„Unser Uhland“ in Reden von Walter Jens und Hermann Bausinger
Von Wolfgang Alber
Walter Jens, der an Demenz erkrankte Tübinger Rhetoriker, wird am 8. März neunzig Jahre alt. Seine Redekunst ist verstummt, sein Werk indes spricht für sich – und für ihn. Herausgegeben von Hubert Klöpfer, ist zum Geburtstag unter dem Jens-Titel Unser Uhland das erste Bändchen mit zwei „Tübinger Reden“ von Walter Jens und Hermann Bausinger erschienen. Weitere Reden sollen folgen: Die Stadt der Weltethos-Reden und Poetikdozenturen, der politischen Cicerones und wissenschaftlichen Koryphäen bietet reichlich Stoff.
Zum Auftakt also denken Jens und Bausinger über Ludwig Uhland nach, der im 19. Jahrhundert nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich so berühmt war wie Goethe und heute nahezu vergessen ist. In seiner am 26. April 1987 beim Festakt zum 200. Geburtstag Uhlands vorgetragenen Rede nannte Walter Jens den Dichter einen „geradezu dämonischen Schweiger“, den es aber als „noch im Schweigen beredten“ Poeten und Politiker wiederzuentdecken gelte.
Hermann Bausinger nimmt in einer 2012 beim Studium Generale der Universität Tübingen zum 225. Geburts- und 150. Todestag gehaltenen Vorlesung Jens' emphatisch-eingemeindenden Titel „Unser Uhland“ auf, versieht ihn aber skeptisch mit einem Fragezeichen. Jede Epoche, weiß der Kulturwissenschaftler, sucht eigene Interpretationswege; in den seit Jens' Rede vergangenen 25 Jahren hat sich die Sicht auf Uhland und dessen Werk weiter gewandelt. Bausinger wird bei seiner Suche im Text, aber auch im Sub- und Kontext fündig.
Das Diktum vom „hartnäckigen“ Schweiger findet sich zuerst bei Karl August Varnhagen. Friedrich Theodor Vischer spottet, Uhland habe neben Varnhagen auch deshalb schweigsam erscheinen müssen, weil dieser so viel gesprochen habe, „daß Andern blutwenig übrig geblieben sey“. Jens greift diesen Gedanken auf und wiederholt ihn als rhetorische Figur mehrfach: Uhland sei kein geschwätziger romantischer Schwärmer gewesen, sondern nüchtern-witzig, scharfsinnig-präzise.
Als Gewährsleute für Uhlands dichterisches „Verstummen“ werden bis heute Goethe und Heine angeführt. Goethe menetekelt: „Der Politiker wird den Poeten aufzehren.“ Heine beklagt, dass Uhlands Pegasus gerne in die Vergangenheit zurücktrabt, aber vor dem modernen Leben zurückscheut: „Da ist der wackere Uhland abgestiegen, ließ ruhig absatteln und den unfügsamen Gaul nach dem Stall bringen. Dort befindet er sich noch bis auf den heutigen Tag, und […] hat nur einen einzigen Fehler: er ist todt.“
Bausinger weist darauf hin, dass der früh vollendete Uhland „Die Kapelle“ mit achtzehn und die meisten seiner elegischen Gedichte ebenfalls in jungen Jahren schrieb. Er war ungemein produktiv und arbeitete, so entnimmt Jens Uhlands Tagebuch, gelegentlich an einem halben Dutzend Poemen pro Tag. In Uhlands weiterem Leben lassen sich der Dichter, Jurist, Politiker und Wissenschaftler so wenig voneinander trennen wie gegeneinander ausspielen. Der Duktus seiner Reden ist dichterisch, seine Forschungen sind exegetisch genau, nur die Interessenschwerpunkte und Tätigkeitsfelder verschieben sich im Lauf der Jahre. Ein Verstummen ist das jedenfalls nicht.
Uhland war auch kein Modernitätsverweigerer, aber er versagte sich dem Zeitgeist. Scheinbar nostalgisch verklärte er das „alte, gute Recht“ und beschwor wortmetzelnd das Mittelalter – F. W. Bernstein nennt ihn darob „Blutwig Uhland“. Aber der linke Paulskirchenabgeordnete suchte den verfassungsgebenden Monarchen mit einem „Tropfen demokratischen Öls“ zu salben, wurde zum Kämpfer gegen Todesstrafe und Pressezensur, zum Anwalt für die Verbesserung der Volksschulen und die Gleichberechtigung der Juden.
