Eine Familiengeschichte
Von Astrid Braun
Dass die Kärntnerin Maja Haderlap mit einem Auszug aus ihrem Debütroman Engel des Vergessens den Ingeborg-Bachmann-Preis 2011 gewann, war für viele keine wirkliche Überraschung. Ein typischer „Gewinnertext“, urteilten einige der Anwesenden, mit gängigen Themen wie Familie, Minderheit und Vergangenheitsbewältigung.
Es ist nicht ganz einfach, sich einem Roman zu nähern, der so in eine Schublade gesteckt wird; das Laub früher Lorbeeren wird dadurch schnell trocken.
Maja Haderlap, Jahrgang 1961, erzählt tatsächlich eine Familiengeschichte, ihre eigene. Und die fängt dort an, wo die meisten Familiengeschichten anfangen, am Rockzipfel der Mutter und Großmutter. Im Geruch der Küche, des Schweinestalls, im surrenden Gelb des Bienenhauses. Doch es handelt sich nicht einfach um eine Bauernfamilie aus Kärnten, sondern um eine slowenische Bauernfamilie. Sie ist Teil der slowenischen Minderheit in Kärnten, die im Zweiten Weltkrieg fast ausgerottet wurde, weil große Teile zu den Partisanen übergelaufen waren und gegen die Nazis kämpften. Die slowenischen Partisanen hielten den österreichischen Landsleuten mit ihrem Widerstand gewissermaßen den unangenehmen Spiegel der Zivilcourage vor. Das hat Nachwirkungen bis in die Gegenwart, denn auf Beschämung reagiert man – auch als Nation – gern mit Aggression oder Verdrängung.
Die Autorin erzählt konsequent in der Ich-Form und dennoch aus unterschiedlicher Perspektive. Die frühen Kindheitserinnerungen sind aus Sicht des Kleinkindes geschrieben und bergen eine Fülle synästhetischer Eindrücke, die Haderlap mit der Sicherheit und Eleganz einer Lyrikerin in Worte fasst. „Kaum setzt sie (i.e. die Großmutter) sich in Bewegung, folge ich ihr. Sie ist meine Bienenkönigin und ich bin ihre Drohne. Ich habe den Duft ihrer Kleidung in der Nase, den Geruch nach Milch und Rauch, einen Hauch von bitteren Kräutern, der an ihrer Schürze haftet. Sie gibt mir den Rundtanz vor und ich tänzle ihr nach. Ich passe meine kleinen Schritte ihren schleppenden an, ich summe eine zarte Melodie aus Fragen und sie spielt den Bass.“
Mit dem Älterwerden des Kindes wird der Ton zunehmend selbstreflexiv. Es werden Beziehungen zwischen Ereignissen geknüpft; die Erinnerungen der Großmutter an ihre Zeit im KZ Ravensbrück und die Erlebnisse anderer verfolgter Slowenen fließen in die Erzählung ein. Mit dem Erwachsenwerden wird der Ton belehrend. Das ist inkonsequent, im letzten Fünftel des Romans sogar störend, weil die Botschaft zu laut wird und die Erzählung zur Seite drängt.
Aber wie die Erzählerin Kindheit und Jugend ausschreitet und die schwierige Beziehung zu ihren Eltern ergründet – das ist unwiderstehlich. Haderlap zimmert einen poetischen Resonanzboden, der die Schwingungen der Seele in großer Intensität verstärkt.
Nur in Ansätzen geht es ihr um die Darstellung einer glücklichen Kindheit, denn vor allem berichtet Maja Haderlap von der Vorgeschichte derer, die sie auf die Welt gebracht und aufgezogen haben, von Verletzungen, unglaublicher Schmach, Angst, Verfolgung und Tod. Ein Kind, das so lebhaft mit der Vergangenheit verbunden ist, geht in der Gegenwart auf wackligen Beinen, ist eine „durch die Zeiten Geschleuderte“, trägt die Last der Versehrten. Das gilt auch für die Muttersprache der Autorin: Als Kind sprach sie nur slowenisch, auf der Schule lernte sie dann deutsch, blieb aber der Heimat verbunden, verfasste Gedichtbände auf Slowenisch, bis das Deutsche mehr und mehr die Sprache der Kindheit verdrängte.
So ein Reisen durch die Sprachen ist immer auch ein Reisen durch die eigene Identität. „Ist man einmal aus einer Sprache in die andere geglitten, kommt man auch selbst ins Rutschen und weiß nicht, ob diese Reise je an einen sicheren Ort führen wird“, schreibt Maja Haderlap.
Die Landschaft, die sich ihr einprägte, hat einen tödlichen Untergrund. Wenn sie durch die geliebten Wälder ihrer Kindheit streift, erforscht sie auch das Unterholz, in dem blutige Partisanengefechte stattfanden. Dieser Untergrund gewichtet ihr persönliches Erleben und entzündet ihr Wortfeuer – eine metapherngesättigte Sprache. Nur die Literatur vermag das Vergangene und das Gegenwärtige in eine sinnvolle Beziehung zu setzen, den verborgenen Zwischenraum zu restituieren. Diese Fähigkeit, das innere Erleben gleich einer Landschaft zu schichten, die Verwerfungen der Topografie zu erklimmen, macht die große Stärke des Romans aus.
Am 18. Januar liest Maja Haderlap auf Einladung des Stuttgarter Schriftstellerhauses in der Stadtbibliothek am Mailänder Platz.
Maja Haderlap, Engel des Vergessens. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 288 Seiten, 18,90 Euro