Stuttgart liest ein Buch: Sturmflut von Margriet de Moor
Von Astrid Braun
Der Innenhof des Evangelischen Stifts in Tübingen ist an diesem Tag im Mai 2011 überfüllt. Herrlicher Sonnenschein und die duftende Blüte des späten Frühlingstags verleihen dem Auftritt eine besondere Stimmung. Als Margriet de Moor sich aus dem Hintergrund löst, durch die Reihen der Zuschauer schreitet, um auf das kleine Podium zu gelangen, geht ein leichtes Raunen durch die Menge. Noch immer ist die niederländische Autorin eine Augenweide. Sehr aufrecht und vorsichtig, das Gelände ist uneben, begibt sie sich auf die Bühne. Ihr rotes Haar leuchtet in der Sonne, sie ist groß und schlank, dabei grazil und sich ihrer Wirkung durchaus bewusst. Sie nimmt Platz, wird kurz vorgestellt und beginnt aus ihrem neuen Roman zu lesen, Der Maler und das Mädchen. Sie liest auf deutsch, melodisch, mit einem Akzent, so charmant wie bei allen Niederländern. Zwischen den Lesepassagen erläutert sie souverän die wahrhaftig nicht einfache Geschichte ihres Buches, und es sind nicht nur Erklärungen, sondern sie spricht sehr differenziert über ihre Beziehung zum Stoff, über ihre Gedanken und Emotionen während des Schreibens. Allerdings bekommt Margriet de Moor im Lauf der Lesung Konkurrenz: Zwei Amseln tragen im Gebälk des Stifts ein Wettsingen aus.
Der Künstlerroman handelt von einer kleinen Zeichnung, die Rembrandt zugeschrieben wird. Sie zeigt ein junges Mädchen, das, gerade 18 Jahre alt, hingerichtet und zur Schau gestellt wurde, ein Indiz für die besondere Schwere ihrer Schuld: Sie hatte ihre Vermieterin mit dem Beil erschlagen. Das Geschehen ist historisch verbürgt. Aber was veranlasste den Maler zu dieser Zeichnung? Warum hegte Rembrandt, der sein Atelier ja kaum verließ, ein so großes Interesse an der Mörderin, dass er zu ihr eilte, um sie, schon entseelt, zu malen? Die ZuhörerInnen in Tübingen lauschen atemlos, lachen erstaunt, als Margriet de Moor auch berichtet, sie habe, nachdem sie die grausame und erzählerisch schwierige Szene des Mordes an der Vermieterin endlich zu Papier gebracht habe, „sehr gut geschlafen“.
Wie häufig in ihren Romanen geht es um das Verhältnis von Kunst und Leben, beziehungsweise hier um den Blick, den ein Künstler auf den Tod wirft. Wie klein oft die Anlässe für ihre Romane seien, erzählt de Moor an diesem Nachmittag in Tübingen ebenfalls: ein Bild, ein Zettel, ein Blick, eine Nachricht.
Szenenwechsel. Wenige Wochen vor jenem Mai-Nachmittag fällt im Stuttgarter Schriftstellerhaus eine Entscheidung. Seit einigen Monaten hatte sich ein kleiner Arbeitskreis engagierter und leidenschaftlicher Büchermenschen regelmäßig getroffen, um das Projekt „Eine Stadt liest ein Buch“ auch in Stuttgart einzuführen. „One city – one book“ heißt die in Amerika geborene Idee, BürgerInnen einer ganzen Stadt durch ein Buch miteinander ins Gespräch zu bringen. In einigen anderen deutschen Städten wie Frankfurt, Köln, Düsseldorf und Hamburg ist dieses Konzept bereits auf fruchtbaren Boden gefallen.
Die Auswahl des Werkes scheidet allerdings häufig die Geister. Entweder haben sich die Städte auf ein Buch konzentriert, das unmittelbar mit ihrer Geschichte verknüpft ist, sogar von einem bekannten Autor aus der Stadt stammt, oder sie haben sich für ein literarisch und stofflich außergewöhnlich reizvolles Buch entschieden.
Der Stuttgarter Arbeitskreis diskutierte lange, dann lasen alle Mitglieder sich durch die gemeinsam erstellte Liste von dreißig Vorschlägen. Bei der entscheidenden Sitzung nannten die Anwesenden ihren Favoriten, es war Margriet de Moor mit ihrem Roman Sturmflut, erschienen 2006 im Carl Hanser Verlag. Der deutsche Titel des Buches ist eigentlich ein Ärgernis, das wird uns Margriet de Moor bestätigen, denn auf holländisch heißt es De verdronkene (Die Ertrunkene), was andere Assoziationen hervorruft als Sturmflut – ein Titel, der mehr an einen Pro7-Actionfilm erinnert als an ein literarisches Meisterwerk.
Es war eine mutige Wahl, die Überzeugungsarbeit kostet. Denn die erste Frage lautet oft: Was hat Stuttgart mit der Flutkatastrophe in Holland 1953 zu tun? Aber was hätte Stuttgart mit Orhan Pamuk zu tun oder mit Gabriel García Marquez? Mit Rafael Chirbes oder Haruki Murakami, deren Romane zum Beispiel in Köln zur Stadtlektüre wurden?
