Die teuflische Fantasie der Securitate.

Über Herta Müller, eine Ausstellung und ihre Arbeit mit dem verstorbenen Lyriker Oskar Pastior an dem Roman Atemschaukel

 

Von Michael Bienert

Der 29. Februar 1987 ist ein denkwürdiger Tag in der deutschen Literaturgeschichte. Tatsächlich hat es ihn nie gegeben: 1987 war kein Schaltjahr. Das Datum könnte die Erfindung eines Romanciers sein, doch es ist amtlich beglaubigt: mit roter Farbe stempelten rumänische Beamte es in den Pass der Schriftstellerin Herta Müller, als sie dem Land ihrer Geburt den Rücken kehrte. Eine letzte Schikane, die der Staat des Diktators Nicolae Ceausescu der Dissidentin mit auf den Weg gab, denn das falsche Datum bescherte ihr Ärger bei der Weiterreise und bei der Einbürgerung in die Bundesrepublik. Die Behörden waren zwar darauf vorbereitet, Rumäniendeutsche zügig zu Bundesbürgern zu machen. Doch Herta Müller bestritt, dass sie den Staat gewechselt habe, um als gebürtige Deutsche unter Deutschen zu leben. Sie wäre ganz gerne in Rumänien geblieben, das sei aber wegen der Drangsalierung durch den rumänischen Geheimdienst nicht länger auszuhalten gewesen. Der Bundesnachrichtendienst vermutete eine Agentin in ihr, die von der Securitate eingeschleust werden sollte. Monatelang zögerten die Behörden die Einbürgerung, bei anderen Rumäniendeutschen ein Routinevorgang, im Fall Herta Müllers und ihres damaligen Mannes Richard Wagner hinaus.

Auch von ihren Landsleuten wurden sie nicht mit offenen Armen empfangen. Anlässlich einer Lesereise der Autorin verschickte der Generalsekretär des Bundes der Vertriebenen, aufgeschreckt durch die Landsmannschaft der Banater Schwaben, bereits 1985 eine Art Steckbrief an alle Landesverbände. Geplante Auftritte und Ehrungen der Autorin sollten sofort an die Zentrale des Vertriebenenverbandes gemeldet werden, um dagegen Widerstand organisieren zu können. Denn in ihrem Erzählungsband Niederungen schildere die Autorin in „diskriminierender, moralisch und religiös anstößiger Art und Weise das angebliche Verhalten von Volksdeutschen in Rumänien gegen Ende des Krieges“. Im Wissen um die SS-Vergangenheit ihres Vaters hatte Herta Müller ihre bedrückende Jugend auf dem Dorf literarisch verarbeitet, in einer so klaren und zupackenden Sprache, dass die Debütantin dafür mehrere Literaturpreise erhielt. Niemandem fiel auf, dass Zensur und Lektorat das Buch verstümmelt hatten. Erst im Frühjahr 2010, über ein Vierteljahrhundert später, konnte Niederungen so erscheinen, wie es sich die Autorin vorgestellt hatte.

 

