Würfel für Wissen, Erkenntnis und Begegnung

Ein Rundgang durch die neue Stadtbibliothek am Mailänder Platz

 

Von Irene Ferchl

 

I. Anblick – die Baustelle

 

„Jetzt sind wir Pioniere“, sagt Ingrid Bußmann, noch Direktorin der Stadtbücherei im Wilhelmspalais, bald der neuen Stadtbibliothek am Mailänder Platz. Sie meint an diesem Juli-Tag, ein knappes Vierteljahr vor der Eröffnung, gar nicht den riesigen Kubus, der demnächst einer der modernsten Orte für fast eine halbe Million Bücher und Medien, ein „Haus des Wissens und der Kultur“ sein soll, sondern das Umfeld. Eine Brache zwischen Heilbronner Straße und Bahngeleisen, mit mal schlammigen, mal staubigen Zugangspisten, voll von Baustellenfahrzeugen, Kränen, Containern und Abschrankungen, ein Gelände also, das noch nichts von dem künftigen Glanz eines Europaviertels ahnen lässt, von Mailänder, Budapester und Stockholmer Platz, Londoner und Lissaboner Straße. Als „Solitär, der sich als Kubus auf sich selbst bezieht“, geplant, wird die Bibliothek das erste öffentliche Gebäude des Viertels sein, dort aber hoffentlich nicht allzu lange alleine bleiben. Immerhin: die Moskauer Straße als Zufahrt vom Hauptbahnhof her ist asphaltiert, der Steg von der Stadtbahn-Haltestelle Türlenstraße soll demnächst gebaut werden. Und um den Betonwürfel sprießt schon ein bisschen Gras für den – das ursprünglich konzipierte Wasserbassin ersetzenden – Rasen.

Auch von Nahem wirkt der Bau monumental, aber weniger wie „Stammheim zwei“, als das ihn skeptische bis ablehnende Stuttgarter BürgerInnen bezeichnen, eher wie eine Pyramide oder ein Tempel, auf deren Inneres man neugierig ist.

Es sei „kein glatter Entwurf, sondern ein Haus mit Charakter, an dem man sich reiben kann“, hieß es 1999 in der Begründung für den ersten Preis des Architekturwettbewerbs, „eine mögliche Landmarke in der Topografie öffentlicher Räume in Stuttgart“. Wer in diesen Tagen die weiße Schutzplane an einer der Fassaden sieht, mag ahnen, dass Christo dieses Gebäude vielleicht gern verpacken würde – und was der Architekt Eun Young Yi im Sinn hatte, als er von einem „geschliffenen Edelstein“, einem „kristallinen Monolith“ sprach.

 

II. Einblick – das Konzept

 

In den 44 mal 44 Meter großen und knapp 40 Meter hohen Quader führen vier Eingänge hinein; die Symmetrie setzt sich innen fort – an ein Mühle-Spiel erinnert dies Ingrid Bußmann. Im Erdgeschoss werden die BesucherInnen den Empfang und erste Informationen finden, die Terminals für Ausleihe und Abgabe der Medien, Sitzplätze zur Zeitungslektüre und Recherche sowie sechzehn Großbildschirme für digitale Netzkunst und abgefilmte Autorenlesungen. Zu sehen ist bereits die eigens entwickelte Mediensortieranlage, zu der auch der automatische Transport über alle neun Etagen gehört. Zwölf Stunden, von 9 bis 21 Uhr, an sechs Tagen der Woche wird die Stadtbibliothek geöffnet sein, aber wem diese langen Öffnungszeiten noch nicht genügen, der kann, wie schon bisher, die Nachtrückgabe nutzen und neu die „Bibliothek für Schlaflose“: eine im Windfang bereitgestellte Auswahl von Nachtlektüre.

In der Mitte des Gebäudes, vom Erdgeschoss betretbar, erhebt sich das sogenannte „Herz“: ein vierzehn Meter hoher Raum als Würfel im Würfel, der von einem zentralen Oberlicht beleuchtet wird. Ob man der Assoziation an das Pantheon folgen mag oder nicht: In seiner Dimension und zweckfreien Leere, unmöbliert, nur mit einem Wasserspiel in der Mitte, kann er ein Ort der Meditation, des Innehaltens, des bloßen Raumerlebens sein, wie Ingrid Bußmann erläutert.

