„Schreiben heißt: sich selber lesen”

Eine Erinnerung an Max Frisch

 

Von Urs Bugmann

 

Vergangene Woche ist mir der Vater gestorben. Ich habe Literatur und Journalistik studiert. Mein Studium muss ich unverzüglich abbrechen, um mich aus eigener Kraft durchzuschlagen, so gut das eben geht. Ich bin einundzwanzig. Illusionen mache ich mir ja keine; aber ich vertraue auf meine journalistische Befähigung und habe auch Anerkennungen und Empfehlungen.”

Das schreibt der Student Max Frisch im April 1932 unter dem Titel „Was bin ich?” in der Studentenzeitschrift Zürcher Student. Er schildert sein halb kühnes, halb verzagtes Vorsprechen auf Zeitungsredaktionen. Beim zehnten Mal – „Das geht schon ohne jedes Gefühl.” – erhält er einen Auftrag: Fünfzehn Druckzeilen soll er schreiben über ein Schaufenster. Davor steht er jetzt. „Und im Glas steht mein Spiegelbild.”

 

Das Ich des Textes nennt sich Max Frisch und dieses Ich wird ein Werk und ein Leben lang dabei bleiben, sich im Spiegel seiner Sätze zu erkennen. Der Text von 1932 steht an zweiter Stelle in der Werkausgabe, die 1986 mit der Zustimmung des Autors zu seinem 75. Geburtstag veranstaltet wurde. Der Text blieb ihm wichtig. Es ist die früheste autobiografische Skizze von Max Frisch, der 1975 in Montauk bekennt: „Es stimmt nicht einmal, dass ich immer nur mich selbst beschrieben habe. Ich habe mich selbst nie beschrieben. Ich habe mich nur verraten.”

 

Ein aufrichtiges Buch” nennt das Motto mit Montaigne die Erzählung Montauk. Aufrichtig nicht, weil es um die Wahrheit weiß und sie erzählt, sondern weil es den Erzähler bei seinen Schwierigkeiten beobachtet, dieser Wahrheit, sich selbst, auf die Spur zu kommen. „Was bin ich?” ist zu der Frage geworden: „Was habe ich erlebt, was habe ich getan?” Ein Wochenende am Meer mit einer Frau, die seine Tochter sein könnte und seine Geliebte wird: „Ein Schild, das Aussicht über die Insel verspricht: Overlook.” So beginnt der Text, der fortsetzt und auf eine neue literarische Höhe bringt, was das Tagebuch 1946-1949 und das Tagebuch 1966-1971 schon überzeugend vorgeführt hatten: ein Schreiben, das als Selbstzeugnis seines Autors Auskunft gibt über sein Leben und Wirken in seiner Zeit. Auf vielfache Weise durchbrechen diese Tagebücher ihr Gattungsschema: Sie schließen Beobachtungen und Reflexionen ein, enthalten Skizzen und Erzählansätze, in denen – vor allem im ersten Tagebuch – künftige Werke angelegt sind, und sie sind von vornherein für die Öffentlichkeit gedacht. Der Spiegel, in den das Autor-Ich blickt, ist als Schaufenster der Sicht der Passanten ausgesetzt.

Im Tagebuch 1946-1949 stehen die Sätze, die punktgenau wiedergeben, wie Max Frisch sein Schreiben sah und worin der Grund liegt, dass dieses Schreiben nicht im Persönlichen steckenbleibt, dass es in der Erfahrung dieses einzelnen Ichs Erfahrungen fasst, in der sich Leserinnen und Leser bis heute erkennen: „Man hält die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben. Schreiben heißt: sich selber lesen.”

 

Nicht aus einer Gewissheit, aus dem Ungewissen heraus schreibt Max Frisch. „Meine Arbeiten, wo immer sie fertig sind und mir als Spiegel begegnen”, heißt es in einem Notizheft von 1946, „erweisen sich als ein Ausweichen; es sind lauter Gebilde der Angst. Ich lebe aus keinem eigenen Verlass heraus.” An diesem Unverlässlichen liegt es, dass das Werk von Max Frisch, seine Stücke, seine Bücher, noch immer wirken. Graf Öderland, in den sich ein Staatsanwalt verwandelt, der einen Mörder ohne Motiv verstehen kann, Stiller, der behauptet, nicht der zu sein, für den man ihn hält, Gantenbein, der vorgibt, blind zu sein und von sich sagt, er „probiere Geschichten an wie Kleider”: Das sind lauter fragwürdige Existenzen, Frage-Existenzen. Die Frage ist der Motor in diesem Schreiben, und nur konsequent ist es, dass Max Frisch den Fragebogen zu einer eigenen literarischen Form entwickelt hat, dass er in Blaubart die Frageform des Verhörs nutzt. Noch die Auseinandersetzung mit der Schweiz, mit Zürich, wo er sich eingeengt fühlte, steht unter einer Frage: „Schweiz als Heimat?”

 

Längst ist Max Frisch auf den Schulbuchklassiker festgelegt; sein Thema, so die zugehörige Einordnung, sei die Identität. Sie ist es gerade nicht. Denn Identität ist das Festgelegte, das von außen als Raster für Erkennbarkeit angelegt wird. Dagegen wehrt sich Stiller, dagegen setzt er die Selbstwahl. Max Frischs Thema ist die Unsicherheit vor und nach jeder Identität, der Widerstand gegen jede Festlegung. Das trifft noch immer eine Gegenwart, in der die geografischen wie lebensgeschichtlichen Zuordnungen ins Fließen geraten und die Rollen vielfach und unklar sind. Die Frage danach, wie jemand gegen alle Entfremdung in Bildern und Erwartungen werden kann, wozu er fähig ist, wie er entfalten kann, was er an Möglichkeiten mit sich bringt, bedrängt die Gegenwart mehr denn je. Das Ich ist kein Ausgangspunkt: Es ist ein Ziel.

