Peter Kurzecks „Galvanisier-Anstalt für Zeit, Erinnerungen und jede Art innerer Bilder“
Von Michael Borrasch
„Die Gegenwart, das ist doch nicht einfach bloß jetzt.“ Der erste Satz aus Peter Kurzecks kleiner Frankfurt-Reminiszenz Mein Bahnhofsviertel scheint mit seinem Widerspruch zunächst provokant. Und doch meint es der Autor ernst mit solchen und ähnlichen Behauptungen, die sich an vielen Stellen seines immer weiter ausufernden Werks finden. Seit seinem Debüt, dem 1979 erschienenen Roman Der Nußbaum gegenüber vom Laden in dem du dein Brot kaufst hat Kurzeck ein erinnerungsmächtiges Œuvre geschaffen, in dem er viele (ehemalige) Gegenwartszeiten auferstehen lässt, als wären sie nie vergangen. Einmal durchlebt, bleibt für Kurzeck alles vorhanden und abrufbar. Dass sein jüngster Roman Vorabend tausend eng bedruckte Seiten umfasst, erstaunt daher nicht. Das Werk kam im vergangenen Jahr als fünfter Teil einer auf zwölf Bände angelegten autobiografisch-poetischen Chronik unter dem Titel „Das alte Jahrhundert“ auf den Markt. Im Deutschlandfunk wurde das Vorhaben als ein Projekt gewürdigt, „wie es in der deutschsprachigen Literatur der letzten hundert Jahre kein zweites gegeben hat“.
Wer ist dieser Peter Kurzeck, der lange als „bekanntester Unbekannter“ am Rand breiterer öffentlicher Wahrnehmung schrieb und erst neuerdings in der Mitte des Literaturbetriebs ankommt?
Geboren 1943 im Böhmischen, verschlug es Kurzeck als kleinen Jungen direkt nach Kriegsende in den Westen, Nordhessen wurde zur neuen Heimat. In Staufenberg bei Gießen wuchs er auf, ging mit fünfzehn von der Schule ab, machte eine kaufmännische Ausbildung. Später arbeitete er für die US-Army, unter anderem als Personalchef der deutschen Angestellten und in Gelegenheitsjobs.
Über seine ersten Schreibimpulse, die schon viel von dem später nie mehr versiegenden Mitteilungsdrang ahnen lassen, berichtet Kurzeck in Mein Bahnhofsviertel: „Mit fünfzehn konnte ich das Wort Literatur nicht aussprechen ohne zu stottern und schrieb jeden Tag in meinem Kopf ein ewiges Buch.“ 1979 veröffentlichte der Stroemfeld Verlag – der dem Autor seither über mehr als dreißig Jahre die Treue hält – mit Der Nußbaum gegenüber vom Laden in dem du dein Brot kaufst dann die erste gedruckte „Realie“.
Schon das Debüt, das Momentaufnahmen und Miniaturstudien versammelt, machte Kurzecks Erzählkonzept deutlich. Die Protagonisten sind einfache Leute, die sich in einer bescheidenen Eckkneipe zur Zeit des Wirtschaftswunders einfinden. Drei Figuren ragen aus dem unübersichtlichen Meer der Erinnerungen heraus, doch es bleibt letztlich unklar, inwieweit es sich um Facetten einer einzigen Person, des Autors gar, handelt. „Ach, warum muß es denn immer ein Dialog sein? Laß mich hier mit meinem immerwährenden Schnaps sitzen; mein Zauberglas, das nie leer wird. Draußen ein trüber Tag und wir wollen uns – sowieso untröstlich – Zeit nehmen für deine Geschichte. Viele Wahrheiten. Der Winter ist lang und du kannst sie mir jeden Tag neu erzählen, immer anders und jedesmal wahrer.“ Gesoffen wird viel in diesem Werk, das eine Erinnerungsspur legt, die bis in den Oktober 1958 zurückreicht.
Seinem Erzählverfahren, das auf eine wirkliche Handlung verzichtet, ist Kurzeck bis heute treu geblieben, ja, er hat es inzwischen längst zu seiner „Galvanisier-Anstalt für Zeit, Erinnerungen und jede Art innerer Bilder“ ausgeweitet. Die autobiografische Spur bestimmt weite Teile des Schreibens, und das Erzählen ohne Plot, ohne offensichtliche dramaturgische Struktur, gleicht immer wieder einem Mäandern durch die Zeitläufte. Das, was dem klassischen Romanleser heilig ist, verweigert Kurzeck konsequent. Gerade dadurch hat er zu einem Stil gefunden, den nicht zuletzt eine vielgerühmte musikalische Qualität bestimmt.
