Obdach und Gewicht der Worte

Stéphane Hessel – 93-jähriger Weltbürger mit nachhaltigem Gedächtnis

 

Von Cornelia Frenkel-Le Chuiton

 

Eine „poetische Trilingologie“ nennt Stéphane Hessel sein kürzlich in deutscher Übersetzung erschienenes Buch Ô ma mémoire. Gedichte, die mir unentbehrlich sind. Darin erläutert der überzeugte Europäer und Kosmopolit seine Laufbahn anhand von 88 Gedichten. Sie entstammen der französischen, deutschen und englischen Lyrik, sind von Villon, Shakespeare, Hölderlin, Keats, Baudelaire, Verlaine, Rimbaud, Hofmannsthal, Valéry, Rilke, aber vor allem von Guillaume Apollinaire. Stéphane Hessel kennt sie auswendig und in den Originalsprachen. Mit diesem Buch erweist sich der engagierte Diplomat und Widerstandskämpfer, dessen Leben vielfach von harten politischen Fakten geprägt war, als literarischer Feingeist, der das Humane stets im Sinn behält.

 

Die Anthologie Ô ma mémoire enthält auch einen anschaulichen Essay. Dort bemerkt Hessel zunächst, dass man im Deutschen „auswendig“ lernt, im Englischen und Französischen aber „mit dem Herzen“: „by heart“, „par cœur“. Sodann unterstreicht er, die Lust an der Poesie sei ihm von seinen Eltern in die Wiege gelegt worden. Von Kindesbeinen an brachten sie ihm komplizierte Verse und lyrische Gebilde bei – nicht Gedichte, die sich simpel reimten und herunterleiern ließen. Seine Mutter lehrte ihn etwa „To Helen“ von Edgar Allan Poe und er freute sich an darin enthaltenen Klangformationen („The weary, way-worn wanderer“); sein Vater brachte ihm „Melusinens Lied“ von Rudolf Borchardt nahe – keine leichte Kost. In der Grundschule, im Pariser Vorort Fontenay-aux-Roses, lernte Stéphane Hessel Fabeln von La Fontaine und Balladen von François Villon. Lyrik von John Keats beeindruckte ihn dann, als er sich Mitte der 30er Jahre zum Studium in England aufhielt. Und auf Shakespeares Sonett Nr. 71 – „No longer mourn for me when I am dead“ – kam er schließlich immer wieder zurück, nachdem er im Juli 1944 in Paris von der Gestapo festgenommen und nach Buchenwald deportiert worden war. Hier vor allem entwickelten sich Gedichte zum wesentlichen Begleiter und „Kristallisationspunkt“ seiner Existenz. „The Raven“, das unheimliche Poem von Edgar Allan Poe („Once upon a midnight dreary, while I pondered, weak and weary […] Darkness there, and nothing more“), dessen Refrain „nothing more“ und „Nevermore“ zwar tiefe Resignation, aber auch Gefasstheit ausdrückt, half ihm nach eigenen Worten, „sich über die Schrecken des Konzentrationslagers Buchenwald zu erheben“. Mitten im tödlichen Gebrüll einer sprachzerstörenden Situation, die dem zum Schweigen genötigten Zeugen und Überlebenden nur das stumme Sprechen als Ausweg ließ, hielt er sich an Worte aus einer anderen Zeit. Vom Innehalten im Gedicht spricht Hessel einmal als einem „tiefen Atemzug nach der Schönheit und dem Tod“.

 

Im einleitenden Essay zu Ô ma mémoire zitiert Hessel eine humorvolle Nagelprobe auf die „Wahrheit“ eines Gedichts; nach A. E. Housman werde sie dann offenkundig, wenn sich „die Bartstoppeln“ sträuben, während man es sich beim Rasieren stumm aufsagt. Muss ein Gedicht auch nicht gleich haarsträubend wirken – ein Klang, der „ein besonderes Gefühl“ hervorruft, konnte Hessel immer erneut fesseln und er ging ihm in einem oft langen Prozess des „Beherzigens“ nach. Über das Hören fühlt er sich in die Worte anderer ein, denen er dann als Rezitator sogar seine Stimme verleiht. Um der Substanz des Poetischen auf die Spur zu kommen, zieht Hessel Gedanken von Roman Jakobson und Ives Bonnefoy zu Rate, unternimmt Exkurse in die Mythologie, besonders zu Mnemosyne, der Muse des Gedächtnisses, die dem Dichter unerlässlich zur Seite steht. Dessen Werkzeuge sind der Körper, die Stimme und das Atmen – das besondere Atmen, wie es sich zum Beispiel in Rilkes ätherischen Zeilen zeigt: „In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch. / Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind.“ (Sonette an Orpheus)

 

Stéphane Hessel kam 1917 in Berlin zur Welt, als Sohn des Schriftstellers und Übersetzers Franz Hessel und dessen Frau Helen, geborene Grund, damals Korrespondentin der Frankfurter Zeitung. Die Familie siedelte ab 1924 nach Frankreich über. Nach der deutschen Besatzung im Juni 1940, die zahllose NS-Verfolgte mit Internierung und Deportation bedrohte, arbeitete Stéphane Hessel zunächst in Marseille für das Rettungskomitee des amerikanischen Journalisten Varian Fry. 1941 schloss er sich in London der französischen Exilregierung von de Gaulle an; 1943 kehrte er als Geheimagent nach Paris zurück, fiel 1944 den Nazis in die Hände, wurde nach Buchenwald und Dora deportiert, konnte aber dank seines Mithäftlings Eugen Kogon überleben. Die Erfahrung von Solidarität blieb für ihn prägend. Nach dem Zweiten Weltkrieg wirkte Stéphane Hessel als Mitarbeiter der Vereinten Nationen an der Formulierung der UN-Menschenrechts-Charta mit. Bis ins hohe Alter setzte er sich als Diplomat und „Ambassadeur de France“ nachdrücklich für Demokratie und Menschenrechte ein. Davon berichtet seine 1997 in Frankreich, im Jahr darauf auch in deutscher Übersetzung erschienene Autobiografie Tanz mit dem Jahrhundert.

