Betrachtungen eines Schriftstellers und andere Vorkommnisse

Ein Gespräch mit Joachim Zelter

Von Christel Freitag

Joachim Zelter ist 1962 in Freiburg geboren, hat in Tübingen und Yale studiert und englische Literatur gelehrt. Seit 1997 arbeitet er als freier Schriftsteller an Romanen, Essays, Hörspielen und Theaterstücken. Im Sommer ist sein neuester Roman untertan erschienen.

Wir haben uns zu einem längeren Gespräch in einem Studio des Südwestrundfunks verabredet. Durchnässt, aber gut gelaunt, klopft er an meine Bürotür. Wie immer ist er trotz Regens mit dem Fahrrad auf den Tübinger Österberg gestrampelt. Die nasse Jacke wird zum Trocknen auf einen Bügel gehängt, die tropfende Baseballmütze landet auf meinem Besucherstuhl. Seine Notizen nimmt Joachim Zelter mit ins Studio. Pitschnass und schwer lesbar wellen sich die Blätter auf dem Studiotisch. Aber eigentlich braucht er keine Notizen. Kaum hat er die nassen Papiere abgelegt, sind sie schon vergessen. Mit wachen Augen und offenen Ohren lauscht er meinen Fragen. Seine Antworten sprudeln nur so aus ihm heraus. Seit nunmehr fünfzehn Jahren arbeitet er als freier Schriftsteller in Tübingen. Das ist nicht immer einfach, doch Schreiben ist für Joachim Zelter Lebenselixier.

„Ich hatte einfach die Sehnsucht, zwei oder drei Geschichten meines Lebens literarisch zu fassen, und habe dann die Entscheidung getroffen: Ich werde Schriftsteller, und es wird sich erweisen, was ich dann genau schreibe.“

Möglicherweise wurde ihm die literarische Feinsinnigkeit von seinem Vorfahr, Carl Friedrich Zelter, dem Musiker und Freund Goethes, in die Wiege gelegt?

„Nein, das würde ich nicht sagen. Im Gegenteil, er war eine Portalfigur in meiner Familie, eine Überfigur, der Inbegriff der deutschen Klassik und Unantastbarkeit. Wenn ich schreibe, orientiere ich mich sicher nicht an Carl Friedrich Zelter. Der Akt des Schreibens kommt von ganz anderen Erlebnissen und Impulsen. Wenn ich schreibe, hat das etwas Subversives, Ungestümes, Nicht-Klassisches, Anti-Klassisches geradezu. Ich glaube nicht, dass mir die Literatur in die Wiege gelegt wurde, sondern ich habe sie mir gegen viele Widerstände angeeignet. Vielleicht kam auch der Umstand hinzu, dass ich im Internat war. Da lernt man das Leben kennen.“

Aber der Ahnherr ist ihm vertraut, aus den Briefen zwischen Goethe und Carl Friedrich Zelter erfährt der promovierte Nachfahr viel über dessen Leben.

„In der Doktorprüfung hatte ich ein bisschen Angst vor den Fragen in Germanistik, und prompt war dann auch die erste Frage der Prüfer: Sagen Sie uns etwas über den Briefwechsel Goethe – Zelter! Das hat mich gerettet. Ich finde diesen Briefwechsel sehr interessant, weil man sieht, wie sich eine Beziehung entwickelt, wie sich ein noch relativ unbekannter Mann an einen sehr berühmten wie Goethe annähert, wie dann langsam eine Freundschaft entsteht. In dem Moment, als der Sohn von Carl Friedrich Zelter Selbstmord begeht, ist er Goethe gegenüber zum ersten Mal nicht mehr befangen, sondern schreibt einfach ganz ehrlich seine Trauer heraus. Goethe reagiert sofort mit der Anrede: ,Mein Freund!’ Und dann ist sofort das Du zwischen den beiden da. Daraus kann man viel lernen, nicht weil er mein Vorfahr ist, sondern weil Briefwechsel grundsätzlich interessant sind, wobei ich sagen muss, dass meine Briefe wahrscheinlich interessanter sind.“

In Tübingen hat Joachim Zelter studiert und promoviert, aber seine Gymnasialzeit ertrug er in Schwäbisch Hall und vor allem in Schelklingen.