Eine Ausstellung über Herta Müller zeigt die Bilder hinter ihren bildmächtigen Sätzen: den Vater in Uniform, die Tochter als Prinzessin Tausendschön bei einer Schulaufführung, den Plan der Securitate für den Einbau einer Abhöranlage in Herta Müllers Wohnung, ihren Pass mit dem Ausreisestempel oder das infame Schreiben der Vertriebenenfunktionäre. Im Audioguide kommentiert die Autorin die Ausstellungsstücke, das rückt sie noch näher an den Betrachter heran. Kuratiert hat das außergewöhnliche Projekt Ernest Wichner, Leiter des Berliner Literaturhauses und seit Jahrzehnten ein enger Freund Herta Müllers. Er reagierte zunächst skeptisch, als ihn der Kollege Reinhard Wittmann vom Literaturhaus München kurz nach der Nobelpreisverleihung fragte, ob er so etwas machen wolle. „Ich verstehe Literaturausstellungen als ein kritisches Medium“, sagt Wichner, es habe schon seinen guten Grund, dass die Autoren normalerweise tot seien und sich nicht mehr wehren könnten. Doch als er Herta Müller nach ihrer Meinung fragte, war sie spontan bereit, alles notwendige Material herauszugeben. „Und als wir fertig waren, fand sie es ganz lustig“, berichtet Wichner. „Sie empfindet es auch als Entlastung, dass die Ausstellung über Leben und Werk Auskunft gibt, sie muss das dann nicht selber tun und kann sich wieder mehr auf ihre eigentliche Arbeit, das Schreiben, konzentrieren.“
Wichner ist ein intimer Kenner der Literaturszene, aus der Herta Müller stammt. Er selbst gehörte ab 1972 zur „Aktionsgruppe Banat“, einer Gruppierung deutsch schreibender Autoren, die sich unabhängig von der staatlichen Kulturpolitik organisierte und damit unvermeidlich ins Visier der Securitate geriet. Gründungsdokument ist ein Foto, das sechs junge Autoren beim Baden zeigt: Das Wasser steht ihnen bis zum Hals, trotzdem lassen sie sich die gute Laune nicht verderben. Als Herta Müller, vom Dorf kommend, zum Studium in die Stadt Temeswar umzog, stieß sie zu der Aktionsgruppe. „Ohne sie hätte ich keine Bücher gelesen und keine geschrieben. Noch wichtiger ist: Diese Freunde waren lebensnotwendig. Ohne sie hätte ich die Repressalien nicht ausgehalten. Ich denke heute an diese Freunde. Auch an die, die auf dem Friedhof liegen, die der rumänische Geheimdienst auf dem Gewissen hat“, sagte sie bei ihrer Tischrede anlässlich der Nobelpreisverleihung. Einer der Freunde, der Dichter Rolf Bossert, nahm sich 1986 das Leben. Ein anderer wurde im Mai 1989 erhängt in seiner Wohnung in Temeswar gefunden und von den Behörden auffällig rasch unter die Erde gebracht. Sein Name aber fehlt in den Kopien der 914 Seiten starken Opferakte der Securitate, die Herta Müller erst 2008 ausgehändigt wurden: ein Hinweis darauf, dass diese Akten nachträglich bearbeitet worden sein dürften. Sie seien regelrecht entkernt worden, schreibt die Autorin in dem 2009 erschienenen Text Cristina und ihre Attrappe, der die Leerstellen in den Dossiers mit sehr genauen persönlichen Erinnerungen an Verhöre, Anwerbeversuche und Repressalien durch den Geheimdienst füllt.

 

Im Stuttgarter Literaturhaus wird die Ausstellung – schon aus Platzmangel –in einer gestrafften und veränderten Fassung zu sehen sein. Der Fokus richtet sich hier auf den jüngsten Roman Atemschaukel, in dem Herta Müller von der Verschleppung rumäniendeutscher Zwangsarbeiter in die Sowjetunion erzählt. 2005 stellte sie gemeinsam mit dem Lyriker Oskar Pastior in Stuttgart die Arbeit an dem Buch vor. Im gleichen Jahr starb Pastior, der 1945 selbst in ein Lager verschleppt worden war, genau wie ihre Mutter. Aus dem fertigen Werk las Herta Müller dann im Literaturhaus just einen Tag bevor das Nobelpreiskomitee bei ihr anrief.
Von ihrer Großmutter erfuhr sie, dass die beste Freundin der Mutter Herta geheißen hatte: „Ich habe meine Mutter nie gefragt, ob sie in mir zwei Personen sieht.“ Ein Foto in der Ausstellung zeigt die beiden Freundinnen mit kurz geschnittenem Haar im Lager. Aus derselben Zeit stammt ein Heft aus braunem Zementsackpapier, das sich der etwa 20-jährige Oskar Pastior im Lager für seine Gedichte bastelte. Nach der Entlassung im Jahr 1949 versuchte er sich das Grauen in erzählerischer Form von der Seele zu schreiben, was ihm jedoch nicht gelingen wollte. Ein halbes Jahrhundert später entstanden weitere Aufzeichnungen über den Lageralltag, ausgelöst durch Herta Müllers Nachfragen. Mit dem gemeinsamen Freund Ernest Wichner reisten die beiden Autoren 2004 an die Schauplätze seines Martyriums in der Ukraine. Aufgeschlagen liegt in der Ausstellung eine Arbeitskladde von Herta Müller mit ihrer Zeichnung einer Häftlingsbaracke, akribisch nach den Erinnerungen ihres Freundes rekonstruiert.