 

Eine wichtige Quelle im Zusammenhang der Erinnerungen ist auch die schmale Textsammlung Letzte Heimkehr nach Paris. Franz Hessel und die Seinen im Exil. Hier wird auf subtile Weise eine Familiensaga erhellt, indem mehrere Beteiligte zu Wort kommen: Franz, Helen und Stéphane Hessel sowie sein Bruder Ulrich, zudem die Freunde Alfred Polgar und Wilhelm Speyer. Bemerkenswert ist darin nicht nur die ungewöhnliche Freundschaft von Franz und Helen Hessel mit dem Schriftsteller Henri-Pierre Roché, die zum literarischen Stoff wurde und als Filmvorlage für Truffauts „Jules et Jim“ diente. Aus verschiedenen Erzählperspektiven stellt Letzte Heimkehr nach Paris eine Familie vor, die zunächst in Berlin und dann im Paris der 20er Jahre mit einem Milieu verbunden war, in dem sich Walter Benjamin, Max Ernst, Pablo Picasso, Man Ray und Marcel Duchamp bewegten. Der Schriftsteller Franz Hessel, 1941 in Sanary-sur-Mer – „Hauptstadt der deutschen Exilliteratur“ – gestorben, war maßgeblich am Aufbruch der Moderne beteiligt. Literarisch einmalig bleiben seine unaufgeregten Blicke auf die Welt, etwa in Der Kramladen des Glücks, Pariser Romanze, Von den Irrtümern der Liebenden und Spazieren in Berlin. Das letztere Werk ist soeben in zwei Neuauflagen erschienen, eine davon enthält ein Vorwort von Stéphane Hessel. Im Dezember 2010 wurde im Übrigen erstmals eine deutsch-französische Literaturauszeichnung, der Franz-Hessel-Preis, verliehen: an zwei Schriftstellerinnen – Maylis de Kerangal und Kathrin Röggla –, deren Werke für die hervorragende Qualität zeitgenössischer Literatur stehen.

 

Stéphane Hessel hat nun vor einigen Monaten, im Alter von 93 Jahren, großes Aufsehen erregt und einen Bestseller verfasst: das 32 Seiten dünne Manifest Indignez-vous! – Empört Euch!. Außer ins Deutsche wurde es mittlerweile in zahlreiche Sprachen übersetzt. Auf der ersten Seite wird mit Paul Klees Aquarell „Angelus Novus“ an Walter Benjamin erinnert, der das Bild als Gleichnis für einen von einem unaufhaltsamen Sturm getriebenen „Fortschritt“ sah. Empört Euch! handelt aber vom möglichen Einschreiten gegen scheinbar unaufhaltsame Entwicklungen. Hessel sieht gesellschaftliche Grundwerte gefährdet, die aus der Opposition gegen die NS-Diktatur hervorgingen und an denen es festzuhalten gelte. Das Alter ist für Hessel die Chance, sich furchtlos zu exponieren und an die existentiellen Träume des 20. Jahrhunderts zu erinnern, nicht ohne Trauer und als seien es Abschiedsworte, ähnlich dem „L’adieu“ („J’ai cueilli ce brin de bruyère“) von Guillaume Apollinaire. Stéphane Hessels nächstes Buch ist bereits im Druck: Engagez-vous! Es setzt auf Leser, die gewaltfrei für eine nachhaltige Gesellschaftsentwicklung eintreten. Hier kann man an Heinrich Böll, ebenfalls Jahrgang 1917, denken, der einmal sagte, auch „die Gerechtigkeit hat ihre Poesie“.

 

Zum Weiterlesen :

Stéphane Hessel, Ô ma mémoire. Gedichte, die mir unentbehrlich sind. Aus dem Französischen von Michael Kogon. Nachwort von Bernd Witte. Übersetzung der französischen und englischen Gedichte im Anhang. Grupello Verlag, Düsseldorf 2010. 120 Seiten, 22,90 Euro

 

Ders., Tanz mit dem Jahrhundert. Erinnerungen. Arche Verlag, Zürich 1998. 388 Seiten, 23 Euro

 

Ders., Empört Euch! Übersetzt von Michael Kogon. Ullstein Verlag, Berlin 2011. 32 Seiten, 3,99 Euro

 

Ders., Engagez-vous! Entretiens avec Gilles Vanderpooten. Editions de l’Aube, La Tour d’Aigues 2011. 10,95 Euro

 

Letzte Heimkehr nach Paris. Franz Hessel und die Seinen im Exil. Hrsg. von Manfred Flügge. Verlag Das Arsenal, Berlin 1989. 178 Seiten, 13,70 Euro

 

Franz Hessel, Spazieren in Berlin. Vorwort von Stéphane Hessel. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2011. 240 Seiten, 19,90 Euro

 

Ders., Ermunterung zum Genuss sowie Teigwaren leicht gefärbt und Nachfeier. Die „kleine“ Prosa 1926-1933. Verlag Das Arsenal, Berlin 1999. 356 Seiten, 19 Euro

 

Ders., Pariser Romanze. Papiere eines Verschollenen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1985. 129 Seiten, 10,99 Euro

 

 

Cornelia Frenkel-Le Chuiton, Jahrgang 1953, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Freiburg.