Anders herum gefragt: Was gewinnt Stuttgart, wenn es einen Roman wie Sturmflut gemeinsam liest? Es ist ein Werk, in dem viele Themen stecken: zuallererst eine Naturkatastrophe, wie wir sie immer öfter erleben. Nur eine Woche nach der Entscheidung für Sturmflut ereignete sich nach dem Erdbeben und dem Tsunami die Kernschmelze in Fukushima. Zum anderen erzählt Margriet de Moor die Geschichte zweier Schwestern und einen Rollentausch mit fatalen Folgen, stellt Fragen nach Schicksal und Zufall, danach, wie sich Identitäten herausbilden, warum eine vergleichsweise kurze Biografie gerundet sein kann, während ein langes gelebtes Leben seltsam unvollendet bleibt. Aber vor allem geht es darum, dass ein literarisches Werk genau wie ein großartiges Bild oder ein Musikstück eine eigene Wirklichkeit ausdrückt, die uns doch unmittelbar einleuchtet und berührt.
„Welchen Grund kann es haben, dass uns ein Musikstück oder ein Buch, das uns gefällt, nicht fremd vorkommt, sondern im Gegenteil etwas von uns selbst zu haben scheint? Ich glaube, dass sich hinter der Empfindung, dass ein Schriftsteller genau die Gedanken und Gefühle formuliert, die wir selbst auch und schon sehr lange haben, mehr steckt als nur das einfach gleiche Empfinden. Das Betrachten eines Gemäldes, das Hören von Musik, das Lesen von Prosa und Poesie: man teilt die Empfindungen dessen, der sie geschaffen hat. Aber welche? Es kann sehr gut sein, dass es die Empfindungen des Malers, des Komponisten, des Schriftstellers während des Schaffensprozesses selbst sind. Die Pinselstriche von van Gogh enthüllen mehr von den Sonnenblumen als die Sonnenblumen selbst.“ Dies formulierte Margriet de Moor in ihrem Essay „Eine Frage des Stimmgebrauchs. Über die Beredsamkeit von Sprache und Musik“.
Sturmflut ist kein historischer Roman, auch wenn Margriet de Moor penibel recherchiert hat, denn es sind eher „Fragen des künstlerischen Handwerks“, die sie beim Schreiben am meisten interessieren. Die Autorin, ausgebildete Sängerin und Pianistin, ist eine Meisterin der Komposition. Das Material, die Sprache, und die Struktur der Erzählung sind es daher, die in allen Büchern Margriet de Moors faszinieren.
Neulich in der Hochschule für Medien bei angehenden BibliothekarInnen: Sie alle haben das Buch gelesen, trotzdem kommt die Diskussion erst schleppend in Gang. Begeisterung herrscht auf der einen Seite, Ablehnung und eine gewisse Langeweile auf der anderen. Aber plötzlich passiert etwas: Die Hauptfiguren Lidy und Armanda werden lebendig, denn sie provozieren offenbar die jungen LeserInnen, die eine in ihrem heroischen Leidensweg, die andere in ihrer endlosen Schleife von Schuld und Reue. Nun reden alle über den Roman, über gedehnte Zeit, über Leitmotive, über die eigenartige Blässe der männlichen Hauptfigur, über Schwestern allgemein, über böse Gefühle, über Rivalität und Neid. Die Zeit verfliegt. Das ist es, was wir, die Organisatoren von „Stuttgart liest ein Buch“, uns wünschen – dass „endlose“ Gespräche die Stadt überziehen.
Inzwischen ist ein sehr schönes, abwechslungsreiches Programm rund um Sturmflut entstanden. Vom 14. bis 26. Mai wird es an jedem Abend Veranstaltungen geben, die sich mit einem Thema des Buches beschäftigen oder Brücken zu anderen Künsten schlagen. Dem Netherlands Business Support Office in Stuttgart und dem Generalkonsulat der Niederlande in München ist es zu verdanken, dass eine Ausstellung zum Thema „Leben am Wasser“ im Rathaus stattfinden wird, in der auch zahlreiche historische Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Jahr 1953 zu sehen sind.
Margriet de Moor kommt für einige Tage nach Stuttgart. Sie freut sich am meisten auf die Eröffnung in der Musikhochschule, auf die Musik und die Begegnung mit den StudentInnen, die sich künstlerisch mit ihrem Roman beschäftigt haben. Obwohl sie die Amseln in Tübingen auch sehr genossen hat.
Die Veranstaltungsbroschüre liegt in allen Buchhandlungen, Stadtbibliotheken und wichtigen Kultureinrichtungen Stuttgarts aus. Außerdem findet man alle Informationen unter www.stuttgart-liest-ein-buch.de.
Zum Weiterlesen:
Sturmflut. Roman. Übersetzt von Helga van Beuningen. Sonderausgabe bei dtv, München 2011. 352 Seiten, 9,90 Euro
Der Maler und das Mädchen. Roman. Übersetzt von Helga van Beuningen. C. Hanser Verlag, München 2011. 303 Seiten, 19,90 Euro
Astrid Braun, Jahrgang 1958, studierte Germanistik und Romanistik. Sie war viele Jahre als Verlagsredakteurin, Literatur- und Kulturjournalistin tätig und ist seit 2005 Geschäftsführerin des Stuttgarter Schriftstellerhauses sowie Projektleiterin von „Stuttgart liest ein Buch“.