Die literarischen Spuren – eine Reihe über den deutschen Südwesten
Von Irene Ferchl
Stammheim – seit vierzig Jahren ist der Stuttgarter Stadtteil ein Synonym für den „Knast aller Knäste“ und untrennbar mit der Geschichte der RAF, dem heißen Herbst, der darauf folgenden bleiernen Zeit verknüpft. Und nicht zuletzt mit einem Medienspektakel, das sich aus heutiger Sicht als großes Missverständnis darstellt: der Besuch des Philosophen Jean-Paul Sartre in der Zelle von Andreas Baader am 4. Dezember 1974. Sie hätten in dem einstündigen Gespräch „keine gemeinsame Sprache gefunden“, schreibt Günter Riederer und folgert: „Die Kürze des Aufenthalts stand in keinem Verhältnis zu den medialen Aufgeregtheiten, die ihn begleiteten.“ Das damalige Geschehen mit Vorgeschichte und Nachspiel, die „littérature engagée“ ausgerechnet zum Thema des 100. Spuren-Heftes zu machen, ist eine kluge Wahl, denn Sartre in Stammheim zieht gewiss mehr Aufmerksamkeit auf sich als Friedrich Gundolf in Heidelberg oder Ernst Jünger in Ravensburg.
Die Reihe der Spuren, so formuliert ihr Herausgeber, der Leiter der Arbeitsstelle für literarische Museen und Archive in Baden-Württemberg, Thomas Schmidt, möchte vage Erahnbares sichtbar machen, wenig bekannte, mitunter unbeachtete Orte, an denen es kein Museum, keine Gedenktafel gibt, „als Schauplätze der Literaturgeschichte illuminieren“.
Im Idealfall erhält ein vermeintlich belangloses Ereignis weltliterarisches Gewicht: So kam Honoré de Balzac im Schlosspark von Weinheim, während der Prinz ihn stundenlang auf eine Audienz warten ließ, die Idee zum Schluss seines Romans Louis Lambert. Ausgehend von der Inschrift eines Steintisches im Park erzählt Barbara Wiedemann die Hintergründe im Spuren-Heft 97. Ein anderes Beispiel: Christine Ivanovic schildert in den Spuren 93 den Besuch Ilse Aichingers in Ulm und ihre Begegnung mit Inge Scholl, die für die Dichterin zu einem zweiten Schlüsselerlebnis wurde, nach der Exekution der Geschwister Hans und Sophie Scholl ein Jahrzehnt zuvor.
Andere Konstellationen sind erwartbar, wenn die Spuren Häuser, Gräber, Denkmäler beschreiben, die mit Leben und Werk eines Autors in deutlicher Beziehung stehen: Hermann Lenz in Künzelsau (von Rainer Moritz), Joseph Victor von Scheffel in Radolfzell (von Jürgen Oppermann), Josef Mühlberger in Eislingen (von Tina Stroheker), Johann Peter Hebel und der Belchen (von Thomas Schmidt) oder Die schwäbische Schule und die Wurmlinger Kapelle (von Valérie Lawitschka).
Über derartige Begegnungen könnten natürlich auch dicke Bücher verfasst werden, eine wichtige Qualität der Spuren-Hefte besteht jedoch gerade in der Konzentration auf einen Druckbogen von 16 Seiten; das zwingt die Essayisten zu knappem, stringentem Formulieren und ermöglicht den LeserInnen eine schnelle Lektüre zwischendurch, vielleicht sogar vor Ort – während man von Stift Neuburg auf den Neckar herabschaut und sich die okkulten Erlebnisse Stefan Georges schwerlich vorstellen mag oder am Fuße des Michaelsbergs bei Cleebronn Juliane von Krüdener auf dem Katharinenplaisir kennenlernt. Für das Spuren-Heft 89 Grimmelshausen und der Mummelsee würde sich als Leseplatz ein Boot empfehlen, wo kein Laut die ewige Stille unterbricht …
1988 erschienen die ersten Spuren-Hefte, erfunden von Thomas Scheuffelen und gestaltet von Friedrich Pfäfflin, damals in jeweils individueller Typographie und in farbiges Steinglanzpapier eingeschlagen, seit Heft 33 in durchscheinendes Pergamin. Als Thomas Schmidt 2007 die Nachfolge Scheuffelens übernahm – der sich mit einer Doppelnummer über Kabinettstücke verabschiedet hatte –, sollte das Erscheinungsbild im Wesentlichen erhalten bleiben: der bunte, halbtransparente Umschlag, mit origineller Vignette und Etikett bedruckt, der den Blick auf das darunterliegende Bild (jetzt immer ein umlaufendes Querformat) ermöglicht, eine eigens gezeichnete aktuelle Landkarte beziehungsweise ein Stadtplan mit Leitzitat, das „den Ort semantisiert“, auf der vorderen Umschlagseite und innen durchgehend Schwarz-weiß-Druck. Neu ist das etwas hellere Werkdruckpapier, die gleichbleibende Schrift und dass mehr in die Abbildungen investiert wird.
