Ein Ortstermin in Paris
Von Elke Linda Buchholz
In Paris hören die Rebellionen nie auf, da haben Ramón Chao und Ignacio Ramonet recht. Pech oder Glück? Wegen der geplanten Erhöhung des Rentenalters legt der gerechte Volkszorn im Generalstreik nicht nur den Nahverkehr, sondern auch die Verbindungen ins Ausland lahm. Statt in das Flugzeug zurück in die Heimat zu steigen, findet man sich an der Bastille inmitten einer fröhlich und kämpferisch demonstrierenden Menschenmenge wieder, die mit riesigen Luftballons, Straßenmusik und Garküchen ihrem Unmut Luft macht. „Grève“, das französische Wort für Streik, ist, so verraten die Autoren Chao und Ramonet, von dem alten „Place de Grève“ vor dem Pariser Rathaus abgeleitet, der im Mittelalter ein Sand- und Kieselstrand – „grève“ – war. Später sei er zum „Hauptquartier aufrührerischer Kräfte in Paris“ geworden. Solche Traditionslinien erklären die Autoren in ihrem „Kulturführer“ Paris – Stadt der Rebellen mit feinem Sinn für Humor, elegantem Stil und besonderer Sympathie für die rebellischen Frauen. Die gestandenen Journalisten Chao und Ramonet, selbst vor dem Franco-Regime nach Frankreich geflohen, erzählen, wie der Maler Gustave Courbet die Schleifung der Vendôme-Säule anordnete, wie der junge Anarchist Emile Henry 1891 eine Luxushotelbar in die Luft sprengte und Marx mit Engels auf Sauftour ging. Obwohl der übersichtlich nach Arrondissements gegliederte und mit Fotos bebilderte Band backsteinschwer in der Hand liegt, gehört er ins Reisegepäck.
Was darf in den Koffer, was nicht? Trotz strenger Auswahl: Die gesamte Reisebibliothek war diesmal aufgestapelt zwanzig Zentimeter hoch, wog dreieinhalb Kilo und umfasste elf Bände, darunter einen handlichen Stadtplan mit Spiralbindung. Mit dabei war das „Reiselesebuch“ Paris aus dem Ellert & Richter Verlag, das mit seinen von der Journalistin Sandra Kegel ausgewählten Lesestücken in jede Handtasche passt.
Im letzten Moment zu Hause bleiben musste leider Eric Hazans wunderbares Buch Die Erfindung von Paris; der 600-Seiten-Band war einfach zu schwer. Dafür ermöglicht er nach der Rückkehr noch wochenlang imaginäre Spaziergänge. Kaum ein Autor kennt seine Stadt so gut und weiß so stilsicher über sie zur berichten wie der Verleger Hazan. Arrondissement für Arrondissement, Straße für Straße durchschreitet er leichtfüßig und scharfblickend die Jahrhunderte. Wer dieses unerschöpfliche Buch (am besten mit einem Plan zur Hand) gelesen hat, wird beim nächsten Paris-Besuch eine andere Stadt wahrnehmen und überall die sich überlagernden Schichten des Vergangenen erkennen. Erfrischend dabei: die sympatisch-subjektive Erbostheit des Autors über die Verschandelung seiner geliebten Metropole durch den modernen Städtebau, etwa beim Abriss des historischen Hallen-Viertels in den 1970er Jahren. Unverzeihlich bei solch einem klugen Buch sind allerdings der Verzicht auf Ortsregister und Stadtplan.
Kaum einer der neueren Paris-Titel gönnt uns diesen Service, was sich beim Flanieren durch Text und Stadt oft als fatales Manko erweist. Eine Ausnahme ist der – allerdings gänzlich unliterarische – Michelin-Führer Pariser Spaziergänge. Er lockt mit praxisbezogenen Detailinformationen und Vorschlägen für Rundgänge in die verträumten Berggässchen um den Park Buttes-Chaumont, auf die kilometerlange „Promenade Plantée“ entlang einer ehemaligen Eisenbahntrasse oder zu Bootstouren auf dem Canal Saint-Martin. Leider wurde der 2008 erschienene Führer so mies ins Deutsche übersetzt, dass es schon fast wieder komisch ist. Schönster Fauxpas: Das Traditionsgeschäft der Brüder Segas in der 1847 eröffneten Passage Jouffroy, durch die schon Heinrich Heine und Walter Benjamin flanierten, handelt natürlich nicht mit „alten Angelruten“, sondern hat sich auf handgefertigte Spazierstöcke mit Elfenbein und Silberknauf spezialisiert – im Französischen heißt beides „canne“.
