Rüdiger Safranski im Gespräch über seine Goethe-Biografie
Von Hubert Spiegel
Warum, um alles in der Welt, lädt sich jemand diese Bürde auf? Wer im Jahr 2013 eine Goethe-Biografie veröffentlicht, wird mit hohen Maßstäben gemessen: Richard Friedenthals Darstellung von Goethes Leben erschien 1963 und hat sich nach Ansicht vieler Leser ganz gut gehalten. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte sich Friedrich Gundolf an Deutschlands größtem Klassiker versucht. Die Latte liegt hoch. Ist Rüdiger Safranskis Goethe. Kunstwerk des Lebens die maßgebliche Goethe-Biografie für das 21. Jahrhundert? Oder doch zumindest für die nächsten fünfzig Jahre?
Rüdiger Safranski lächelt milde, wenn er mit solchen Fragen konfrontiert wird. Er kennt sie, denn natürlich hat er sie sich selbst gestellt während der Arbeit an seinem Buch. Die Antworten darauf überlässt er getrost seinen Lesern und der Zukunft. Auf anderes antwortet er bereitwillig.
Erich Trunz, Herausgeber der „Hamburger Ausgabe“, hat einen berühmten Aufsatz mit dem Titel „Ein Tag in Goethes Leben“ verfasst. Er ist 35 Seiten lang – 35 Seiten für einen einzigen Tag. Der Göttinger Germanist Albrecht Schöne, der den Faust ediert und kommentiert hat, schreibt seit einigen Jahren an einem Buch über vielleicht zehn oder zwölf Briefe Goethes und dieses Buch wird wohl mehrere hundert Seiten umfassen. Woher kommt der Mut, sich an den ganzen Goethe zu wagen?
„Im Nachhinein betrachtet, kommt mir das ja auch reichlich kühn vor“, sagt Safranski. „Im Moment, als die Entscheidung fiel, schien es mir jedoch ganz selbstverständlich zu sein. Ob ich mich mit E.T.A Hoffmann, Schopenhauer oder Schiller beschäftigt habe, Goethe stand immer schon irgendwie in der Landschaft, wie ein Berg, der darauf wartet, eines Tages bestiegen zu werden. Ich muss zugeben: Da ist durchaus auch ein sportiver Aspekt im Spiel. Natürlich gibt es schon viele gute Bücher über Goethe – nur eben nicht von mir.“
Safranski hat die Forschungsliteratur genutzt, aber er wollte sie nicht erweitern. Er schreibt für ein großes Publikum, mit dem er die Zeitgenossenschaft teilt. Jede Generation habe andere Fragen an die Klassiker und ihre Werke. Deshalb sei es auch nicht seine Absicht gewesen, Goethe zu aktualisieren: „Man ist ja Kind seiner Zeit und deshalb selber aktuell.“ Dass seine Bücher auf großes Leserinteresse stoßen und regelmäßig an der Spitze der Bestseller-Listen zu finden sind, freut ihn nicht nur persönlich: „Es ist doch schön, dass nicht nur Fußballer-Memoiren und Ratgeberliteratur großen Erfolg haben können, sondern auch anspruchsvolle Sachbücher. Das freut mich für das ganze Genre.“
Den Entschluss hat Rüdiger Safranski während der Arbeit an seinem Buch über den anderen großen Weimarer Dichter gefasst. Schiller oder Die Erfindung des Idealismus erschien 2004, fünf Jahre später folgte Goethe und Schiller. Geschichte einer Freundschaft. „Da war mir schon lange klar, dass ich eine Goethe-Biografie folgen lassen würde. Vieles hatte ich schon im Hinterkopf, aber ich wollte ihn dann doch noch über die Quellen, von denen es mehr gibt, als ich je verarbeiten könnte, ganz neu ins Visier nehmen: Goethe also, als würde ich ihn zum ersten Mal wahrnehmen.“
Schweigen wir von der unübersehbaren Sekundärliteratur, und schauen wir nur auf das Werk und die Lebenszeugnisse. Die Zahlen sind erdrückend: Die Weimarer Sophien-Ausgabe von Goethes Werken hat 143 Bände. Sein schriftlicher Nachlass, der im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv aufbewahrt wird, umfasst 200 000 Blatt Papier. Wir kennen etwa 15 000 Briefe von seiner Hand und ungefähr 20 000 weitere von 3350 verschiedenen Absendern. Allein die Korrespondenz mit Frau von Stein, der langjährigen Freundin und Vertrauten, umfasst 1600 Briefe und Billets. Wie nähert man sich solchen Massen? Welche Strategie hat Rüdiger Safranski entwickelt, um in der Flut der Quellen und Zeugnisse nicht unterzugehen?
