monate um neue glitzernde Spekulationsblasenimmobilien ergänzen. Wer weiß, wie die Stadt aussieht, wenn wir das nächste Mal hinfahren …
Zum Weiterlesen:
Jack London, Menschen der Tiefe. Reportage aus dem Londoner East End um 1900. Reprint Verlag, Leipzig 2013. 272 Seiten, 19,90 Euro
London. Eine literarische Einladung. Hrsg. von Ingo Herzke und Hans-Gerd Koch. Wagenbach, Berlin 2013. 137 Seiten, 15,90 Euro
Gabriele Gugetzer, Indische Küche in London. Kulinarische Spaziergänge und Originalrezepte. Gräfe und Unzer, München 2013. 192 Seiten, 19,99 Euro
Steen Eiler Rasmussen, London. The Unique City. Die Geschichte einer Weltstadt. Bauverlag, Gütersloh und Berlin / Birkhäuser, Basel 2013. 440 Seiten, 29,95 Euro
Marina Bohlmann-Modersohn, London. Eine Stadt in Biographien. Merian / Travel House Media, München 2012. 176 Seiten, 16,99 Euro
Miroslav Sasek, London. Kunstmann, München 2013. 63 Seiten, 16,95 Euro