Klaus Sander hat vor fünf Jahren mit einer Produktion für seinen supposé-Hörbuchverlag diese Sprachmelodie von Kurzecks stetig fließendem Erinnern für eine CD-Produktion eingefangen. In Ein Sommer, der bleibt erzählt der Autor das Dorf seiner Kindheit – ohne Manuskript entstand eine improvisierte Erinnerung als spontane Beschwörung des Vergangenen. Die Kritik jubelte, sah „medial und gattungsgeschichtlich etwas völlig Neues“ (Hubert Winkels), „ein vor dem Mikrofon improvisiertes Wunderwerk“. 2008 wurde Ein Sommer, der bleibt zum „Hörbuch des Jahres“ gewählt.
Wer je eine Lesung Peter Kurzecks erlebt hat, dem ist dieses spontane Erzählverfahren nicht fremd. Auf jede Zuschauerfrage antwortet der Autor in ausführlichen Assoziationsketten, jede Erinnerung führt ihn zu weiteren. Gefragt, inwieweit diese ausgreifende Form auch als neue Heimatvergewisserung eines Flüchtlingskindes zu verstehen ist, vermutet Kurzeck: „Das kann schon auch eine Erklärung sein.“
Für den Roman Vorabend hat der in Frankfurt am Main und Uzès in Südfrankreich lebende Autor im vergangenen Jahr weitere Anerkennung seiner poetischen Chronik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhalten. Das Buch stand auf der Longlist zum „Deutschen Buchpreis“, wurde auf Lesungen gefeiert und erhielt etliche enthusiastische Besprechungen. Fritz J. Raddatz zeigte sich in einem Interview begeistert: „Ich lese im Moment Vorabend von Peter Kurzeck und bin völlig hingerissen. Er führt sozusagen Uwe Johnson in seiner etwas penetranten Mikroskopie und Grass in seiner barocken Erzähllust zusammen in einen ganz neuen Erzählstrom.“
Immer wieder wird Peter Kurzeck in die Nähe von James Joyce oder Marcel Proust gestellt. Natürlich hinken solche Vergleiche, und doch gesteht man diesem Werk wegen seiner Konsequenz gerne eine ganz einzigartige Dimension zu, wie Rainer Moritz in der Neuen Zürcher Zeitung bemerkte: „Sie erwächst vor allem aus der ganz und gar unverwechselbaren Sprache, die ihr Autor für seine Zwecke gefunden hat. Meisterhaft überbrückt er in seiner Suada die Kluft zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit, baut denkbar einfach wirkende Sätze, die oft abbrechen oder nur aus einzelnen Wörtern bestehen. Pointillistisch entsteht so ein Epochengemälde, und dieser Peter Kurzeck ist ein Glücksfall für die deutschsprachige Literatur.“
Zum Weiterlesen und Weiterhören:
Der Nußbaum vom Laden gegenüber in dem du dein Brot kaufst. 1979. 354 Seiten, 19 Euro
Das Schwarze Buch. Neuauflage 2003. 329 Seiten, 22 Euro
Kein Frühling. Erweiterte Neuauflage 2011. 590 Seiten, 32 Euro
Keiner stirbt. 1990. 276 Seiten (antiquarisch)
Mein Bahnhofsviertel.1991. 78 Seiten, 9 Euro
Romanzyklus „Das alte Jahrhundert“:
Übers Eis. 1997. 326 Seiten, 19,80 Euro (TB Suhrkamp, 10 Euro)
Als Gast. 2003. 432 Seiten, 24 Euro
Ein Kirschkern im März. 2004. 282 Seiten, 19,80 Euro
Oktober und wer wir selbst sind. 2007. 208 Seiten, 19,80 Euro (Hörbuch 2008. 7 CDs, 42 Euro)
Vorabend. 2011. 1022 Seiten, 39,80 Euro
Unerwartet Marseille. Peter Kurzeck erzählt. 2 CDs, 19,80 Euro (neu im April)
Alles im Stroemfeld Verlag, Frankfurt/Basel
Stuhl, Tisch, Lampe. 2004. CD, 18 Euro
Ein Sommer, der bleibt. Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit. 2007. 4 CDs, 34,80 Euro
Da fährt mein Zug. Peter Kurzeck erzählt. 2010. 1 CD, 16,80 Euro
Mein wildes Herz. Peter Kurzeck erzählt. 2011. 2 CDs, 19,80 Euro
Alles bei supposé, Berlin
Michael Borrasch, geboren 1963 in Bremen, lebt als Kulturarbeiter in Ravensburg. Er war u. a. Mitbegründer der „Freunde toller Dichter“ und gastiert als Rezitator mit diversen Programmen zu Autoren des 20. Jahrhunderts.