„In der unüberschaubaren Menge der Literatur über Goethe gibt es natürlich etliche Werke, denen ich viel verdanke“, sagt Rüdiger Safranski. Aber eine Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Forschungsstand habe er keinesfalls betreiben wollen. Seine Lektüreerlebnisse beschreibt er bündig: „Was für mich wichtig war, das lebt in mir. Deshalb erhebt meine Literaturliste auch ganz gewiss keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ich habe Goethe einmal als genialen Ignoranten bezeichnet. Das gilt für mich auch, wenigstens zur Hälfte. Genial bin ich zwar nicht, aber ignoriert habe ich so manches. Das war eine klare Entscheidung. Denn anders geht es nicht.“
Mehr als 700 Seiten umfasst diese Biografie, die bereits im Untertitel verrät, zu welchem Fazit ihr Verfasser kommt. Vom „Kunstwerk des Lebens“ ist da die Rede, und auf dem Rücken des Schutzumschlags steht ein Satz, der in dieselbe Richtung zielt. Auch wenn der Abgrund spürbar bleibe, der uns von Goethe und seiner Zeit trennt, heißt es da, so bleibe doch auch der „tröstliche Gedanke, dass ein solches Leben möglich war“. Lesen wir Goethe, weil wir bewundern, wie er sein Leben im Griff hatte?
Wohl kaum, lautet Safranskis Antwort. „Mit dem Gelingen haben wir Deutschen ja ein Problem. Wir lieben das Tragische und halten es gern mit dem Scheitern, solange es uns nicht betrifft.“ Hans Blumenberg habe vor etlichen Jahren ein Buch mit dem schönen Titel Schiffbruch mit Zuschauer geschrieben: „Das trifft es, da sehen wir gerne zu. Deshalb lieben wir ja Kleist und Hölderlin so sehr. Auf dem Feld des Scheiterns aber hat Goethe uns nicht sehr viel zu bieten.“
Was ist es dann, was uns an diesem Leben so fasziniert? Siegfried Unseld, der 2002 verstorbene Verleger des Suhrkamp Verlags, pflegte zu sagen, er sei „ins Gelingen verliebt“. Die Formulierung stammt von dem Philosophen Ernst Bloch. Gilt sie auch für Goethe?
Jetzt wird es ernst. Mit einem Satz, mit einer Formel gar, ist Safranskis Goethe nicht zu fassen. Der Biograf denkt nach, sucht nach der richtigen Entgegnung, dem passenden Zitat. Er bringt Weimar ins Spiel: Goethe am Scheideweg – Italien oder der Hof des kleinen Herzogtums? Zunächst habe es sich ja nur um einen Besuch gehandelt, mehr nicht. Man habe ja nicht wissen können, was daraus alles werden würde. Und doch habe Goethe die Zäsur gewollt: „Er wollte zu jenem Zeitpunkt ein anderes Kapitel aufschlagen: das Kapitel Wirklichkeit. Deshalb stürzte er sich auch sogleich, obwohl er noch gar nicht richtig installiert war, in die Amtsgeschäfte, bis hin zum Wegebau und den Uniformknöpfen der Weimarer Soldaten. Später sollte er über diese Phase seines Lebens sagen: ,Ich habe die Literatur dem Leben subordiniert’“.
