Neuerscheinungen zum Haiku
Von Susanne Stephan
Auch er tut es: Auch Tomas Tranströmer, der schwedische Lyriker und Nobelpreisträger für Literatur 2011, schreibt Haiku – angefangen mit dem Haiku-Zyklus Gefängnis von 1959. Eines der berühmtesten Gedichte des 20. Jahrhunderts, Ezra Pounds „In einer Station der Metro“, ist zwar kein „regelgerechtes“ Haiku, wurde aber – wie Pound selbst beschreibt – unter dem Einfluss japanischer Dichtung von ursprünglich dreißig Zeilen auf zwei verknappt. Rainer Maria Rilke, der japanische Haiku in französischen Übersetzungen kennenlernte, äußerte sich fasziniert von „dieser in ihrer Kleinheit unbeschreiblich reifen und reinen Gestaltung“; sein berühmter, von ihm selbst verfasster Grabspruch wird von vielen als ein Haiku aufgefasst. Jack Kerouac, Autor des legendären Unterwegs, hat „on the road“ auch Hunderte von Haiku in meist freier Form notiert, die in seinem Book of Haikus versammelt sind. Das Haiku mit seinen (meist) drei Zeilen und 5-7-5 Silben gilt als erfolgreichster Kulturexport Japans mit vielen nationalen Haiku-Bewegungen, internationalen Wettbewerben und Kongressen.
In Deutschland wird das Haiku zwar von Lyrikern immer wieder mal als poetische Kurzform verwendet, so von Jan Wagner, Arne Rautenberg oder Durs Grünbein, der seine Eindrücke auf Japan-Reisen in Haiku festhielt. Eine Reaktion auf theorielastige Lyrik, ein neuer Mut zum Bild, das scheinbar einfach aus sich heraus wirkt? Eine auf größerer literarischer Bühne wahrgenommene Haiku-Bewegung und -Diskussion gibt es jedoch nicht. Die Kreise, in denen sich Haiku-Interessierte austauschen, ihre Publikationen und Internet-Foren, existierten lange Zeit ohne Berührung zur allgemeinen Lyrikszene. Jetzt wagt eine Anthologie den Brückenschlag, und die Herausgeber Rainer Stolz und Udo Wenzel waren, wie sie in ihrem Nachwort schreiben, selbst überrascht von der großen Resonanz auf ihren Aufruf. Der jackentaschenfreundliche Band Haiku hier und heute versammelt bekannte und weniger bekannte Lyriker sowie Autoren aus der Haiku-Szene. Formal wie inhaltlich herrscht eine große Vielfalt: zwei oder drei Zeilen, zehn oder siebzehn Silben. Während klassische japanische Haiku-Sammlungen nach den Jahreszeiten aufgebaut sind, folgen die Kürzestgedichte der Anthologie sehr locker einem möglichen Tagesablauf – wie die Haiku überhaupt ideale Begleiter für den Tag sind: Konzentrate, die sich zu größeren Tableaus, philosophischen Fragen, zu Geschichten oder Dramen entfalten.
Der Herausgeber Rainer Stolz hat gerade selbst einen Band mit Haiku-Vogelporträts veröffentlicht (Spötter und Schwärmer), in dem die beschriebenen Vögel erraten werden müssen – die Auflösung gibt es im Anhang. Eine besondere Art, Gedichte zur Schärfung der Wahrnehmung einzusetzen: Schon lauscht man anders.
Volker Friebel, der von Tübingen aus, wo er als Psychologe arbeitet, die Website www.haiku-heute.de betreut, selbst Haiku veröffentlicht und regelmäßig am Tübinger Haiku-Zirkel teilnimmt, führt das auffallende Interesse am Haiku auf eine neue Wertschätzung der Bildhaftigkeit zurück. Es gehe um die Aufmerksamkeit für die Dinge – er spricht gern von „Achtsamkeit“ –, ohne dass die japanischen Traditionslinien eine große Rolle spielen müssen: „Unser Fuji ist der Österberg“.
Die 5-7-5-Regel, die gerade in Deutschland lange und akademisch, mit Hinweis auf die unterschiedliche Funktionsweise der japanischen und deutschen Sprache, diskutiert wurde, habe vor allem bei englischen Autoren und bei internationalen Wettbewerben schon lange keine Gültigkeit mehr. Auch das viel bemühte „Jahreszeitenwort“, das ein Haiku enthalten müsse, sei – wie auch in Japan – längst obsolet, denn zu unserer „Natur“ gehörten alle Phänomene der modernen Welt. Die Deutsche Haiku-Gesellschaft, Dachorganisation für zahlreiche Haiku-Zirkel, öffne sich, so Friebel, seit ungefähr zehn Jahren der internationalen Szene und lasse auch Diskussionen über künstlerische Qualität zu (www.deutschehaikugesellschaft.de; der Link www.haiku.de führt zum Hamburger Haiku Verlag, der unter anderem Josef Guggenmos im Programm hat und einen Kalender herausbringt). Friebel plädiert für eine Definition vom Inhaltlichen her: eine Momentaufnahme mit Tiefenwirkung. Dies erinnert an Lars Gustafssons Definition des Gedichts als eines „Augenblicksartefakts“ mit den beiden Komponenten: besonderer Augenblick, fixiert in einem „gemachten“ Sprachstück.