 

Deshalb gibt es im Leben und im Werk von Max Frisch immer wieder den Aufbruch und die Flucht. Darum mühen sich in Biografie. Ein Spiel und im Triptychon die Spielfiguren, ihr Leben zu wählen, noch einmal zurückzugehen und anders zu entscheiden. Das Theater, obwohl es ihm mehr Missverständnisse als Erfolge bescherte, hielt dieser Schriftsteller lange für sein eigentliches Medium: Hier ist Verwandlung möglich und jenes Ineinander von Ich und Welt, das die Träume kennen: „Ich habe keine Welt”, schreibt Max Frisch 1946 in sein Notizheft, „ich leide an ihr, insofern ich sie immerfort mit mir selber vermenge, und verehre den Traum, dem diese Vermengung auch eigen ist.”

 

Verwandlung und Flucht, die Möglichkeit, immer neu zu beginnen, machen Fragmentierung, Erzählansätze und Wiederaufnahmen als Strukturelemente sichtbar in den Tagebüchern, aber auch in Montauk und in dem späten Meisterwerk Der Mensch erscheint im Holozän, dieser Resignation, die doch den Aufbruch postuliert. Das wandelbar Bewegliche lässt Max Frisch seit 1955 das Schreiben über die Architektur stellen. Der Wunsch nach dem Konkreten und Brauchbaren war es, was ihn nach seinem ersten Roman Jürg Reinhart 1936 das Literaturstudium aufgeben und sich als Architekturstudent an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich einschreiben, das Studium mit dem Diplom abschließen ließ. Nur wenige Bauten hat er realisiert, das wichtigste ist das Gartenbad Letzigraben in Zürich. Und nie hat er ein Haus für sich selber gebaut. Haus und Atelier, das er in Berzona im Tessin einrichtete, entstanden aus dem Umbau eines alten Bauernhauses. Nicht Sesshaftigkeit, sondern Reisen war die ihm gemäße Erfahrensweise: In der Bewegung fand er das Werden, im Fragen die Form für sein Schreiben und Leben.

 

 

 

Ausstellungen und Bücher zum 100. Geburtstag von Max Frisch (15. Mai 1911 – 4. April 1991)

 

Das Literaturmuseum der Moderne in Marbach zeigt aus den Archiven Siegfried Unselds und des Suhrkamp Verlags den Autor und seinen Verleger Peter Suhrkamp in Austausch und Arbeit sowie die Realisierung des Tagebuchs 1946-1949, das im Herbst 1950 das erste Programm des Suhrkamp Verlags eröffnete. Dazu ist das Marbacher Magazin 133 erschienen (bis 26. Juni).

 

Das Museum Strauhof in Zürich fragt in seiner Ausstellung nach der Gegenwartswirkung von Max Frisch und lässt Passanten, Fachleute und Leser über ihn und sein Werk zu Wort kommen. Auf einer Vielzahl von Bildschirmen sind Interviews zu sehen, werden Ton- und Filmdokumente abgespielt, papierene Dokumente bleiben am Rand. Ein Begleitbuch gibt der Ausstellung Dauer (bis 4. September).

 

 

Im Suhrkamp Verlag ist Max Frisch. Biographie eines Aufstiegs (592 Seiten, 24,90 Euro) von Julian Schütt erschienen. Aus einer Fülle von Quellen und Dokumenten erschließt der 1964 geborene Zürcher Literaturwissenschaftler das Werden des Autors bis hin zur Veröffentlichung des Romans Stiller, der 1954 Frischs Weltruhm begründete. Sorgfältig sind die Lebensspuren nachgezogen, wird das Werk darauf bezogen, immer in der gewissenhaften Trennung der Sphären. Die Beschränkung auf die ausführlich recherchierten Anfangsjahre begründet Schütt damit, dass für die späteren Jahre die Quellenlage zu uneinheitlich und Teile des Nachlasses noch bis zum 31. März 2011 gesperrt sind.

 

Ebenfalls bei Suhrkamp liegt die von Volker Hage herausgegebene Bilddokumentation Max Frisch. Sein Leben in Bildern und Texten (257 Seiten, 24,90 Euro) vor.

 

Persönliche Begegnungen und wiederholte Beschäftigung mit Max Frisch und seinem Werk stehen hinter dem Band Mein Name ist Frisch (Nagel & Kimche, 160 Seiten, 15,90 Euro) der Zürcher Literaturkritikerin Beatrice von Matt. Sie ermöglicht in unterschiedlichen Zugängen auch neue und ungewohnte Blicke.

 

Als Enthusiast schrieb Volker Weidermann die Biografie Max Frisch. Sein Leben, seine Bücher (Kiepenheuer & Witsch, 432 Seiten, 22,95 Euro), die Lob und (seltener) Tadel pointiert verteilt und geeignet ist, mit Begeisterung anzustecken.

 

Der Band Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch – eine Biografie von Ingeborg Gleichauf (Nagel & Kimche, 272 Seiten, 18,90 Euro) öffnet einen eher kursorischen ersten Zugang zu Leben und Werk.

 

Urs Bugmann, geboren 1951, ist Literaturwissenschaftler und schreibt für die Neue Luzerner Zeitung über Literatur, Theater und Bildende Kunst.