So kann der Betrachter die Genese des Romans über Jahrzehnte hinweg verfolgen. In Stuttgart erscheinen die Dokumente nochmals in einem anderen Licht als bei der Erstpräsentation der Ausstellung im Frühjahr in München. Denn im September ging durch die Presse, dass Oskar Pastior von 1961 bis 1968, dem Jahr seiner Flucht in die Bundesrepublik, vom rumänischen Geheimdienst als Spitzel unter dem Tarnnamen „Otto Stein“ geführt wurde. Für Herta Müller waren die spärlichen Aktenfunde ein Schock. Oskar Pastior hatte sich 1968 zwar den deutschen Behörden anvertraut, aber gegenüber seinen Freunden geschwiegen. (Ernest Wichner hat über „Die späte Entdeckung des IM ‚Otto Stein’“ in der FAZ vom 18. 9. geschrieben.)


Spitzelberichte, in denen er Kollegen ans Messer lieferte, sind bisher keine aufgetaucht. „In der Verbindung mit unseren Organen hat Otto Stein kein Interesse gezeigt und ist seinen Verpflichtungen nur auf formale Weise nachgekommen“, heißt es in den Securitate-Akten, nachdem sich der Mitarbeiter ins Ausland abgesetzt hatte. Aber warum hatte Pastior überhaupt eine Verpflichtungserklärung unterschrieben? Teuflisch zog die Securitate ihr Netz um ihn zusammen. Sie ließ ihn glauben, eine Freundin sei 1959 zu sieben Jahren Haft verurteilt worden, weil er ihr antisowjetische Gedichte zur Aufbewahrung anvertraut hatte. Pastior musste sich schuldig und extrem bedroht zugleich gefühlt haben; schon seine Homosexualität hätte als Grund für eine Verhaftung ausgereicht. Ein sowjetisches Lager hatte Pastior überlebt, nun stellten ihn die Geheimdienstler vor die Wahl: Entweder du gehst zurück in die Hölle oder du unterschreibst!
Das Schweigen Oskar Pastiors über seine Verstrickung muss nicht unbedingt als Zeugnis von Schwäche gedeutet werden. Ernest Wichner zitiert eine Notiz von 2001 aus Pastiors Nachlass über die Securitate: „Ich möchte keinen Gedanken denken und keinen Satz aussprechen, in welchem und durch welchen diesem Ekelkomplex von Institution zu einem späten Erreichen seiner Ziele verholfen würde – den Zielen: Misstrauen u. Argwohn zu säen / Unversöhnlichkeiten aufzubauen / Persönlichkeiten zu spalten / Psychosomatisch Angst und Schrecken zu verursachen / Kurzum uns nachträglich wieder einmal zu entmündigen (die Würde zu nehmen).“

Dass dem Toten in der Öffentlichkeit nun doch der Makel anklebt, ein Securitate-Spitzel gewesen zu sein, ist ein später Triumph seiner Peiniger.

 

Die Ausstellung „Herta Müller. Der kalte Schmuck des Lebens“ ist bis 21. November im Literaturhaus Berlin zu sehen, dann wieder vom 23. Januar bis 24. April 2011 im Buddenbrookhaus Lübeck; weitere Stationen sollen folgen. Die Ausstellung über Herta Müller und Oskar Pastior im Literaturhaus Stuttgart wird am 9. Dezember eröffnet. Am selben Tag liest Herta Müller um 19 Uhr im Hegel-Saal der Liederhalle, dazu gibt die ebenfalls aus Rumänien stammende Schauspielerin Sanda Weigl mit ihrer New Yorker Musikgruppe ein Konzert mit Liedern der Volkssängerin Maria Tanase. Diese starb 1963, ist jedoch eine nationale Ikone geblieben und wird auch von Herta Müller, die die Lieder übersetzt hat, sehr verehrt.

 

Zum Weiterlesen:

 

Herta Müller, Atemschaukel. Roman. Hanser, München 2009. 304 Seiten, 19,90 Euro

 

Herta Müller, Niederungen. Prosa. Hanser, München 2010. 176 Seiten, 16,90 Euro

 

Herta Müller, Cristina und ihre Attrappe oder Was (nicht) in den Akten der Securitate steht. Wallstein Verlag, Göttingen 2009. 48 Seiten, 9,90 Euro

 

Ernest Wichner / Lutz Dittrich: „Herta Müller. Der kalte Schmuck des Lebens“. Ausstellungsheft 2 / 2010 des Literaturhauses München. 52 Seiten, 6 Euro

 

Oskar Pastior. Heft 186 der Zeitschrift „Text + Kritik“, herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. edition text + kritik, Göttingen 2010. 19 Euro

 

Michael Bienert, Autor zahlreicher Berlin-Bücher und Kulturkorrespondent der Stuttgarter Zeitung, leitet seit zwanzig Jahren Stadtspaziergänge in Berlin. Infos unter: www.text-der-stadt.de.