„Ich war in Schwäbisch Hall zwei, drei Monate auf einem humanistischen Gymnasium und einfach so schlecht in der Schule, dass mir überhaupt nichts anderes übrig blieb, als ins Internat zu wechseln, um dort Abitur zu machen. Also gab es keine andere Wahl. Ich kam in die Urspringschule bei Schelklingen, in ein sogenanntes Landerziehungsheim in der Tradition der Reformpädagogik, vergleichbar mit Salem oder der Odenwaldschule.“

Wenn man Joachim Zelter zuhört, wird man unweigerlich mitgerissen. Seine Gedanken und Erinnerungen überschlagen sich förmlich, besonders wenn er an seine Internatszeit zurückdenkt und sich an die Lehrer erinnert.

„Die Internatszeit habe ich zunächst als sehr, sehr hart erlebt. Aber je länger ich dort war, umso besser, umso humaner, umso freier habe ich es empfunden. Ein neuer Schulleiter hat damals die Schule im Sinn von Gorbatschow erst mal humanisiert, eine Art Perestroika und Glasnost eingeführt. Die Lehrer waren schon sehr besondere, sehr exzentrische Lehrer, an die ich teilweise bis zum heutigen Tag gern denke. Manche waren ein bisschen wie die Hauptfigur im ,Club der toten Dichter’, charismatisch und verrückt. Wenn ich die nicht gehabt hätte, hätte ich wahrscheinlich heute gar kein Abitur.“

Der Ort Urspring und seine Schule, ein ständig zelebrierter Ausnahmezustand, hat den Schriftsteller Zelter geprägt. In seinem Roman Der Ministerpräsident, einer Geschichte über Macht und Moral, trägt der Landesvater den Namen Urspring.

„Bei einem normalen Personennamen hat man immer das Problem, dass man sehr nah an wirklichen Personen oder Politikern ist, also suchte ich einen Ortsnamen. Sicherlich ist der Roman auch eine Parabel auf meine Schulzeit, weil es darin nicht nur um einen Politiker geht, sondern auch um die Frage, warum jemand sich diese Rolle überhaupt zuschreiben lässt: Jemand, der sein Gedächtnis verloren hat, soll jetzt Ministerpräsident werden und wird praktisch wie ein Schüler unterrichtet. Deswegen steht der Name Urspring, Claus Urspring, symbolisch für diese Situation, und es ist eben nicht nur ein politischer, sondern auch ein Schul-, ein Erinnerungs- und Existenzroman.“

Scheinbar wie ein braver Schüler funktioniert Claus Urspring als vorbildliche Politmarionette, bis er die Lust am wahren Leben entdeckt und seinen Parteifreunden im wahrsten Sinne des Wortes davonradelt. Es ist eine bitterböse und streckenweise urkomische Satire.

Für den Internatsschüler Zelter endet die urspringliche Schulsituation mit dem Abitur 1982. In Tübingen beginnt er ohne genaueres Berufsziel mit dem Studium der Politikwissenschaft und Anglistik.

„Heute hat Bildung etwas sehr Funktionales, Utilitaristisches, Ökonomisches. Ich habe noch in diesem ,Humboldtschen Geist’ studiert, und es war mir erst einmal nicht so wichtig, was ich später damit mache. Politik hat mich interessiert und Anglistik sowieso, weil ich schon seit meiner Schulzeit sehr anglophil war, eigentlich Engländer werden wollte. Das war mein Ziel! Wenigstens Engländer werden! Da das aber sehr schwierig ist, habe ich gedacht, na gut, dann studiere ich eben Anglistik in Tübingen. Für mich war dieses Studium mit Theatergruppe und englischen Freunden dann schon so eine Art Paralleluniversum. Ich habe mir diesen Traum erfüllt, ein Maximum an ,Englishness’ zu leben und zu zelebrieren.“

Denkt Joachim Zelter an England, so denkt er unter anderem an die Architektur, die Schönheit der Sprache und Literatur.

„Ich versuche immer noch Engländer zu werden. Das Essen, ja, it’s not that bad. Länder haben eben Stärken und Schwächen: Deutschland hat sicherlich eine Stärke im Bereich der Musik und Philosophie, aber eigentlich eine Schwäche in der Literatur, wenn man von der Fähigkeit ausgeht, weltumspannende literarische Mythen hervorzubringen. England dagegen hat zwar ein schlechteres Essen, aber mit Shakespeare, Wilde, Byron, Swift, Shelley und vielen anderen Weltliteratur hervorgebracht.“

Für Joachim Zelter ist ein guter Roman nicht vordergründig von der Handlung gelenkt, sondern von einer stimmigen, soghaften Sprache, die auch gesprochen, bei Lesungen, funktionieren muss. Die Live-Präsentation seiner Texte ist Zelter mindestens genauso wichtig wie das Schreiben selbst. Nicht umsonst hat er seine literarische Karriere übers Vorlesen begründet und sieht sich oft in der Rolle eines lesenden Schauspielers.