Sonntags ist diese Passage mit dem plüschigen Hotel Chopin, dem skurrilen Puppenstubenmöbelladen und dem Wachsfigurenkabinett Musée Grévin nahezu menschenleer und wirkt noch mehr aus der Zeit gefallen als ohnehin. Einundzwanzig der Passagen aus dem 19. Jahrhundert existieren heute noch; sie zogen den Exilautor Heinrich Heine einst magisch an, nicht nur wegen der Lesekabinette, Teesalons und Luxusläden, sondern auch, weil dort die „Göttinnen des Leichtsinns“ anzutreffen waren, wie er die Prostituierten nannte. Fünfundzwanzig Jahre lebte und arbeitete Heine in Paris. Wo er speiste und wie sein Arbeitstag in Paris aussah, ist höchst kenntnisreich in dem schönen Bändchen Auf der Spitze der Welt. Mit Heine durch Paris von Gerhard Höhn und Christian Liedtke nachzulesen. Sie schildern den Dichter als einen hellwachen Flaneur, der die freie Pariser Luft genoss und beim Promenieren in der Menschenmenge auf den Boulevards ganz in seinem Element war. Heine bekannte: „Ich bin übrigens fleißiger als sonst und zwar aus dem einfachen Grunde, weil ich in Paris sechsmal so viel Geld brauche als in Deutschland.“ Das war 1832 nicht viel anders als heute.
Kaum eines der Cafés und Restaurants, in denen Heine „dejeunierte“, existiert heute noch. Sucht man in Paris die Stätten historischer Dichter und Künstler, so muss man auf Enttäuschungen gefasst sein. Der permanente Stadtumbau hat in Paris Tradition. Historische Gemälde im Musée Carnavalet dokumentieren, wie schon im 17. Jahrhundert für Neubauten ganze Straßenzüge des mittelalterlichen Zentrums zerstört wurden. Wie radikal sich die Stadt in jüngster Zeit auch in ihrer Bevölkerungsstruktur gewandelt hat, schildern Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot mit kritischem Scharfblick und nüchternen Statistiken in Paris. Soziologie einer Metropole. Auf „soziologischen Spaziergängen“ führen sie in bekannte und unbekannte Quartiere und konstatieren eine immense Verdichtung von Macht und Geld im Zentrum, auf Kosten der weniger wohlhabenden Schichten, die in die Gebiete jenseits der Ringautobahn, des Boulevard Périphérique, verdrängt worden sind. Ernüchtert muss man sehen, dass im Quartier Latin und im Literatenviertel der Existentialisten Saint-Germain-des-Prés die Luxusboutiquen Einzug gehalten haben: „In der ehemaligen Verlagsbuchhandlung Gallimard befindet sich jetzt Dior und dort, wo früher Raoul Vidal seine Schallplatten verkaufte, sind jetzt die Schmuckstücke des Juweliers Cartier zu bewundern.“
Ach, diese lärmende Metropole soll die Stadt der Liebe sein, gar die „Stadt des Lichts“? Für Leonhard Fuest ist Paris viel eher eine Stadt der Melancholie. Schon der rabenschwarze Umschlag seines Buches spricht allen heiteren Paris-Klischees Hohn. Über dem Titelschriftzug Die schwarzen Fahnen von Paris hockt mit verstocktem Melancholikergestus ein gehörnter, steinerner Dämon und streckt der Welt frech die Zunge heraus. Doch seine Flügel beweisen: Auch der teuflische Genius der Melancholie kann fliegen. Allenthalben sieht der Autor in der Pariser Literatur die „schwarzen Fahnen“ der Anarchie, der Trauer und des Widerstands wehen, bei Baudelaire natürlich, aber auch bei Rilke, Franz Hessel und Siegfried Kracauer, bei André Breton und Louis Aragon, bei Derrida und Houellebecq. Überall in den Ritzen der Stadt hocken die Angst, das Grauen, die Depression. In Zeiten des Krieges und der Deportationen wurde die Schwärze zum Dauerzustand. Der rumänische Dichterphilosoph Cioran verließ seine Wohnung überhaupt nur noch nachts. Mit dem satten Schwarz und der suggestiven Schönheit seiner unkommentierten Schwarzweißfotos zieht das Buch einen tief hinein in dieses düstere literarische Labyrinth.