Gedruckt werden von der Offizin Scheufele jeweils 2000 Exemplare, 800 davon gehen an die Abonnenten, die anderen liegen in ausgesuchten Buchhandlungen und Museen aus oder können über die Homepage des Deutschen Literaturarchivs Marbach bestellt werden – übrigens zu einem konkurrenzlos günstigen Preis. Einzig die Aufbewahrung im Bücherregal stellt Sammler gelegentlich vor Probleme, denn im Autorenalphabet verschwinden die schmalen Hefte und nebeneinander platziert rutschen sie durch das glatte Pergamin leicht durcheinander.
Beim Blättern und Sortieren staunt man immer wieder über die thematische, zeitliche und geografische Bandbreite dieser so bescheiden wirkenden und doch so anspruchsvollen Reihe. Und das Potential ist mit hundert Spuren-Heften noch längst nicht erschöpft: die nächsten zu Wieland in Tübingen, W.G. Sebald in Freiburg, zu Mandelstam und Ricarda Huch, Seuse, Rilke und Hannah Arendt sind bereits in Arbeit.
Der Stoff, sagt Thomas Schmidt, gehe also noch lange nicht aus. Außerdem sind Nachauflagen und Neubearbeitungen zu publizieren, etwa zu Karl May in Kirchheim und Hölderlin in Lauffen. Denn das früher geltende Prinzip – kein Spuren-Heft zu einem Museumsort – darf jetzt durchbrochen werden, wie mit Wolfgang Rankes Schiller, Schubart und der Hohenasperg oder dem jetzt erscheinenden Heft 96 von Arnold Stadler über Erhard Kästner in Staufen, wo für diesen und Peter Huchel im vergangenen Jahr eine Gedenkstätte im Stubenhaus eingerichtet wurde.
Gelegentlich ergab sich aus einem Spuren-Heft sogar ein Museum, etwa im Kloster Blaubeuren zu Schubarts Verhaftung oder in Gaienhofen, wo außer dem Hermann-Hesse-Höri-Museum inzwischen auch Hesses zweites Wohnhaus mindestens gelegentlich zur Besichtigung geöffnet ist.
Neben den großen Namen der Weltliteratur wie Jünger, Balzac und Sartre stehen immer auch die unbekannteren, die so vor dem Vergessen bewahrt werden. Das Spuren-Heft 99 ist Lotte Paepcke in Freiburg und Stegen gewidmet; Tilman Venzl zeichnet darin den Weg der deutsch-jüdischen Autorin nach, die im Kloster Stegen Zuflucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung fand und aus ihren Erinnerungen daran später eine literarisch anspielungsreiche Reflexion über das Leben nach der Schoah formte.
„Die Arbeitsstelle ist ein Kartierungsbüro“, sagt Thomas Schmidt durchaus mit Stolz und die Spuren nennen sich zu Recht eine Reihe über den deutschen Südwesten. Am 20. November wird das Jubiläum der hundert Spuren-Hefte im Deutschen Literaturarchiv gefeiert, mit einem Gespräch zwischen Günter Riederer, dem Autor von Sartre in Stammheim, und Wolfgang Kraushaar.
Die Spuren erscheinen seit 1988 viermal jährlich mit einem Umfang von 16 Seiten. Sie sind im Buchhandel und im Deutschen Literaturarchiv Marbach erhältlich. Gesamtprogramm mit Bestellmöglichkeit unter www.alim-bw.de/spuren. Einzelpreis: 4,50 Euro, Jahresabonnement 13,30 Euro (bei Bankeinzug).
Irene Ferchl ist seit 1993 Herausgeberin und Chefredakteurin des Literaturblatts. Zuletzt erschien von ihr die Anthologie Geschichten aus Stuttgart bei Klöpfer & Meyer.