Eine Frage des Blickwinkels, des Bildausschnitts und der Genauigkeit

Nora Bossong erhält den Peter-Huchel-Preis 

Von Beate Tröger 

Unter den mit dem Bildinventar der Natur arbeitenden Gedichten des 20. Jahrhunderts ist Ted Hughes’ „The Thought Fox“ aus seinem 1957 erschienenen Debüt The Hawk in the Rain eines, das die Wechselwirkung zwischen dem imaginierten sinnlichen Eindruck und dem Prozess des Schreibens atemberaubend zusammenführt. Ein Ich sitzt vor dem Papier und sieht in seiner Vorstellung einen nächtlich-verschneiten Wald, ein Fuchs huscht aus einem Gebüsch heraus direkt in die Vorstellung des Dichters hinein – der aus der Abfolge dieser Gedankenbilder sein Gedicht geformt hat: „the page is printed“.

Von Hughes’ wohl bekanntestem Gedicht führt ein Weg zur Lyrik von Nora Bossong. Wie die Dichtung von Hughes, der zum Zeitpunkt der Entstehens von „The Thought Fox“ etwa so alt war wie die 1982 in Bremen geborene Autorin bei Erscheinen ihres lyrischen Debüts Reglose Jagd 2007 holen sich auch Gedichte Bossongs ihr Bildinventar aus der Natur. Und ähnlich wie „The Thought Fox“ beziehen sich ihre Gedichte dennoch nicht unmittelbar auf die Natur. Landschaft, ganz gleich ob Stadtlandschaft oder ländliche Gegend, erscheint hier als ein von einem wahrnehmenden Ich präzise abgestecktes, imaginiertes und abzutastendes Areal. 

Ein weiterer Echoraum von Reglose Jagd ist die Adoleszenz, etwa in den Gedichten „Turmspringen“, „Am Bootshaus“ oder „Rattenfänger“, in dem man aus der Ferne Franz Josef Degenhardts Schmuddelkinder sieht: „Zwei Jungs traf ich / unterm Brückenbogen nachts, / die pinkelten den Pfosten an und / sagten, dass sie sieben seien, / sagten, dass sie Läuse hätten“, heißt es im Auftakt des Gedichts, das ein geheimnisvolles, alptraumhaftes Szenario imaginiert.  Versatzstücke aus Märchen und Mythen wie der Rattenfänger werden in Bossongs Debüt anzitiert, doch für falsche (Kindheits-)Idyllen ist darin kein Platz.

Mit welcher Ernsthaftigkeit Bossong das Handwerk des Schreibens verfolgt, ließ sich schon vor Reglose Jagd an ihrem schmalen, dennoch gewichtigen Debütroman Gegend von 2006 ablesen. Er erzählt von einer jungen Frau, die mit ihrem Vater, mit dem sie mehr als kindliche Liebe zu verbinden scheint, auf Reisen geht, um ihre Mutter zu besuchen; diese betreibt eine Pension in einer abgelegenen südlichen Gegend, ein – ähnlich wie die Landschaften in Bossongs Gedichten – unsicheres und verunsicherndes Terrain. In der Enge und Hitze der sommerlichen Pension, in der die Erzählerin auf ihre Halbgeschwister trifft, entfaltet sich eine klaustrophobische Atmosphäre, die ein wenig an Ian McEwans Der Zementgarten erinnert. 

Nora Bossong schreibt seit der Schulzeit. Nach dem Abitur bewarb sie sich um einen Studienplatz am Literaturinstitut in Leipzig und wurde angenommen. Wie die Autorin 2009 in einem Interview erzählte, war das erste der drei Jahre eine unglaublich spannende Zeit, ehe das Gefühl aufkam, sich aus der Enge der geschützten Laborsituation wieder befreien zu müssen. Sie studierte anschließend Kulturwissenschaft und Philosophie in Berlin und Rom. Leipzig aber, so Bossong, sei damals vor allem wichtig für ihr Nebenfach Lyrik gewesen. Ihre Dozenten, Brigitte Oleschinski, Norbert Hummelt und Michael Lentz, wurden auf ihre Gedichte aufmerksam und ermutigten Nora Bossong, daran zu feilen. Ohne dieses Interesse von außen hätte sie sich wohl auf Prosa konzentriert, nun aber treibt sie ihre sprachliche Virtuosität in beiden Gattungen voran, begreift es als wechselseitige Ergänzung. 