„Ich würde sagen, dass meine Texte sehr geeignet sind, vorgelesen zu werden. Ich glaube, wenn ich jetzt Hermann Hesse laut lesen würde, wäre das schon nicht mehr so mitreißend. Ich reagiere damit auch auf Äußerungen mancher Zuhörer, die bei Lesungen gesagt haben, ja, wenn er nur so gut schreiben würde, wie er liest! Dabei lese ich ja nichts anderes als das, was ich schreibe.“

In diesem Herbst wird Zelter viel aus seinem neuen Buch untertan vorlesen. Schon der Titel macht deutlich, dass er von Heinrich Manns Roman Der Untertan inspiriert wurde …

„… wobei mein Protagonist eigentlich noch untertäniger ist als Heinrich Manns Held Diederich Heßling. Bei Mann haben wir ja immer diese Ambivalenz, dass einer sich nach oben duckt, aber nach unten viel tritt und austeilt. Das ist ein sadomasochistisches Syndrom, während mein ,Untertan’ nur erduldet, bis zur Selbstauflösung untertänig ist.“

Zelters Untertan Friederich Ostertag wächst am Bodensee auf. Er ist ein eher verträumtes Kind, ein Kind des Mittelstandes, ein Urgroßenkel des Spiele-Erfinders „Fang den Hut“.

„Das Spiel habe ich nie gespielt, aber es steht natürlich in gewisser Hinsicht für meine familiäre Erfahrung, dass der Vorfahr Carl Friedrich Zelter uns immer wieder als Inbild und Inbegriff der Familie vorgehalten wurde. Mein Roman spielt in einem Spielwarengeschäft im bürgerlichen Mittelstand am Bodensee, und die Familie definiert sich über ein Brettspiel namens ,Fang den Hut’. Das steht natürlich für eine völlige Harmlosigkeit, in den Zeiten von Playstations ist so ein Spiel ja fast ein Witz. Und es steht für eine Zeit, die längst untergegangen ist und an die sich eine Familie klammert, die langsam untergeht.“

Friederich hat keine Spielkameraden. Mit fünf Jahren wird er eingeschult, ist völlig überfordert, passt sich an, landet tatsächlich im Gymnasium und dann im Internat.

„Er ist eigentlich gestört, traumatisiert, würden die Psychologen sagen. Er überlebt das in gewisser Hinsicht natürlich nur, indem er sich massiv anpasst.“

Friederich erfüllt bis zur Selbstverleugnung die Wünsche seiner Mitschüler und wird dennoch geprügelt. Irgendwie schafft er das Abitur und studiert an der Universität Politologie und Soziologie. Dort trifft er auf von Conti, wird zu dessen unersetzlichem Begleiter und Gehilfen, schreibt ihm die Magister- und dann die Doktorarbeit und betreibt schließlich dessen unaufhaltsamen Aufstieg zum korrupten Machtpolitiker.

Joachim Zelter begleitet seinen modernen „Untertan“ sprachlich brillant und mit beißendem Witz. Auch bei mir im Tübinger Studio sprüht er vor Ideen und Erzähllust und versteht es wunderbar, seine Ideen und Gedanken, seine Erinnerungen und „englischen“ Träume zu vermitteln.

Zum Weiterlesen:

Der Ministerpräsident. Roman. 2010. 192 Seiten, 18,90 Euro (TB 9,90 Euro)

untertan. Roman. 2012. 216 Seiten, 18,90 Euro

Beides bei Klöpfer & Meyer, ebenso die früheren Romane, u. a.: Die Würde des Lügens, Schule der Arbeitslosen oder Die Welt in Weiß. Betrachtungen eines Krankenhausgängers und andere Vorkommnisse.
www.joachimzelter.de

Christel Freitag, geboren 1956 in Bad Kreuznach, arbeitete als Buchhändlerin und studierte dann Schulmusik, Musikwissenschaft und Germanistik in Saarbrücken. Sie arbeitet als Kulturredakteurin beim SWR in Tübingen.