Von Gerrit Lembke
Alle Jahre wieder werden die Buchhandlungen von befremdlichen Buchlingen bevölkert und die Verkaufstische mit neuer zamonischer Literatur bestückt. Sobald Walter Moers einen Roman ankündigt, rätseln die Feuilletons und Leserforen über das Thema und den Erscheinungstag. Und die wenigen Leser, die seine Romane nicht kennen, werden doch um die Comic- und Filmfiguren Kleines Arschloch, Käpt’n Blaubär oder Adolf, die Nazi-Sau, wissen. Walter Moers hat mit jedem seiner künstlerischen Projekte einen Erfolg gelandet, egal ob im Comic, im Film, in der Kunst oder in der Literatur. Inzwischen hat er zwischen 1999 und 2011 mit Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär, Wilde Reise durch die Nacht, Ensel und Krete, Rumo, Die Stadt der Träumenden Bücher, Der Schrecksenmeister und Das Labyrinth der Träumenden Bücher sieben Romane vorgelegt, die allesamt große Publikumserfolge waren und zugleich vom Feuilleton gefeiert wurden. Wenn bald die Fortsetzung der Roman-Serie über den fiktiven Kontinent „Zamonien“ erscheint, Das Schloss der Träumenden Bücher, werden die Erwartungen enorm sein. Alle lieben die von lesenden Buchlingen, buchverliebten Lindwürmern und herrschsüchtigen Haifischmaden bevölkerten Literaturlandschaften. Und sogar museale Ehren werden Moers zuteil: Momentan werden seine Skulpturen und grafischen Werke im Deutschordensmuseum in Bad Mergentheim ausgestellt.
Moers, so scheint es, hat es geschafft! Und dennoch: Er lässt sich nicht fotografieren, gibt keine Interviews, tritt nicht in Talkshows auf – und seine Romane sind nicht einmal originell. Er scheint alles falsch zu machen. Das Phänomen „Moers“ ist das größte Missverständnis der Literaturszene.
Literaturphantom: Schriftsteller ohne Inszenierung?
Zunächst einmal macht er sich rar. Er lebt zurückgezogen, weder vermarktet er sein Gesicht noch nimmt er Signierstunden wahr, er nutzt keine mediale Plattform, sondern wandelt gerade seine ikonische Unsichtbarkeit in symbolisches Kapital um. Es gibt nur wenige, ältere Fotografien des Verfassers und einen kurzen Film im Archiv des NDR, der Moers auf einer Ausstellung zeigt. Diese „publizistischen Unfälle“ aber liegen lange zurück und geben uns wenig Aufschluss über den Menschen Walter Moers. Biografische Informationen über sein Leben erhalten wir überhaupt nicht.
Neu ist dieses Mystifizieren des Autor-Egos keineswegs und Moers ist sich einer gewissen Tradition durchaus bewusst; so hat er selbst die Ähnlichkeiten mit Thomas Pynchon, Patrick Süskind, J. D. Salinger oder B. Traven augenzwinkernd bemerkt. Auch diese Autoren haben sich als öffentlichkeitsscheue Phantome inszeniert.
So entsteht der Rummel um den großen Unbekannten Moers auch aus dem Bewusstsein heraus, dass sein Porträt in unserer bildergesättigten Zeit weitaus weniger wert ist als das kostbare Geheimnis um seine Person. Dieses Geheimnis ist so wertvoll, weil ein Schnappschuss bei Facebook oder ein Youtube-Video die schöne Schatzsuche jederzeit beenden könnte. Die Demonstration medialer Unverfügbarkeit ist in Zeiten, in denen das Bedürfnis nach publizistischer Öffentlichkeit so groß ist wie heute, ein rares und wertvolles Gut.
Es gibt viele konspirative Vermutungen über die Identität dieses Walter Moers: etwa, dass ein Autorenkollektiv unter dem gemeinsamen „Label“ Moers firmiere; oder dass in Wirklichkeit der Verleger Wolfgang Ferchl der Autor sei. Oder – und das wäre viel zu spektakulär, als dass man es glauben könnte: Walter Moers ist wirklich Walter Moers und schreibt ganz allein diese wundervollen Bücher, die er auch selbst illustriert. Dies wäre vielleicht der größte Skandal von allen.
Kunst-Streit und Streitkunst: Moers und Mythenmetz
So still es um den echten Walter Moers ist, so laut ist der Medienlärm um seine Bücher. Diese werden mit erheblichem Aufwand und viel Gespür für die literarische Öffentlichkeit vermarktet: So liegen in den Buchhandlungen stapelweise Exemplare einer eigens erfundenen Zeitung aus, der Zamonische Kurier, es gibt eine Homepage, einen Facebook-Account und alles andere, was die Herzen der Zamonien-Fans höher schlagen lässt. Dem beharrlichen Schweigen des Autors steht der anhaltende Lärm der unermüdlichen Medienmaschinerie gegenüber.
Lärm ist auch das Resultat der Interviews, die Moers standhaft verweigert. Stattdessen lässt er seine Kunstfigur Mythenmetz zu Wort kommen. In der Fiktion der Romane ist Hildegunst von Mythenmetz, ein sprachbegabter Lindwurm, der Verfasser der zamonischen Texte und Moers fungiert lediglich als Übersetzer.
Im Sommer 2007, rechtzeitig zur Veröffentlichung des Schrecksenmeisters, hat Moers die bisher in den Fußnoten der Romane angesiedelte Auseinandersetzung zwischen dem Autor Mythenmetz und dem Übersetzer Moers in die mediale Wirklichkeit verlegt. Am 18. August begann die Kontroverse mit einem Artikel von Mythenmetz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, worin dieser seinen Übersetzer als „Beutekünstler“ beschimpfte. Moers reagierte darauf mit einer polemischen Entgegnung in der Zeit, Mythenmetz konterte wiederum mit einem wortreichen und aggressiven Fernsehinterview im ZDF („Drachengespräche“), bis schließlich eine zaghafte Versöhnung in dem von Andreas Platthaus moderierten Scheingespräch in der FAZ den Streit vorläufig beilegte.
Worüber stritten sie überhaupt? Mythenmetz beschimpfte Moers als parasitären Poesie-Leichenfledderer, Moers klagte über die Weitschweifigkeit des Literaturlindwurms. Aber der Streit war keine ernsthafte Auseinandersetzung um ästhetische Positionen, sondern eher ein Zanken um des Lärmes willen.
Plagiatspoesie und Kopierkunst: „Leichenfledderer sind wir alle“
Walter Moers ist nicht originell. Er ist ein Kopierkünstler in Schrift und Bild, wie nicht nur seine „Arschloch in Öl“-Kunstparodien zeigen. Auch die Romane erweisen sich als Türen, die in das Labyrinth der Weltliteratur hineinführen. Und die Freude am Labyrinth liegt nicht darin begründet, das Ziel zu finden, sondern darin, sich zu verlaufen. Dieses Verlaufen haben die Romane kultiviert. Zahlreiche Fäden führen von großen und kleinen Artefakten der Literatur- und Filmgeschichte in die Romane von Walter Moers – und vor allem: sie führen auch wieder zurück. Hinter Ensel und Krete entdeckt auch der Nichtakademiker schnell das Grimmsche Märchen von Hänsel und Gretel, hinter dem Schrecksenmeister verbirgt sich Gottfried Kellers Novelle Spiegel, das Kätzchen . Und jenseits dieser offensichtlichen Anleihen lassen sich Elemente aus Mary Shelleys Frankenstein, William Goldmans The Princess Bride oder Ray Bradburys Fahrenheit 451 nachweisen.
Kurzum: Die Zamonien-Romane sind nicht originell, denn sie bieten kein Noch-nie-Gelesenes; stattdessen erwarten den Leser kunstvoll „zamonisierte“ Kopien der Literatur- und Kulturgeschichte. Ein schönes Beispiel für diesen Zamonisierungsprozess stellt Der Schrecksenmeister dar. Moers bedient sich geradezu ausufernd bei Gottfried Kellers Originaltext – allerdings nicht etwa heimlich, sondern mit der lobenden Nennung von Keller im Nachwort.
Mit dem Labyrinth der Träumenden Bücher hat Moers sein poetisches Plagiatsprojekt zielstrebig auf die Spitze getrieben. Das haben die enttäuschten Leser sehr genau wahrgenommen, die in Internetforen über mangelnde Originalität schimpfen, denn originell ist der Roman wirklich nicht: Er erzählt die Geschichte der Stadt der Träumenden Bücher einfach noch einmal und schildert die Reise von Hildegunst von Mythenmetz nach Buchhaim. Allerdings ist diese Selbstplagiierung so offensichtlich, dass man daraus kaum einen Vorwurf stricken kann. Moers fleddert hier nicht mehr die Weltliteratur, sondern kopiert nun seine eigenen Kopien.
Walter Moers mixt – oder „covert“ – alte Stücke aus dem Plattenschrank der Literatur. Er ist der größte Plagiator und Selbstplagiator der Gut(t)enberg-Galaxis. Sein Wahlspruch lautet: „Leichenfledderer sind wir alle.“ Oder wie Mythenmetz den Schrecksenmeister-Roman abschließt: „Und noch etwas, denn ich kann sie schon hören, die Kritiker, die mir angesichts meiner kühnen Bearbeitung Leichenfledderei und geistigen Diebstahl vorwerfen werden. Dazu nur so viel: Das Werk von Gofid Letterkerl ist rechtefrei! Und: Wie kann man etwas stehlen, das allen gehört? Verklagt mich doch!“
Walter Moers hat andere Romane kopiert, entzieht sich fortwährend der skandal- und bildhungrigen Öffentlichkeit, er verweigert den roten Teppich der Prominentengalas und meidet die Blitzlichtgewitter der Regenbogenpresse. Er stellt nicht sich in den Fokus der Fernsehkameras, sondern überlässt den ganzen, warmen Applaus: der Literatur. Das ist originell!
Wer mag da noch sagen, Walter Moers mache irgendetwas falsch?
Die Ausstellung „Die 7 ½ Leben des Walter Moers. Vom Kleinen Arschloch über Käpt’n Blaubär bis Zamonien“ ist noch bis zum 15. September im Deutschordensmuseum und im Kulturforum Bad Mergentheim zu sehen. (www.deutschordensmuseum.de)
Zum Weiterlesen (Auswahl):
Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär. 1999
Wilde Reise durch die Nacht. 2000
Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien. 2001
Rumo. 2003
Die Stadt der Träumenden Bücher. 2004
Der Schrecksenmeister. 2007
Das Labyrinth der Träumenden Bücher. 2011
Alle im Knaus Verlag, München, Informationen unter www.zamonien.de
Gerrit Lembke (Hrsg.), Walter Moers’ Zamonien-Romane. Vermessungen eines fiktionalen Kontinents. V&R unipress 2011. 330 Seiten, 39,90 (als TB 29,90)
Gerrit Lembke, Jahrgang 1979, ist seit 2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Zur Zeit arbeitet er an seiner Promotion („Weltkrieg in Worten. Poetik und Poetologie des Weltkriegsromans im Dritten Reich“) und dem Projekt „Vorlesung mal anders“ (www.vorlesung-mal-anders.de).