Uhlands Literatur ist nicht gefeit vor politischer Verwendbarkeit. Bei Jens lässt sich nachlesen, dass Uhlands Porträt in Bismarcks Schlafzimmer hing, dass er aber zur gleichen Zeit Glückwünsche von Arbeiterbildungsvereinen erhielt. Bausinger gibt anhand von Jubiläumsdaten Einblick in die Wirkungsgeschichte: 1873 wurde Uhland bei der Einweihung des Tübinger Denkmals als national(istisch)em Dichter gehuldigt, zum 100. Geburtstag wurde er 1887 als Genius Schwabens, gar der Menschheit gefeiert, beim 150. Geburtstag 1937 stilisierte man das Lied „Der gute Kamerad“ zum Heldenmythos. Bausinger rehabilitiert Uhland: „Vom imperialistischen Großdeutschland der NS-Zeit ist er weit entfernt; fast könnte man von einem europäischen Engagement Uhlands sprechen.“
Manches in den Reden von Jens und Bausinger korrespondiert im Ansatz und Gedankengang, aber letztlich unterscheiden sich ihre Texte doch wesentlich – und ergänzen sich deshalb trefflich. Bei Jens überwiegt bisweilen das Pathos und der Anspruch, Uhland vor jenen zu bewahren, die ihn vereinnahmen und missverstehen (wollen): „Ludovicus est homo pro se, Uhland ist ein unvergleichbarer Mensch.“ Aber der volksnahe Dichter und aufrechte Demokrat Uhland ist unser.
Jens preist zwar Uhlands kunstvolle Versstrukturen, doch vom Ansatz seiner Rede her muss er dabei eher abstrakt bleiben. Bausinger indes verbindet Poesie und Person in konkreten Beispielen. Er nähert sich Uhlands Versen mit tiefenpsychologischer Raffinesse, entlockt ihnen Zwischentöne, zeigt die Vielschichtigkeit hinter der Schlichtheit selbst mancher Rollenlyrik. Schon den 23-jährigen Uhland beschleicht das „Todesgefühl“, auch erotische Phantasien projiziert er bisweilen in Träume. Bausinger: „Der Traum spülte zweifellos nach oben, was eine streng moralische Erziehung im Unbewussten abgelagert hatte.“ In Liebesgedichten wie „Der Lauf der Welt“ zeigt sich häufig Uhlands Scheu vor großen Worten, freilich gibt es, so Bausinger feinsinnig, „vergnüglich erregte Konstellationen […], die jenseits des Buchstäblichen liegen und geradezu Sprachlosigkeit fordern“. Und das ist allemal „prickelnder als die erschöpfende anatomische Sondierung menschlicher Feuchtgebiete“.
Unser Uhland also, der in seinem Schweigen gewisse schwäbische Stammes-Charakteristika verkörpert, dessen kantige Physiognomie, wie ihm Vischer in einer wunderbaren Widmung nachruft, auch der schwäbischen Landschaft vergleichbar ist. Und der doch alles andere ist als ein verstockter Stubenhocker mit beschränktem Horizont: eben nicht nur ein Tübinger Spaziergänger, sondern ein weltläufiger Reisender.
Mit einem erzählerischen Kniff bringt Bausinger zum Schluss den wortgewaltigen Jens und den schweigsamen Uhland zusammen; es kommt zur fiktiven Beinahe-Begegnung an der Neckarbrücke. Am Eingang zur Gartenstraße, wo Uhlands (im Zweiten Weltkrieg zerstörtes) Wohnhaus stand, räsoniert ein türkischer Kaffeehausbetreiber gegenüber dem Dichter über die fremdenfeindliche „Schwäbische Kunde“; derweil nehmen sich die Geistesgrößen nur en passant wahr. Uhland notiert: „Erfreuliche Begegnung auf der Brücke – Walter Jens, Erwecker der Antike, Volksfreund und trefflicher Rhetor.“ Und Jens hält fest: „Eben dem wackeren Ludwig Uhland begegnet – großes Erlebnis!“ Unser Uhland – und onser Jens.
Zum Weiterlesen:
Walter Jens und Hermann Bausinger, Unser Uhland. Tübinger Reden. Hrsg. von Hubert Klöpfer. 2013. 80 Seiten, 14 Euro
Ludwig Uhland, Gedichte und Reden. Hrsg. von Hermann Bausinger. Band 14 der Kleinen Landesbibliothek. 2010. 223 Seiten, 14 Euro
Beides Klöpfer & Meyer, Tübingen
Wolfgang Alber, geboren 1948, war langjähriger Redakteur beim Schwäbischen Tagblatt Tübingen und lebt als freier Autor in Reutlingen. Er ist (Mit)herausgeber der Albgeschichten und der Geschichten aus Hohenlohe sowie von Gustav Schwabs Landschaftsbildern in der Kleinen Landesbibliothek bei Klöpfer & Meyer.