Um das „Herz“ herum erschließt das Treppenhaus die nächsten Stockwerke, Fenster ermöglichen immer wieder den Blick hinein, und man staunt über den Luxus dieses Freiraums – allerdings vergrößert sich die Zentrale der Bücherei ja um mehr als das Dreifache auf 20 000 Quadratmeter. Endlich kann auch die lange ausgelagerte Musikbücherei wieder untergebracht werden und dies gleich im ersten Obergeschoss. Das zweite wird die Kinderbücherei beherbergen, das dritte die Abteilung „Leben“ mit den Themen Psychologie, Medizin, Pädagogik, Religion, Philosophie, zudem Sport und Freizeit, Haus und Garten. Auf jeder Etage werden Bücher und andere Medien – Tonträger, Noten, CDs, DVDs, Zeitschriften – präsentiert, bieten Auskunftsplätze Fachberatung, gibt es Ruhezonen zum Lesen, Ecken zum Arbeiten sowie Gruppenräume für informelle Treffen oder Expertensitzungen, die nach Jella Lepman, Marie von Linden, Carl Engelhorn, Johannes Poethen und Max Horkheimer benannt werden. Auch die Büros sind nächst den jeweiligen Fachbereichen untergebracht und damit nah am Publikum. Über dessen Bedürfnisse hat man offenbar viel nachgedacht: Es wird Plätze für Kinder und Eltern (oder Großeltern) zum Lesen, Vorlesen, Spielen, Werkeln geben, natürlich einen Wickelraum. Jeder kann mit dem eigenen Laptop kommen oder einen leihen und sich damit im ganzen Haus zum eigenen Lieblingsplätzchen begeben. So sollen sich die Generationen mischen – wobei aber ein großes Augenmerk den Jugendlichen gilt, für die auf jeder Ebene ein Angebot der „jungen Bibliothek“ zur Verfügung steht.

 

III. Rückblick – die Geschichte der Büchereien und Bibliotheken in Stuttgart

 

Diese Orientierung an den Nutzern und der Idee des lebenslangen Lernens ist wohl der größte Unterschied zu den Bibliotheken und Leihbüchereien der Vergangenheit – denn dass dort Bücher, Handschriften und Atlanten gesammelt und gezeigt wurden, während heute alle Arten von Medien bereitgestellt werden, liegt lediglich an der Veränderung und Ausweitung der Wissensspeicher.

Seit 1777 war die von Carl Eugen zehn Jahre zuvor gegründete „Herzogliche Öffentliche Bibliothek“ im Herrenhaus mitten auf dem Stuttgarter Marktplatz untergebracht, enthielt um 1800 über 100 000 Bände aller Wissensgebiete und wurde als übersichtlich und repräsentativ gelobt. Offiziell war sie der allgemeinen Nutzung zugänglich. 1820 zog sie in das Invalidenhaus in der Neckarstraße, 1883 wurde dahinter ein eigener Neubau für die dann „Königliche Landesbibliothek“ errichtet; nach 1918 hieß sie Württembergische Landesbibliothek und residiert nach der Zerstörung ihres Domizils im Zweiten Weltkrieg seit 1970 im heutigen Bibliotheksgebäude, das seiner Erweiterung entgegensieht.

Die Einrichtung einer Volksbibliothek im eigenen Gebäude in der Silberburgstraße wurde 1901 durch die großzügige Spende des Verlegers Carl Engelhorn möglich, nachdem sich einige Jahre zuvor ein Verein dafür gegründet und im Hof der Legionskaserne ein bescheidenes Bücherangebot bereitgestellt hatte. Seit 1938 hieß die Volksbibliothek Mörike-Bücherei, nach der Zerstörung 1944 wurde sie am selben Standort wieder aufgebaut und 1952 eingeweiht. 1965 fanden Bestand und Personal, nun in städtischer Hand, eine Heimat im restaurierten Wilhelmspalais. Im Lauf der Jahre eroberte die Zentralbücherei das gesamte Gebäude mit seinen 6400 Quadratmetern, das schon geraume Zeit aus allen Nähten zu platzen drohte – ursprünglich war die Fertigstellung der damals sogenannten Bibliothek 21 für 2003 avisiert, nun findet die Eröffnung also 110 Jahre nach dem Einzug der Volksbibliothek am Silberbuckel statt – bei der man übrigens stolz auf einen „schön beleuchteten, hohen Lesesaal“ und einen Dachgarten war …

 

IV. Ausblick – Gegenwart und Zukunft

 

Der Rundgang durch die halb fertige, noch leere Bibliothek ist voller Überraschungen. Nicht nur, dass der von außen so hermetisch erscheinende Betonklotz innen hell ist und die Glasbausteine, die die Fassade strukturieren, wie japanische Papierwände wirken. Zwischen der Außenhaut und einer zweiten gläsernen Innenfassade kann man in jedem Stockwerk um das Gebäude flanieren.