Aber natürlich, sagt Safranski und lächelt, natürlich habe man in Weimar etwas ganz anderes von ihm gewollt. Darin liege eine wunderbare, ganz unfreiwillig komische Ironie: Man hatte Goethe, den berühmten jungen Verfasser des Werther, als Luftgeist nach Weimar geladen, aber er wollte sich dort Erdenschwere aneignen: „Man wollte Levitation von ihm und stieß auf eine völlig unerwartete Ernsthaftigkeit, die anhielt, bis Goethe vom Zweifel gepackt wurde, ob er überhaupt noch ein wirklicher Dichter sei oder nur noch der Verwalter seines frühen Ruhms und seiner Fragmente.“
Aber gehörte zu Goethes Lebenskunst wirklich nur die Fähigkeit, die richtigen Weichenstellungen vorzunehmen, oder nicht auch der mitunter erbarmungslose und für andere folgenreiche Wille, Unannehmlichkeiten zu vermeiden? Er hielt sich von Kranken fern und ging nie zu Beerdigungen, nicht einmal zur Beisetzung seines Freundes Schiller, dessen Totenschädel er später eine Zeitlang in seinem Arbeitszimmer aufbewahrte. Zu den seltsamsten seiner Äußerungen zählt wohl der Satz „Den Tod statuiere ich nicht“.
Ja, sagt Safranski, „Widersacher kommen nicht in Betracht“, das sei auch so ein Goethe-Satz. Man möchte nicht in der Haut derer stecken, die verspüren mussten, was ein solcher Satz bedeuten konnte, Kleist etwa oder Hölderlin, vom armen Jakob Michael Reinhold Lenz, den Goethe nach dessen nie aufgeklärter „Eseley“ aus Weimar ausweisen ließ, ganz zu schweigen. Goethe habe die Realität gezielt danach abgesucht, was ihn fördere. „Aber auch diese Art von Denken engte ihn nicht ein. Denn Goethe war klug genug, nicht immer genau zu wissen, was ihn fördert. Er hielt sich vom Leibe, was ihn lähmen könnte, und blieb zugleich offen für alles, was interessant schien und Anregung versprach.“ Muss soviel pragmatische Lebenskunst nicht sogar dem Biografen unheimlich werden? Safranski nickt: „Ja, mitunter schon. Aber ich hatte nicht das Bedürfnis, ihm in die Karten zu gucken. Ein Entlarvungsgeschäft wollte ich nicht betreiben.“
Sich selbst nicht zu verlieren, das sei wohl eine der zentralen Maximen dieses außergewöhnlichen Lebens. Safranski spricht von einer Art des „existentiellen Aktionismus“. Man selbst zu sein, darum gehe es, jedoch nicht in direkter Intention, nicht im Sinne eines „Erkenne dich selbst“ des Philosophen. Goethe habe gesagt, dass er sich immer nur auf dem Umweg über die Welt kennengelernt habe. „Also kein ängstliches Bewirtschaften der eigenen Identität, sondern das Gegenteil davon. Goethe war kein Möglichkeitsmensch im Musilschen Sinne. Er hielt nichts davon, sich bei den eigenen Möglichkeiten aufzuhalten. Daher wohl auch seine späte Skepsis gegenüber dem Literatentum. Er hatte seine Kollegen in Verdacht, dass sie dazu neigten, sich lieber mit Möglichkeiten zu verbinden und den Wirklichkeitstest zu scheuen.“
Dann wird es Zeit für eine letzte Frage. Wenn er Gelegenheit hätte, dem Mann, mit dessen Leben und Werk er sich so lange beschäftigt hat, eine Frage im Jenseits zu stellen, nur eine einzige, welche wäre das? Rüdiger Safranski zögert keine Sekunde: „Das liegt doch auf der Hand. Ich würde wissen wollen, wie ihm mein Buch gefällt.“
Zum Weiterlesen:
Goethe – Kunstwerk des Lebens. Biografie. 2013. 752 Seiten, 27,90 Euro
Goethe und Schiller. Geschichte einer Freundschaft. 2009. 344 Seiten, 21,50 Euro
Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus. 2004. 560 Seiten, 25,90 Euro
(Alle im C. Hanser Verlag München)
Rüdiger Safranski ist in den kommenden Monaten mit seinem Goethe-Buch auf Lesereise, unter anderem im November in Karlsruhe und Freiburg, im Dezember in Müllheim und Staufen, im Januar in Backnang. Alle Termine und anderen Bücher unter www.hanser-literaturverlage.de
Hubert Spiegel, Jahrgang 1962, ist Literaturkritiker im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, deren Literaturressort er acht Jahre lang leitete. Er erhielt 2005 den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik und hat unter anderem Lieber Lord Chandos. Antworten auf einen Brief (2002), Mein Lieblingsbuch (2005) sowie Kafkas Sätze (2009) herausgegeben.