Gönnen wir uns eine Pause und setzen wir uns ins Café de la Mairie an der Place St. Sulpice. Jetzt ist der richtige Augenblick, um Georges Perecs Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen aus der Tasche zu holen. Denn genau hier hat der Autor im Oktober 1974 seinen Beobachtungsposten bezogen und notiert, „was passiert, wenn nichts passiert außer Zeit, Menschen, Autos und Wolken“. Perec registriert die an- und abfahrenden Linienbusse, die auffliegenden Tauben, die Passanten. Die Tauben sind noch da, der Taxistand auch, ebenso das Rathaus, das Finanzamt, die Tiefgarage und sogar der Devotionalienladen. Das Kino, der Verlag und der Bestatter sind verschwunden. Das Offensichtliche jedoch, das Perec schildert, ließe sich an jedem anderen Ort auch beobachten: die Körperhaltungen, Fortbewegungsarten und wie Dinge getragen werden. Die Farben, Buchstaben, Wörter im Stadtraum. Die Gruppierungen, abstrakten Rhythmen und Ströme. Eine Viertelstunde Perec-Lektüre und der Blick verändert sich. Wie ungewohnt es ist, zumal als Tourist, seinen Blick nicht auf e t w a s zu richten, sondern mit offener Aufmerksamkeit a l l e s zu registrieren. „Ein Vogel setzt sich auf die Spitze eines Laternenpfahls. Es ist Mittag. Böe. Vorbeifahrt eines 63ers.“ Dann verzehren wir wie Perec ein Wurstsandwich, trinken einen Kaffee und begeben uns wieder hinein in das Geschiebe auf den Trottoirs.
Zum Weiterlesen:
Ramón Chao und Ignacio Ramonet, Paris – Stadt der Rebellen. Rotpunktverlag, Zürich 2010. 420 Seiten, 32,50 Euro
Paris par Arrondissements (Stadtplan mit Spiralbindung). Michelin Verlag, Clermont-Ferrand 2010. 153 Seiten, 7,50 Euro
Sandra Kegel, Paris. Ein Reiselesebuch. Ellert & Richter Verlag, Hamburg 2008. 156 Seiten, 12,95 Euro
Eric Hazan, Die Erfindung von Paris. Kein Schritt ist vergebens. Ammann Verlag, Zürich 2006. 631 Seiten, 39,90 Euro
Pariser Spaziergänge. Der Grüne Reiseführer von Michelin. Travel House Media, München 2008. 360 Seiten, 19,90 Euro
Gerhard Höhn und Christian Liedtke, Auf der Spitze der Welt. Mit Heine durch Paris. Hoffmann und Campe, Hamburg 2010. 128 Seiten, 10 Euro
Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot, Paris. Soziologie einer Metropole. Avinus Verlag, Berlin 2008. 156 Seiten, 17,90 Euro
Leonhard Fuest, Die schwarzen Fahnen von Paris. Die „Stadt der Liebe“ im Licht der Melancholie. Corso Verlag, Hamburg 2010. 112 Seiten, 19,90 Euro
Georges Perec, Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Libelle Verlag, Lengwil 2010. 64 Seiten, 12,80 Euro
Elke Linda Buchholz, Jahrgang 1966, lebt und arbeitet als freie Autorin, Journalistin und Kunsthistorikerin in Berlin.