Wenn sich dann in der fünften Ebene, oberhalb des „Herzens“, der gesamte Innenraum zum lichtdurchfluteten Galeriesaal öffnet, wird wohl jeder erst einmal staunen. Und vielleicht an den Anfang von Jorge Luis Borges’ Bibliothek von Babel denken: „Das Universum, das andere Bibliothek nennen, setzt sich aus einer undefinierten, womöglich unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Entlüftungsschächten in der Mitte, die mit sehr niedrigen Geländern eingefaßt sind. Von jedem Stockwerk aus kann man die unteren und oberen Stockwerke sehen: grenzenlos.“

Die Wirklichkeit der Stadtbibliothek kann zwar nicht grenzenlos sein, aber immerhin symbolisiert dieser nach oben offene Trichter die Welt des Wissens, des Geistes und ermöglicht Begegnungen: zwischen Menschen, zwischen Büchern. Bücher und Menschen sollen dann auch Farbigkeit in die eher sachlich-nüchterne, hellgraue bis bläuliche Innenarchitektur bringen. Spätestens hier wird deutlich, dass auch und gerade in Zeiten des Internets, wenn jeder meint, individuellen Zugang zu allen Informationen zu haben, eine Bibliothek zusätzliche kommunikative Funktionen erhält.

Die Gebiete, die hier oben ihren Platz haben, sind „Wissen“ mit den Themen Natur-, Sozial- und Medienwissenschaften, Recht, Wirtschaft, Mathematik und Technik; „Welt“ mit Medien zum Reisen und zur Heimatkunde, zu Geografie und fremden Sprachen; schließlich die Schöne Literatur mit ihren verschiedenen Gattungen, fremdsprachiger Belletristik und der hiesigen Literaturszene.

Ganz oben ist der Kunstbestand der Graphothek zu besichtigen sowie die in Kooperation mit dem Internationalen Trickfilmfestival Stuttgart entstehende einmalige „Online Animation Library“. Und es gibt eine Cafeteria, die sich als Veranstaltungsraum für bis zu 50 Personen eignet. 300 BesucherInnen fasst das Max-Bense-Forum im ersten Untergeschoss, wo auch Garderoben und Toiletten untergebracht sind, außerdem Versorgungs- und Lagerräume.

Es ist zweifellos eine sehr intellektuelle Architektur, die der Koreaner Eun Young Yi erdacht hat, und man darf gespannt sein, wie die StuttgarterInnen sie annehmen, wenn Ende Oktober die Stadtbibliothek am Mailänder Platz mit Lesungen und Vorträgen, Lese-Aperitif und Performances eröffnet wird.

Was sicher alle begeistern wird, ist das begehbare Dach mit einem grandiosen Rundumblick auf die Schönheiten und Scheußlichkeiten der Stadt – der entschädigt vielleicht dafür, dass der Standort nicht mehr an der Kulturmeile ist. Vielleicht wird man irgendwann auch ein bisschen stolz sein, dass der Gemeinderat für diese Pioniertat im Bibliotheksbau 79 Millionen Euro bewilligt hat, und schimpft ihn nicht länger Gefängnis, sondern preist ihn als weiteren Leuchtturm.

 

Alle Termine des Eröffnungsprogramms im Literaturblatt-Kalender und unter www.stuttgart.de/stadtbibliothek

Kartenreservierung ab dem 26. September telefonisch unter 0711 / 216 91100 /-57 26, Mo–Fr von 9–17 Uhr oder per E-Mail: karten.stadtbibliothek@stuttgart.de.

 

Irene Ferchl hat 1993 das Literaturblatt Baden-Württemberg gegründet und ist seither dessen Herausgeberin und Chefredakteurin. Im September erscheint ihr Lesebuch Geschichten aus Stuttgart im Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen.