Würde und Resignation

Hedwig Pringsheims Briefe an ihre Tochter Katia Mann 1933-1941

Von Fritz Endemann



Am 5. Juli 1934 notierte Thomas Mann im Tagebuch: „Die Alten reisten ab um 2 Uhr. Ich verabschiedete mich von ihnen unten am Auto. Zum Schluß Weichheit und Freundlichkeit. Aber es bleibt eine Erleichterung. Sie fahren nach Stuttgart, um die dort aufgestellten Thoma-Bilder ihres Saales von früher zu sehen.“
Die Alten, Alfred (geb. 1850) und Hedwig (geb. 1855) Pringsheim, Eltern von Katia Mann, hatten von München aus die Familie ihrer Tochter in ihrem Exil in Küsnacht bei Zürich besucht. Die zwei Wochen waren für den Schwiegersohn ziemlich enervierend, wie andere recht lieblose Tagebuchnotizen über die Schwiegermutter bezeugen.

Die Pringsheims hatten im Herbst 1933 ihr prächtiges Palais in der Münchener Arcisstraße an die NSDAP auf Abbruch verkaufen müssen. Die Partei errichtete an diesem Straßenstück die „Ehrentempel“ für die „Märtyrer“ des Münchener Hitler-Putschversuchs vom 9. November 1923 sowie den „Führerbau“ und den „Verwaltungsbau“. Die Bilder von Hans Thoma waren der einzige erhaltene Teil der überaus reichen, ortsfesten Ausstattung des 1889/90 erbauten Hauses, ein Fries von 14 Gemälden an den Längswänden des Musiksaals, Szenen eines goldenen Zeitalters mit dem Sänger Orpheus und idealen Gestalten in paradiesischer Landschaft. Der Fries war seinerzeit eine viel bewunderte Sehenswürdigkeit in der „leuchtenden“ Kunststadt. 1934 kamen die Bilder, zunächst als Leihgabe, in die Stuttgarter Staatsgalerie, die sie in einem Saal des damaligen Kronprinzenpalais ausstellte. 1935 wurden sie erworben, doch ob sie in der Sammlung bleiben, ist zweifelhaft, da sie unter Verfolgungsdruck zu einem sehr geringen Preis gekauft wurden.

Als Beitrag zum Wagner-Jubiläum 2013 – Alfred Pringsheim war einer der frühesten Wagner-Enthusiasten, der die ersten Patronatsscheine für Bayreuth erwarb – hat man die Bilder aus dem Depot geholt und präsentiert sie bis 13. Oktober 2013 im Graphik-Kabinett des Steib-Baus.
Die neue Präsentation der Thoma-Gemälde trifft mit einem literarischen Ereignis besonderer Art zusammen: Der Edition der Briefe, die Hedwig Pringsheim von März 1933 bis Oktober 1939 von München und danach bis 1941 von Zürich aus an ihre Tochter Katia Mann an deren Exilorte in Frankreich, der Schweiz und den USA schrieb. In zwei stattlichen Bänden hat Dirk Heißerer, der sich schon länger um die bayerischen Erinnerungen an Thomas Mann verdient gemacht hat, die 375 erhaltenen Briefe (jetzt im Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich) versammelt, mit ausführlichen Kommentaren versehen und in einem Anhang aufschlussreiche weitere Briefe und Dokumente angeschlossen. Etwa 60 Briefe der Mutter sind verloren, die Gegenbriefe der Tochter ausnahmslos.

In den Briefen mischen sich vor allem Nachrichten aus den Familien und aus den immer noch weitläufigen Kreisen der Freunde und Bekannten mit verhaltenen Schilderungen der Lebensverhältnisse in der „Hauptstadt der Bewegung“. Das eigene Leben als „Nicht-Arier“ kommt dabei nur sehr zurückhaltend zur Sprache, wohl aus Rücksicht auf die Tochter und aus Vorsicht gegenüber der Briefzensur. Der „Nachrichtendienst“ wird in einer Art Geheimsprache verschlüsselt und durch einen Familienjargon halbwegs getarnt. Daher bedürfen diese Briefe vor allem des Stellenkommentars, um verständlich zu sein. Der Herausgeber hat sich dieser Aufgabe mit bewundernswerter Findigkeit und immensem Fleiß unterzogen. Die Parallellektüre von Brief und Kommentar ist natürlich nicht bequem, bietet aber doch vielfach Spannungsmomente, so zum Beispiel am Anfang, als es darum ging, was wie für die unerwartet exilierten Manns noch aus München herausgeholt werden könnte.
In dem als Prolog vorangestellten Brief vom 8. August 1932 an den Schwiegersohn gesteht Hedwig Pringsheim, dass sie nicht gern als Mittelpunkt und Herrscherin der Familie abgedankt habe. „Aber: man gewöhnt’s, man findet sich mit der Würde und der Resignation, die dem Alter ziemt in die neue Stellung, und sie da: es geht auch so.“ Würde und Resignation – das ist auch in den Berichten an die Tochter die Grundhaltung gegenüber den neuen Verhältnissen. Sie wird bis zuletzt aufrechterhalten.

