„wenigstens bin ich unkorrumpiert durch den Betrieb gekommen“
Der Schriftsteller und Heidelberger Stadtführer Michael Buselmeier
Von Gabriele Weingartner
Unter die sechs Finalisten hat die Jury des Deutschen Buchpreises Michael Buselmeier mit seinem Theaterroman Wunsiedel eingereiht: Das ist eine Wertschätzung, die hoffentlich dazu beiträgt, dass der Heidelberger Poet und langjährige Stadtführer endlich aus seiner Regionalhaft entlassen wird, in die ihn so viele reflexhaft verweisen. Zu wünschen wäre, dass sich jetzt gleichfalls das Klischee vom Altachtundsechziger und ehemaligen Revoluzzer verflüchtigt. Hat sich Buselmeier doch längst vom egozentrisch und offensiv auftretenden in einen introvertierten Dichter verwandelt, zu einem formbewussten und skrupulösen Poeten.
Tatsächlich trug Michael Buselmeier über Jahrzehnte lange Haare. Irgendwann aber begegnete er auf irgend einem deutschen Bahnhofsvorplatz einem langhaarigen, älteren Mann, dessen Aussehen ihm zu denken gab, wie er selbstkritisch und witzig in einer Glosse kundtat, und zog die Konsequenz. Zur nächsten Veranstaltung im Künstlerhaus Edenkoben erschien er mit akkuratem Schnitt – ein Raunen ging durchs Publikum.
Diese Wandlung sei gewiss nur äußerlich, meinten damals jene, die ihn nicht näher kannten. Deswegen würde er in Zukunft nicht weniger schroff und gnadenlos ehrlich auftreten. Dass der Imagewechsel nicht zufällig geschah, zeigte sich jedoch spätestens in Buselmeiers 2003 erschienenem Roman Amsterdam. Leidseplein. Dort konnten sich seine Leser endgültig davon überzeugen, dass der Schriftsteller, der 1981 seine literarische Laufbahn so fulminant mit dem Suhrkamp-Bändchen Der Untergang von Heidelberg begonnen hatte, kein „dazwischenschreiender“ Linker mehr war, ja nicht einmal ein Linksliberaler und schon gar keiner, der sich politisch korrekt äußerte.
Im Gegenteil: In der Maske seines durch Amsterdam streifenden Ich-Erzählers – eines alternden, etwas larmoyanten Literaturstipendiaten – hadert der ehemalige Studentenführer, der einstmals Poesie und Sozialismus vereinen wollte, mit der Wirklichkeit der Grachtenstadt, erregt sich über Obdachlose und Rauschgiftsüchtige, Diebe, Zuhälter und Strichjungen, über Halbwüchsige, die vor seinen Augen rülpsen, kiffen und kotzen. Und er geißelt in einer hochreflexiven Abrechnung mit sich selbst und seiner Generation die bedenkliche Grenzenlosigkeit der Toleranz und die Perversion der einstigen Gleichheitsideale. Natürlich tut er dies ungleich differenzierter als der 2004 ermordete Theo van Gogh, der ebenfalls über Amsterdams Entwicklung wütete. Zwar löste Buselmeiers Amsterdam-Roman in der linken Wochenzeitung Freitag eine Leserbriefdebatte aus, doch hat man seine vermeintlich so plötzliche Entpuppung als Wertkonservativer danach ganz schnell wieder verdrängt und – in den Feuilletons zumindest – nicht wahrhaben wollen.
