Sagas und Sagen aus aller Welt

Hörbuchempfehlungen für den Sommer

 

Von Peter Jakobeit

 

Die Sommerferien kommen näher und damit für viele die Aussicht auf eine längere Autofahrt, dabei kann man sich, sofern man vorgesorgt hat, die Zeit mit einem selbst zusammengestellten Hörerlebnis verkürzen. Hier ein paar Tipps für alle, die das Besondere schätzen.

 

Es ist immer wieder faszinierend, Bücher, die man vor vielen Jahren selbst gelesen hat, später als Hörbuch zu erleben. Jane Austens erster Roman Verstand und Gefühl ist jüngst von Eva Mattes eingelesen worden und zeigt auch beim Hören seine große Qualität. Die sich stetig erhöhende Spannung der Geschichte um die beiden ungleichen Schwestern Elinor und Marianne Dashwood wird von Mattes subtil und adäquat inszeniert. Ganz leicht nur gibt sie den unterschiedlichen Romanfiguren eine stimmliche Entsprechung und zeichnet mit sich wandelnder Tonlage die Entwicklung der Personen nach. Die schnatternden wie die näselnden oder jovial sich gerierenden Damen der Gesellschaft begleiten uns elf CDs lang, ebenso wie überhebliche, schüchterne oder einfach auf groteske Weise dumme Männer.

Was vordergründig für eine Geschichte aus vergangener Zeit gehalten werden kann, behandelt in Wahrheit die hochaktuelle, bis heute nicht beantwortbare Frage: Welchem Prinzip ist mehr zu vertrauen, dem „Kopf“ oder dem „Bauch“? Jane Austens feiner, immer zu spöttischer Ironie tendierender Stil erzeugt auch beim Zuhören einen trügerischen Eindruck von sicherer Behaglichkeit. Meine Empfehlung: Nachts bei längeren Regenfahrten hören.

 

Stefan Wilkening nimmt uns mit seinen überragenden Vorlesefertigkeiten ebenfalls auf eine Reise nach England mit, genauer: nach Wales, noch genauer: in das Wales kurz vor der Regentschaft von König Artus. Auf zwanzig CDs, das entspricht genau 1504 Minuten Spieldauer, entfaltet er das Panorama einer längst vergangenen Welt, der des jungen Zauberers Merlin, der viel später einmal Artus’ Lehrmeister werden wird. Wer also seine Harry Potter- oder Herr der Ringe-Schätze oft genug gehört hat, sollte sich der Merlin Saga des amerikanischen Autors Thomas A. Barron zuwenden. Beschrieben werden die Kinderheit und Jugend Merlins, der, in der Anfangsszene etwa zehn oder elf Jahre alt, ohne Erinnerung an sein bisheriges Leben am Meeresufer von Wales erwacht. Anders als beispielsweise Tolkien, dem das große Ganze, die Struktur einer bedrohten Gesellschaft, wichtig war, zeichnet Barron den Alltag seiner Figuren. Die Erwachsenen sind unwirsch, die Kinder streiten sich bis zur Bösartigkeit, es ist kalt und nass, alle wohnen bestenfalls in zugigen, schmutzigen Hütten. Im Laufe seiner Selbstfindung entdeckt Merlin, dass er unheimliche Fähigkeiten besitzt, und will sie gar nicht haben. Es dauert Jahre, oder eben zwanzig CDs, bis er seine Gaben sicher beherrscht und zu einem Menschen geworden ist, der seine Kräfte nicht missbrauchen wird.

Ähnlich wie bei den Harry Potter-Romanen handelt es sich bei Merlin um ein Jugendbuch, das aber für Erwachsene nicht weniger Spannung bereithält – nur vielleicht an anderen Stellen. Meine Empfehlung: Mit diesem Hörbuch im Audiosystem fangen die Kinder auf der langen Autofahrt gar nicht erst zu quengeln an.

 

Zurück ins „Ländle“, in die Hauptstadt Stuttgart. Im Verlag John Media erscheinen seit einiger Zeit Sagen und Legenden zu verschiedenen deutschen Städten, jüngst zu Stuttgart. Da sind erstaunliche Entdeckungen zu machen, für Kundige gibt es vielleicht Wiederbegegnungen. Wir lernen die Geschichte der Sünderstaffel kennen, begegnen dem Geist von Botnang, erfahren, was es mit dem Lindwurm von Stuttgart auf sich hat, und hören die düstere Historie der Wolframshalde. Wer mit der Stadt ein bisschen vertraut ist, wird sich wundern, was es alles zu erzählen gibt. Für Nicht-Stuttgarter gibt es immerhin spannende, komische und gruselige Geschichten zu hören. Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Machart des Hörbuchs für manche gewöhnungsbedürftig sein mag: Die musikalische Einrahmung und der getragene Vortragsstil sind nicht jedermanns Sache. Andererseits wird dadurch eine Stimmung erzeugt, für die wir oft einfach schon zu abgebrüht sind – was ja nicht so bleiben muss. Meine Empfehlung: Auf den letzten sechzig Kilometern der Rückreise anhören und sich auf zu Hause freuen.

