Peter Stamm erzählt die alten Beziehungsgeschichten auf neue Weise
Von Oswald Burger
Peter Stamm ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller mit Übersetzungen seiner Werke in viele Sprachen. Der Fünfzigjährige erhielt schon zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt 2012 den Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen und im Februar 2013 den Mainzer Stadtschreiber, der ihm für ein Jahr das Wohnrecht im Gutenberg-Museum sichert. Außerdem gehört er als erster Schweizer zu den zehn Finalisten für den renommierten „Man Booker International Prize“, dessen Sieger am 22. Mai bekannt gegeben wird. Und baden-württembergische Schülerinnen und Schüler lesen seine Erzählung Agnes als Pflichtlektüre für ihr Deutsch-Abitur.
Seine Themen sind die Beziehungen der Menschen: Wie können Paare, Generationen, Familien zusammenleben? Wie fühlt sich ein Leben ohne Partner an? Viele Spielarten von Liebesbeziehungen, Freundschaften und Ehen schildert Peter Stamm an ihrem Beginn, während ihrer Dauer und auch im Scheitern. Das ist zwar kein neues Thema der Literatur, aber wie er erzählt, das ist ganz zeitgenössisch, ganz modern. Seine Bücher handeln präzise in unserer Zeit und erzählen die alten Geschichten neu. Die Blickwinkel sind erkennbar die eines jüngeren Beobachters.
Stamms Geschichten sind exemplarisch und allgemeingültig, aus allen zusammen ergibt sich ein gesellschaftliches Panorama unserer Zeit. Sie halten wenig Trost bereit, verstören und verunsichern eher.
Peter Stamm ist weder Psychologe, Pädagoge noch Seelsorger, er beurteilt und verurteilt seine Figuren nicht, sondern stellt sie vor. Damit ruft er im Leser verschiedene Reaktionen hervor: Identifizierung und Distanzierung sowie Überlegungen, eine andere Perspektive einzunehmen.
Fast alle Geschichten haben einen offenen Ausgang und manchmal herrscht in ihnen eine gewisse Kälte. Stamms Ausdrucksweise ist schnörkellos, präzis und lakonisch, er geht sparsam mit beurteilenden Adjektiven um.
Leserinnen und Leser, die nach Antworten verlangen, werden durch die Leerstellen in den Büchern aufgefordert, diese selbst zu suchen, konstruktiv Problemlösungen zu erarbeiten.
Obwohl es fast immer um das Grundthema der zwischenmenschlichen Beziehungen geht, gleicht keine Geschichte einer anderen. Die Konstellationen und Erzählweisen sind jedes Mal andere, aber immer bedient sich Stamm avancierter Darstellungsmittel, wie wir sie aus der modernen nordamerikanischen Literatur kennen: Als Vorbilder nannte er gelegentlich Ernest Hemingway und vor allem Raymond Carver.
Das erfolgreichste Buch Peter Stamms ist sein Debüt, der 1998 im Arche Verlag erschienene kurze Roman Agnes. Die Handlung führt in die USA, der namenlose Ich-Erzähler ist ein Schweizer Sachbuchautor und hat – vergleichbar dem Autor zu Beginn seiner Karriere – literarische Ambitionen. Seine Geliebte, die Mathematikerin Agnes, erforscht als rationale Naturwissenschaftlerin das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“.
Während des Dreivierteljahres, das die erzählte Handlung zu dauern scheint, findet auf einer zweiten Ebene der Fiktionalität ein anderer Zeitablauf statt: Teils verzögert nacherzählend, teils zeitgleich, teils sogar Künftiges vorwegnehmend, schreibt der Ich-Erzähler nieder, wie er das Geschehene erlebt hat, gerade erlebt und für die Zukunft erhofft oder befürchtet. Agnes reagiert darauf, stimmt manchem zu, missversteht einiges, ist nach der Lektüre irritiert, und vielleicht hat genau der Umstand, dass der Erzähler sich ständig abbildend verhält, schließlich die Beziehung zerstört. Jedenfalls muss er sich bereits im zweiten Satz eingestehen: „Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet.“
Der Ich-Erzähler lässt nur seine eigenen Geschichten gelten, nicht aber die von Agnes, und als der vermeintlich Klügere wirft er ihr vor: „Wie willst du schreiben, wenn du nicht liest?“ Als eingebildeter „poeta doctus“ sitzt er auf den Schultern der literarischen Tradition, ist aber einer unmittelbaren, liebevollen Zuwendung nicht fähig, weil ihm stets literarische Muster aus den vielen Büchern einfallen, die er schon gelesen hat.
Eine Kernpassage des Romans ist die Erkenntnis des Erzählers: „Wir denken, wir leben in einer einzigen Welt. Dabei bewegt sich jeder in seinem eigenen Stollensystem, sieht nicht rechts und links und baut nur sein Leben ab und versperrt sich mit dem Schutt den Rückweg.“
Peter Stamm wurde 1963 in einem kleinen Ort im Thurgau geboren und wuchs im benachbarten Weinfelden auf. Nach einer kaufmännischen Lehre arbeitete er für kurze Zeit als Buchhalter in Paris und studierte danach einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie in Zürich. Seit 1990 ist er freier Autor und Journalist, er schrieb für die Schweizer Weltwoche, die Neue Zürcher Zeitung, Das Magazin und viel Satirisches für den Nebelspalter; Journalistisches publiziert er auch heute noch hin und wieder. Für das Schweizer Radio DRS, Radio Bremen, den WDR und den SWR entstanden sechzehn Hörspiele, stilistisch experimentelle, erzählende und Adaptionen eigener Erzählungen, außerdem wurden acht Theaterstücke an verschiedenen Bühnen aufgeführt. Neben vielen Filmkritiken verfasste Stamm auch vier Filmdrehbücher. Kürzlich veröffentlichte er nach einigen Kinderbüchern einen Jugendroman, Der schweizerische Robinson, in dem er eine alte Robinsonade für die heutige Jugend neu erzählt.