Als dann 2009 Webers Protokoll erschien, feierte die Kritik praktisch einhellig diesen Roman über einen Deutschen, der während der Zeit des Nationalsozialismus als Diplomat in Italien tätig ist. Weber unterstützt in Deutschland verbliebene Juden bei ihrer Flucht, weil er sich Vorteile davon verspricht. Er veruntreut Geld und gerät in große Bedrängnis. Kühl komponiert und sorgsam recherchiert, umkreist Webers Protokoll die Frage, ob für Opportunisten und Mitläufer des nationalsozialistischen Regimes moralisches Handeln im Falschen möglich war – eine Frage, die über das historische Setting des Romans hinaus weiterbrodelt. 

Wie häufig in Bossongs Texten ist in diesem Buch deutlich die Instanz erkennbar, die das Geschriebene reflektiert. In Webers Protokoll wird sie versinnbildlicht durch das Schachspiel und ausgetragen in der Rahmenhandlung, in der eine junge Frau und ein älterer Herr über Webers Verhalten in Streit geraten. 

Solches Ineinanderspiegeln von Anschauung, erzählerischem Gestus und Reflexion findet sich auch in Sommer vor den Mauern, dem zweiten Gedichtband Nora Bossongs, für den sie nun mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wird. Der Titel bezieht sich auf die römische Basilika San Paolo fuori le Mura, in der die Besucher unter einer Reihe kreisrunder Mosaikporträts der Päpste vorbeigehen: „Mancher bleibt stehen und blickt hinauf, andere nehmen die Gesichter nur aus den Augenwinkeln wahr, diese seltsamen Kreise, halb Ornament, halb Pontifizes-Herbarium“, ist in den Anmerkungen zu lesen. Anders gesagt: Die Sicht auf die Welt ist stets eine Frage des Blickwinkels, des Bildausschnitts und der Genauigkeit des Wahrnehmenden. 

Große Genauigkeit prägt die in acht Abschnitten gruppierten 64 Gedichte, die Religion und einmal mehr auch Regionen in den Fokus nehmen. Mehrere von ihnen sind inspiriert von Bossongs Aufenthalt im Kloster Wennigsen im Rahmen eines literarischen Projekts, das es vierzehn Autorinnen ermöglichte, einige Zeit in niedersächsischen Klöstern zu verbringen. Auch Reisen nach New York und Nanjing gaben Impulse, Italien sowie die Gegend um Bossongs Geburtsort Bremen, die in „Besetzte Bezirke“ im Zentrum steht, sind ebenfalls Schauplätze. Einmal mehr dominiert in diesem Band der ruhige, überlegte Ton, der schon Reglose Jagd bestimmte. Die Gedichte wirken auf den ersten Blick selbstverständlich. Bei genauerem Hinsehen werden die Verdichtungen deutlicher, wird durch die Anmerkungen klar, welche Metamorphosen die Realien, auf denen die Verse gründen, im Schreibprozess durchlaufen haben.

Dass in Bossongs Gedichten ein Ich spricht, das sich seiner sprechend gewiss wird, zeigt sich beispielsweise in „Ararat“. Der Berg, auf dem angeblich Noahs Arche strandete, wird zum Vergleichspunkt für das Ich, das von einem Hausdach aus eine Sintflut betrachtet, die nach einem heftigem Sommerregen Europa überschwemmt. Die Arche, im Alten Testament Zeichen des Bundes zwischen Gott und den Menschen, zerschellt vor den Augen dieses Ichs am Ararat. Durch die Fluten treiben Menschen, „vergessene Tiere, phantastische Insekten“. Katastrophisch geht es zu, man darf an den Klimawandel, im übertragenen Sinne an Überflutungen durch die Geschichte oder Daten denken. Doch das Ich, Zeuge der Katastrophe, „genügt sich selbst“ und registriert: „Tauben flogen um mich. Es wurde Herbst.“ Rettung in Gestalt der Tauben und ein Ende, das durch den Herbst angedeutet ist, stehen für einen Moment nebeneinander. Wenngleich ohne konkretes Heilsversprechen, darf man aus diesem Gedicht eine kluge Verteidigung dichterischer Subjektivität, ein Plädoyer für lyrisches Sprechen in aufgeklärt-finsteren Zeiten ablesen.  

 

Zum Weiterlesen: 

Gegend. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2006. 128 Seiten, 16,90 Euro

Reglose Jagd. Gedichte. Zu Klampen, Springe 2007. 48 Seiten, 17 Euro

Webers Protokoll. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2009. 320 Seiten, 19,90 Euro

Sommer vor den Mauern. Gedichte. C. Hanser Verlag, München 2011. 96 Seiten, 14,90 Euro 

Der Peter-Huchel-Preis 2012 wird am 3. April in Staufen im Breisgau an Nora Bossong verliehen. 

Beate Tröger, 1973 in Selb/Oberfranken geboren, studierte Germanistik, Anglistik und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft in Erlangen und Berlin. Sie lebt heute in Frankfurt am Main und arbeitet als Literaturkritikerin vor allem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den FREITAG.