Man darf vermuten, dass es die Haiku-Szene nicht so gerne sieht, wenn sich Lyriker en passant der Haiku-Form bedienen und weiterziehen, weniger Wert auf die innere Gestimmtheit legen als auf die artistische Variation des Musters. Jan Wagner füllt souverän die Form und holt dabei ein Bild herauf, das nachwirkt: „die weizenfelder / tragen das meer übers land. / kenternder traktor.“ Während Harry Rowohlt ein wenig Ironie in die silbenzählende Naturversenkung streut: „Besonders im Herbst / Vergesse ich, wie viele / Silben ein Haiku“ (beide in Haiku hier und heute). Auf der anderen Seite ist es wichtig, die Grenze zum bloßen Notat zu wahren – und immer wieder, ob von den Haiku-Liebhabern hier oder den japanischen Haiku-Klassikern, an das „Verhältnis zur Welt“ erinnert zu werden, das im Haiku zum Ausdruck kommt und über das sich der Meister-Zeichendeuter Roland Barthes so emphatisch äußern konnte: der Verzicht auf Deutung, das Geltenlassen der (vom Dichter natürlich geschickt gewählten) Phänomene, „das glückliche Einverständnis mit dem Aufleuchten des Realen“.
Wer sich mit der klassischen japanischen Haiku-Dichtung befassen will, findet bei dtv, Reclam und Manesse schöne Editionen. Von den großen Haiku-Meistern ist vor allem Bashô (1644-1694) in Einzelausgaben zu haben. Die Entwicklung im 20. Jahrhundert dokumentiert der neu erschienene Band „Mit den Sternen nächtlich im Gespräch …“; sämtliche Übersetzungen stammen von ehemaligen Professoren für Japanologie in Hamburg. Themen sind die Kriege des 20. Jahrhunderts, das Erdbeben von 1923, Hiroshima, Gefängnisaufenthalte, Armut und Kälte. Von Murakami Kijo stammt folgendes hintersinnige Haiku: „Meine Eltern, / beide haben sie nun / eine Wärmflasche …“. Auch viele Haiku-Dichterinnen sind vertreten. Die lesenswerte, undogmatische Einleitung vermittelt einen guten Überblick von Bashô und Issa bis zu den Richtungskämpfen der Moderne. Umso erstaunlicher ist, dass es keine Anthologie gibt, die Einblicke in die gegenwärtige Haiku-Dichtung in Japan ermöglichen würde.
Der in Osaka lehrende Japanologe Robert F. Wittkamp porträtiert in Kiefernwind und grüne Berge den Wanderdichter Taneda Santôka (1882-1940), der für einen freien Haiku-Stil eintrat. In einem Prosastück beschreibt Santôka, was ein Haiku sein solle und was nicht: „kein Hilfeschrei / und freilich auch kein Gebrüll, / kein langer Seufzer, / und zum Gähnen darf es auch nicht sein, / eher ein tiefes Luftholen. / Ein Gedicht ist ein Atemzug …“
Ob in zehn Silben oder siebzehn – auch die Haiku-Meister haben die Form öfter gebrochen. Über die Frage „Gelungenes Haiku oder nicht?“ kann man herrlich streiten, wie über alle Gedichte, die noch nicht in den Kanon eingegangen sind. Die besten steigen federleicht auf über dem Getriebe der Literatur.
Zum Weiterlesen:
Durs Grünbein, Lob des Taifuns. Reisetagebücher in Haikus. Insel Verlag, Frankfurt a. M. / Leipzig 2008. 131 Seiten, 13,80 Euro
Haiku hier und heute. Hrsg. von Rainer Stolz und Udo Wenzel, mit Illustrationen von Martina Wember. dtv, München 2012. 160 Seiten, 9,90 Euro
Rainer Stolz, Spötter und Schwärmer. Haiku-Vogelporträts. Mit Tuschezeichnungen von Anita Staud. Edition Krautgarten, St. Vith /Belgien 2012. 64 Seiten, 12 Euro
Josef Guggenmos, Rundes Schweigen. Ausgewählte Haiku 1982-2002, Hamburger Haiku Verlag 2005. 96 Seiten, 9,80 Euro
Haiku-Kalender 2013. 100 Haiku aus 10 Jahren. Hamburger Haiku Verlag 2012. 56 Blätter, 18,90 Euro
Haiku. Japanische Gedichte. Übersetzt von Dietrich Krusche. dtv, München 1994 (12. Aufl. 2010). 168 Seiten, 7,90 Euro
Haiku – Japanische Dreizeiler / Haiku – Japanische Dreizeiler. Neue Folge / Tanka – Japanische Fünfzeiler. Drei Anthologien klassischer japanischer Dichter, übersetzt von Jan Ulenbrook. Reclam, Stuttgart. 4 bis 9,95 Euro
Japanische Jahreszeiten. Tanka und Haiku aus dreizehn Jahrhunderten. Übersetzt von Gerolf Coudenhove. Manesse, Zürich 1963 (NA 2004). 408 Seiten, 19,90 Euro
Bashô, Hundertundelf Haiku. Übersetzt von Ralph-Rainer Wuthenow. Ammann, Zürich 2010. 136 Seiten, 12,95 Euro
Bashô, Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland. Übersetzt von Géza S. Dombrády. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 1985 (4. Aufl. 2011). 344 Seiten, 24 Euro
„Mit den Sternen nächtlich im Gespräch …“ Moderne japanische Haiku. Übersetzt von Oskar Beni, Géza S. Dombrády und Roland Schneider. Ostasien Verlag, Gossenberg 2011. 201 Seiten, 18,80 Euro
Kiefernwind und grüne Berge. Der Wandermönch Santôka und das freie Haiku. Übersetzt und erläutert von Robert F. Wittkamp. Verlag Ganzheitlich Leben, Ahrensburg 2011. 300 Seiten mit Kalligraphien von Mineko Sasaki-Stange und Tuschemalereien von Mira Wallraven Ono, 19,10 Euro
Susanne Stephan, geboren 1963, lebt als freie Autorin in Stuttgart. Sie schreibt und veröffentlicht selbst Haiku, die demnächst in einem eigenen Band erscheinen werden (www.susannestephan.de).