 

Ein anderes Stuttgart, das heutige und gleichzeitig verborgene Stuttgart, präsentiert uns Heinrich Steinfest in seinem neuen Roman Wo die Löwen weinen, den er erstmals selbst (nur leicht gekürzt) eingelesen hat – und zwar furios. Nun muss man natürlich zugeben, dass dem umfangreichen Steinfestschen Fan-Club ein (erfreulicherweise) kleines Lager von LeserInnen gegenübersteht, die mit dem Schmäh des österreichischen Wahlstuttgarters eher wenig anfangen können. Wer mit schwarzem Humor, Sprachartistik, eruptiver Komik und unendlich verschachtelten Dialogen nicht zu Rande kommt, kann diesen Abschnitt deshalb überspringen. Für alle anderen dies: Es geht in Steinfests Buch respektive Hörbuch um Stuttgart 21 und der Autor bekennt sich zu seiner vehementen Ablehnung des Bahnhofprojektes. Aber das ist eigentlich nebensächlich. Entscheidend ist vielmehr, dass er den Finger in eine gesellschaftliche Wunde legt, die an vielen anderen Orten ebenfalls schwärt – das Stichwort Elb-Philharmonie in Hamburg soll genügen. Im Zentrum des Geschehens steht Kommissar Rosenblüt, den es dienstlich in seine alte, gehasste Heimat Stuttgart verschlägt. Im Laufe seiner Ermittlungen um undeutbare Vorkommnisse rund um die Baustelle des neuen Bahnhofes gerät er mittenhinein in alle Interessenkonflikte …

Es ist komisch und entlarvend zugleich, was Steinfest uns hier vorführt beziehungsweise vorliest. Wie immer geht es nur ums Geld: Dafür werden Fakten geradegebogen, Lügen verbreitet, Existenzen vernichtet, Menschen umgebracht – schließlich handelt es sich um einen Kriminalroman. Mit weiter Geste holt Steinfest zu Beginn aus, um am Ende eine Punktlandung hinzulegen, die seine literarische Qualität bezeugt. Dazwischen tummeln sich die aus seinen anderen Büchern vertrauten absonderlichen Gestalten: melancholische Hehler, die schönste Leibwächterin aller Zeiten, ein bemitleidenswerter Projektsprecher und viele andere mehr, die man mal mehr, mal weniger zu erkennen glaubt. Meine Empfehlung: Für Gegner und Befürworter gleichermaßen geeignet, aber nicht im Stadtverkehr zu genießen. Eher auf einer schönen, sanft geschwungenen Landstraße, die nur lang genug sein sollte.

 

Heikko Deutschmann liest (leicht gekürzt) David Benioffs Roman Stadt der Diebe, und er macht dies mit einer Wucht und Überzeugungskraft, die man selten antrifft, die der Geschichte aber angemessen sind. Im Leningrad des Januar 1942 lernen sich der 17-jährige Ich-Erzähler Lew und der wenige Jahre ältere Kolja in einer Gefängniszelle kennen, dort erwarten sie für den nächsten Tag ihre Hinrichtung. Zwar sind ihre Vergehen eigentlich nicht von großer Bedeutung, aber die Bevölkerung soll durch Abschreckung diszipliniert werden.

Indessen: die beiden Jugendlichen haben Glück. Der zuständige Oberst benötigt für die Hochzeit seiner Tochter zwölf Eier, doch in der ganzen Stadt gibt es offenbar keine Eier mehr. Lew und Kolja sollen deswegen innerhalb von sechs Tagen diese zwölf Eier auftreiben, andernfalls würden sie tatsächlich hingerichtet. Es beginnt eine bizarre Suche nach den Eiern. Die beiden so unterschiedlichen jungen Männer – Lew, der angehende Dichter, Kolja, der unerschrockene Schürzenjäger – erleben in diesem Kriegswinter alle Facetten des Daseins: Hunger, Verrat, Tod, Prostitution, Treue, Gefechte, Verluste, Tragödien und kleine Happy Ends – es gibt wenig, was David Benioff nicht in diese sechs Tage zu packen versteht. 434 Minuten Hochspannung, 434 Minuten Empörung über die Sinnlosigkeit von Kriegen, 434 Minuten Menschheitsgeschichte, 434 Minuten Anklage ergeben ein literarisches Meisterwerk, das Remarque gefallen hätte. Meine Empfehlung: Anzuhören zu Beginn einer längeren Geschäftsreise, man bekommt dadurch den Blick fürs Wesentliche.

 

 

Jane Austen, Verstand und Gefühl. Gelesen von Eva Mattes auf 11 CDs. Argon Verlag, 19,95 Euro

 

Thomas A. Barron, Die Merlin Saga. Gelesen von Stefan Wilkening auf 20 CDs. Der Hörverlag, 29,99 Euro

 

Stuttgarter Sagen und Legenden. Zusammengetragen von Kristina und Katharina Hammann, gelesen von Michael Nowack auf 1 CD. John Media, 14,90 Euro

 

Heinrich Steinfest, Wo die Löwen weinen. Gekürzt gelesen vom Autor auf 8 CDs. Theiss Verlag, 24,90 Euro

 

David Benioff, Stadt der Diebe. Gelesen von Heikko Deutschmann auf 6 CDs. Random House Audio, 24,95 Euro

 

 

Peter Jakobeit, Jahrgang 1955, ist nach vielen Jahren als Buchhändler Geschäftsführer der Kulturgemeinschaft Stuttgart und des Kulturfinders Baden-Württemberg.