Nicht zuletzt seine 1988 mit Verve begonnenen literarischen Heidelberg-Führungen hätten ihn „schleichend“ dazu gemacht, sagt Buselmeier selbst. Wuchs doch mit der Intensivierung seiner stadthistorischen Kenntnisse auch das Gefühl, seine Stadt „gegen alle möglichen Zerstörungsinteressen“ verteidigen zu müssen. Durch die Beschäftigung mit der deutschen Kulturgeschichte habe er auf einmal gemerkt, dass die „nationalen Kulturgüter gefährdet, wenn nicht gar schon verloren“ seien, und zwar nicht nur durch die „amerikanische Kulturindustrie“, sondern auch durch dieses nicht enden wollende „multikulturelle Wurstigkeitsgerede“, das alle Unterschiede nivelliere. Ja, sagt der Autor, ohne im entferntesten in Nostalgie zu verfallen, er sei damals eine völlig neue Art von Stadtführer gewesen, ein „linker Held“ auf romantischen, faszinierend erkenntnisträchtigen Spuren. Die konservative Utopie, die sich hinter seinen immer ausführlicher werdenden Exkursionen verbarg und dann erst im Landroman Schoppe von 1989 so richtig zeigte, habe freilich niemand zur Kenntnis genommen. Seine „Sehnsucht nach dem Rückschritt im Fortschritt“ sei unerkannt geblieben.
Buselmeiers Führungen allerdings sind Kult geworden: der lange, dünne Poet – früher noch mit wehender Mähne – inmitten von Kulturtouristen, Feuilletonisten und Bildungsbürgern, die sich widerstandslos seinem forschen Schritt anpassen. Sogar der germanistisch vorgebildete John Le Carré ließ sich den Stadtethnologen nicht entgehen, als er einen seiner Roman-Helden für einen Kurzauftritt in der Neckarstadt präparieren musste. Dass man die Literarischen Führungen durch Heidelberg, diese „Stadtgeschichte im Gehen“, bald auch lesend genießen konnte, war jedenfalls ein Glück, und man würde sich etwas derartig Anspruchsvolles auch für andere kulturhistorisch bedeutende Städte wünschen. Wobei Buselmeiers Kunst, die örtlichen Genien herbeizurufen, vermutlich kaum übertragbar ist: Zwischen Zärtlichkeit und Respektlosigkeit oszillierend, zaubert sie in punktgenauer Empathie nichts weniger als eine vergangene geistige Welt herbei, die einen die durch die Altstadt wehenden Wurst- und Pizza-Düfte glatt vergessen lässt.
Auch die Veranstaltungen unter dem Titel „Erlebte Geschichte erzählt“, das heißt, die insgesamt achtzig biografisch orientierten Gespräche, die Buselmeier seit 1994 mit Heidelberger Persönlichkeiten – Hans-Georg Gadamer, Robert Häusser, Wilhelm Genazino oder Jan Assmann, um nur die bekanntesten zu nennen – geführt hat, sind inzwischen in vier Bänden niedergelegt und unglaublich spannend zu lesen. Natürlich verdanken sie sich gleichfalls dem Bedürfnis, Geschichte zu bewahren und, so kritisch wie unsentimental, Erinnerungen festzuhalten. Nun ist Ende September der leider letzte Band dieser vom Kulturamt der Stadt Heidelberg herausgegebenen Reihe vorgestellt worden. Darüber ist Buselmeier genauso untröstlich wie über das Ende der „Edition Künstlerhaus Edenkoben“, in welcher er seit 1995 Gedichte und Kurzprosa von Autoren herausgab, die als Vorlesende, Stipendiaten oder Teilnehmer an der „Poesie der Nachbarn“-Werkstatt irgendwann dort aufgetaucht waren.
Jetzt ist der Autor also mit Wunsiedel für den Deutschen Buchpreis nominiert, mit einem Roman, nicht mit einem Lyrikband, obgleich Buselmeier eigentlich ein in der Wolle gefärbter Natur- und Seelenphänomenologe ist und kein Realist, der mit Humor und Arglist Romanfiguren ausklügelt und entschlossen durch die Zeitläufte schickt. Diejenigen, die sich in Buselmeiers Poesie vergruben, seinen Gedichtband Lichtaxt liebten, seine Ode an die Sportler oder den hochkomplexen Dante-Zyklus, der vor kurzem in der Literaturzeitschrift Sinn und Form erschienen ist, sich mit ihm im frühen Gedichtband Erdunter in die „Höhlen der Kindheit“ und damit in die verstörenden Höllen der Nachkriegszeit begaben, haben dagegen Jahr für Jahr darauf gewartet, dass man ihm endlich den „Peter-Huchel-Preis“ verleihen würde oder einen vergleichbaren wichtigen Lyrik-Preis.