Peter Stamm war schon viel unterwegs, lebte länger in Paris, New York, Berlin und London, in den letzten Jahren führten ihn Lesereisen unter anderem nach China, Mexiko, Russland, Georgien und in den Iran – diese Weltläufigkeit geht spürbar in seine Arbeiten ein.
Peter Stamms zweiter Roman Ungefähre Landschaft von 2001 spielt nördlich des Polarkreises, wo die Protagonistin Kathrine lebt. Langeweile, Trostlosigkeit und Immobilität sind hier, am äußersten Rand der bewohnten Welt, allgegenwärtig und die im Titel beschworene Landschaft spielt als Metapher eine wesentliche Rolle in dem Roman: Kälte und Dunkelheit prägen Kathrines Leben. Wie sie versuchen auch ihre wechselnden Partner aus ihren jeweiligen Welten auszubrechen, ebenfalls vergebens. Kathrine schwankt zwischen dem Wunsch nach Autonomie und der Einfügung in ihr fremdbestimmtes Leben.
Gerade dass Peter Stamm nicht alles erzählt, ist eine hohe Qualität seiner Bücher; am Ende der Lektüre von Ungefähre Landschaft hat man das Gefühl, nicht nur einen Roman gelesen, sondern mehrere miterlebt zu haben.
In seinem dritten, dem 2006 erschienenen Roman An einem Tag wie diesem begleitet der Leser den Schweizer Lehrer Andreas, der in Paris beziehungslos dahinlebt, bis er erfährt, dass er einen Schatten auf seiner Lunge hat. Von da an steht sein Leben im Zeichen des Todes. Nicht zufällig hat Peter Stamm diesen Roman am „Geburtsort“ des Existenzialismus angesiedelt. Er beschreibt die moderne Version des Totentanzes, bei dem die Todgeweihten davonlaufen, ausweichen, sich ablenken und – sehr zeitgemäß – entsprechend viel auf der Straße unterwegs sind.
Der folgende Roman Sieben Jahre von 2009 öffnet einen weiten Horizont. Es geht um unterschiedliche Herkünfte, Erziehungen und Charaktere, die Beziehungen zwischen zwei Liebenden interessant machen oder gefährden können. Und darum, wie eine lang dauernde Beziehung sich erschöpfen kann, denn das Gleichgewicht der für die Liebe notwendigen Nähe und der für die individuelle Entwicklung von Mann und Frau notwendigen Distanz muss immer neu austariert werden. Wenn man späteren Generationen überliefern wollte, wie Menschen der Mittelschicht in den 80er und 90er Jahren lebten, liebten und sprachen, wäre dieser Roman ein gutes Beispiel.
Neben den vier Romanen Peter Stamms liegen vier Erzählbände vor, die Sammlungen Blitzeis (1999), In fremden Gärten (2003), Wir fliegen (2008) und Seerücken (2011). Meine Lieblingsgeschichte in diesem Band – am Bodensee angesiedelt, zwischen Weinfelden und Kreuzlingen – ist „Sweet Dreams“, worin ein Liebespaar beschrieben wird, das auf dem Weg von der Arbeit in der Stadt nach Hause ist. Das Paar wird von einem Fremden im Bus beobachtet, offenbar einem Schriftsteller. Der Text handelt letztlich von der Entstehung von Literatur: Warum erfindet (sich) ein Autor seine Figuren? Wie kommen Figuren in eine Geschichte? Welcher Bezug besteht zwischen Realität und Fiktion? Ist das, was wir als Realität wahrnehmen, nicht schon eine fiktionale Konstruktion? Fragen über Fragen. Statt sie zu stellen oder zu beantworten, erzählt Peter Stamm einfach.
Die Abiturienten in Baden-Württemberg sind derzeit beim sogenannten „Sternchenthema“ mit einem Werk dieses Autors konfrontiert, mit dem Roman Agnes, der alles andere als ein Jugendbuch ist, sondern in einer Welt spielt, in die die jungen Leserinnen und Leser erst hineinwachsen werden. Die Lektüre kann ihnen eine Türe öffnen, sie zeigt Geschlechter- und Verhaltensmuster und endet, wie ihr eigenes Leben hoffentlich noch ist: zukunftsoffen. Schön, dass das Kultusministerium sich für diese zeitgenössische und avancierte Lektüre entschieden hat.
Zum Weiterlesen:
Die Romane Agnes, Ungefähre Landschaft, An einem Tag wie diesem, Sieben Jahre und und die Erzählbände Blitzeis, In fremden Gärten, Wir fliegen, Seerücken sind alle als Fischer-Taschenbücher, teils auch noch als Hardcover im Arche oder S. Fischer Verlag lieferbar.
Hilfreich für Leser, vor allem für Deutschlehrer und Abiturienten, ist die Homepage des Autors: www.peterstamm.ch.
Oswald Burger war lange Berufsschullehrer und lebt nun als Historiker, Kommunalpolitiker und Literaturveranstalter in Überlingen am Bodensee. Er leitet seit 1991 das Literarische Forum in Wangen und hielt am 2. Dezember 2012 die Laudatio auf Peter Stamm, aus der Passagen in dieses Porträt übernommen wurden.