In den ersten Jahren hat Hedwig Pringsheim noch Illusionen über das, was vom Regime zu erwarten sein werde, dann und wann zeigt sich sogar ein Anflug von Verständnis für Maßnahmen des „Fürers“ (sie ließ konsequent das Dehnungs-h aus). Das Motiv dafür war wohl, dass man seit Jahrzehnten gewohnt war, sich unkritisch mit der nationalen Sache und ihren Lenkern zu identifizieren. Keine geringe Rolle spielte es im Verhältnis zum Regime, dass den Pringsheims von „allerhöchster Stelle“ erlaubt worden war, entgegen den Nürnberger Gesetzen von 1935 ihre „arischen“ weiblichen Hausangestellten zu behalten.
In das komplexe Bild der Briefschreiberin gehören auch Spuren eines – wie Heißerer es nennt – anti-jüdischen Dünkels. So sind Äußerungen von Empathie oder Solidarität mit den zunehmend ausgegrenzten Juden in den Briefen nicht zu finden, auch nicht nach dem Pogrom vom 9. /10. November 1938. Das war wohl nicht nur Vorsicht. Man verstand sich seit Langem nicht mehr als Juden; als Christen allerdings auch nicht, Alfred Pringsheim lehnte die Taufe ab.
Der erste Schlag, der das alte Paar empfindlich traf, war der Entzug der Reisepässe im Januar 1937, womit eine Ausreise zusammen mit der sehr wertvollen Majolika-Sammlung, die behördliche Begehrlichkeiten geweckt hatte, verhindert werden sollte. Das Schlimmste war, dass nun Besuche bei den Manns in der Schweiz nicht mehr möglich waren.
Im November 1938, kurz nach dem Pogrom, begannen dann die mehrfachen Besuche der Gestapo. Sie musste zunächst wegen der „arischen“ Hausangestellten unverrichteter Dinge abziehen, kam dann aber erneut, konfiszierte das Radio und stellte das Telefon ab, beschlagnahmte die wertvolle Sammlung der Gold- und Silbergefäße sowie andere Kunstwerke in der Wohnung. Ein „Litteraturberater“ nahm „unmoralische“ Bücher mit und leerte die Schale mit den Fotografien der Familie Mann. Wie Hedwig Pringsheim dies mit souveräner Ironie ohne jegliches Selbstmitleid schildert, das ist, wenn man so will, ein Höhepunkt dieser Briefsammlung. Hinzu kam der Ausschluss Alfred Pringsheims aus der Akademie der Wissenschaften und das Verbot, Theater, Konzerte und Kino zu besuchen. Als noch die Wohnung entzogen zu werden drohte, endete der jahrelange Widerstand der Pringsheims gegen eine Emigration: Die Ausreise in die Schweiz am 31. Oktober 1939 konnte in letzter Stunde mithilfe eines SS-Mannes bewirkt werden. Dafür musste der Erlös der Majolika-Sammlung aus einer Londoner Versteigerung den räuberischen NS-Behörden geopfert werden. An der Grenze musste der 89-jährige Alfred Pringsheim noch die bösartige Demütigung einer Leibesvisitation hinnehmen. In Zürich konnte das Ehepaar sich mithilfe von Freunden wieder ein normales, wenn auch finanziell eingeschränktes Leben einrichten. Am 25. Juni 1941 starb Alfred, am 27. Juli 1942 Hedwig Pringsheim.

Nochmals zu den Thoma-Gemälden: Herausgelöst aus der üppigen Dekoration des Musiksalons sind ihre künstlerischen Defizite nicht zu übersehen, erst recht, wenn man sie mit ähnlichen Bildsujets etwa von Hans von Marées vergleicht. Doch worauf es ankam, war die ideologische Funktion dieser Themen – die Überhöhung der bürgerlichen Existenz im expandierenden Kapitalismus durch eine Kunst, die eine ideale Welt des Friedens und der Harmonie darbot. Auch diese musste freilich vor Feinden, insbesondere den inneren – Sozialisten etc. – geschützt werden. Das besorgen im Thoma-Fries zwei Gewappnete mit Löwe und Hunden vor starken Mauern und Türmen. Mit diesen Vorstellungen lagen die Pringsheims ganz auf der Linie des besitzenden Bürgertums ihrer Zeit, sei es „arisch“ oder „nicht-arisch“. Der künftige Schwiegersohn Thomas Mann hat dies 1904 (in einem Brief an seinen Bruder Heinrich) auf die Formel gebracht: „Kein Gedanke an Judentum kommt auf, diesen Leuten gegenüber, man spürt nichts als Kultur.“
Es war die große und lang anhaltende Illusion des assimilierten jüdischen Bürgertums in Deutschland, dass die hochstehende Kultur, an der sie oft führend teilnahmen, den „Gedanken an Judentum“ nicht mehr würde aufkommen lassen. Mit der Diffamierung, Entrechtung, Beraubung, Verfolgung und Vernichtung der Juden wurde diese Bürgerkultur insgesamt zerstört, große Teile der „Arischen“ wirkten dabei mit, fast alle ließen es zu. Der Wahn von der „Volksgemeinschaft“ machte sie blind dafür, dass sie damit die von ihnen beanspruchte Kultur verrieten und verkommen ließen. Den alten Pringsheims blieb im letzten Augenblick erspart, was Millionen erleiden mussten. Ihr Schicksal ist gleichwohl eine notwendige und bittere Lektion: Es zeigt exemplarisch den Ruin der Bürgerkultur in dem Moment, als die Juden von ihr ausgeschlossen wurden. Was war ein Bayreuth noch wert, wenn zur selben Zeit das Werk von Felix Mendelssohn geächtet wurde?

Zum Weiterlesen:
Hedwig Pringsheim: Mein Nachrichtendienst. Briefe an Katia Mann 1933-1941.
Hrsg. und kommentiert von Dirk Heißerer. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 2 Bde., 866 und 848 Seiten, 89 Euro

Inge und Walter Jens, Katias Mutter. Das außerordentliche Leben der Hedwig Pringsheim. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2006. 304 Seiten, 19,90 Euro (TB 9,99 Euro)

Fritz Endemann lebt als Jurist in Stuttgart. Veröffentlichungen und Vorträge vor allem zur Landesgeschichte und zur juristischen Zeitgeschichte, aber auch zu literarischen Themen.