Ein des Kungelns so abholder Mensch wie Buselmeier, einer, der im Gespräch anlässlich seines 70. Geburtstags so resigniert wie fröhlich „wenigstens bin ich unkorrumpiert durch den Betrieb gekommen“ ruft, gewinnt freilich nicht so leicht Literaturpreise. Insofern war der Ben-Witter-Preis 2010 eine Art Dammbruch, obwohl Ulrich Greiner in seiner Laudatio Buselmeiers Poesie so gut wie unberücksichtigt ließ. Zur Sprache kam freilich seine Widerständigkeit gegen den Zeitgeist, die aus dem einstmals rebellierenden Schriftsteller ganz ohne Gesichtsverlust einen Mentalitäts- und Heimatforscher machte, der „tiefenscharfe Erkundungen deutscher Gemütszustände“ liefert.
Dass sich nun in Wunsiedel die Geburt eines Poeten ereignet, passt trotzdem gut ins Bild; wenngleich dieses eher Künstlerroman als Theaterroman zu nennende Buch sich unter den Finalisten seltsam fremd und unangepasst ausnimmt. Die darin zurückgeholten schlechten Erfahrungen als Schauspieler und Dramaturg bei den Luisen-Festspielen im Zonenrandgebiet-Städtchen jedenfalls sind für den Ich-Erzähler – der wiederum Buselmeiers Alter Ego ist – nicht annähernd so prägend wie die Begegnungen mit Jean Pauls „kosmischen Gegenbildern“. Sie bieten dem verstörten jungen Mann „Schutz- und Lebensmöglichkeiten“ und markieren den Beginn seiner Dichterwerdung.
Später wird dieser Dichter dann die wunderbarsten autobiografischen Erzählungen – Spruchkammer etwa oder Die Hunde von Plovdiv – schreiben, von denen in Wunsiedel natürlich nicht die Rede ist, die den Lesern aber dringlich anempfohlen seien. Gefasst in eine ruhige, bisweilen sogar lakonisch bildhafte Sprache, die neben das Grauen die Selbstironie stellt und neben das Dunkle und Unbenennbare das Licht der verinnerlichten, gelegentlich sich flapsig äußernden Aufklärung, obsiegt darin immer die Melancholie. Das heißt, jenes nicht revidierbare Wissen um die Heillosigkeit des Menschen und sein Unbehaustsein in der Zeit.
Zum Weiterlesen (Auswahl):
Wunsiedel. Theaterroman. 2011. 158 Seiten, 18,90 Euro
Erlebte Geschichte erzählt 2005–2010. Hrsg. von der Stadt Heidelberg. 260 Seiten, 20,50 Euro
Literarische Führungen durch Heidelberg. Eine Stadtgeschichte im Gehen. 3. Aufl. 2007. 406 Seiten, 24,80 Euro
Lichtaxt. Gedichte. 2006. 64 Seiten, 13,50 Euro
Amsterdam. Leidseplein. 2003. 176 Seiten, 18,90 Euro
Die Hunde von Plovdiv. Bulgarisches Tagebuch (1997). 1999. 64 Seiten, 13,50 Euro
Ode an die Sportler. 1998. 112 Seiten, 14,50 Euro
Ich rühm dich Heidelberg. Poem in sechs Gesängen. 1996. 77 Seiten, 14,50
Spruchkammer. Erzählungen. 1994. 128 Seiten, 18,50 Euro
Erdunter. Gedichte. 1992. 88 Seiten, 14,50 Euro
Schoppe. Ein Landroman. 1989. 180 Seiten, 15,20 Euro
Alle im Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg (www.wunderhorn.de)
Gabriele Weingartner ist 1948 in Edenkoben geboren und lebt als Kulturjournalistin, Literaturkritikerin und Schriftstellerin in Berlin. Im Herbst 2011 erschien ihr Roman Villa Klestiel im Limbus Verlag.