Von Astrid Braun
„Zuhause ist ein geistiger Ort. Wenn er leer ist, füllt er sich. Mit Erinnerungen, Gesichtern, Stätten, vergangenen Zeiten. Geliebte Bilder steigen ungerufen auf und halten der Leere einen Spiegel vor. Welch verärgertes Staunen, welch ziellose Suche! Es ist ein alberner Zustand. Nur ein albernes Geschöpf sucht den Schatten ein Lächeln zu entlocken, selbst wenn es die vertrautesten und liebevollsten sind. Der lange Blick zurück, sonderbar und hoffnungslos, ist stets nach innen gekehrt.“
Immer wieder neue Reflexe im Spiegelkabinett ihrer
Erinnerungen zu finden – und zu erleiden – war das Thema der
literarischen Arbeiten von Maeve Brennan.
Die irisch-amerikanische Autorin wurde am 6. Januar 1917 in
Dublin geboren, neun Monate nach dem Dubliner Osteraufstand. Ihr
Vater Robert Brennan, ein Veteran des irischen Freiheitskampfes,
übersiedelte 1934 mit seiner Frau Una, den Kindern Emer, Maeve,
Derry und Robert Patrick nach New York. Bis 1938 war er Legationsrat
der irischen Gesandtschaft, von 1938 bis 1947 der erste Botschafter
des irischen Freistaates. Dann kehrten er und seine Frau nach Irland
zurück. Maeve blieb in New York, wo sie sich eine erstaunliche
Karriere aufbaute, zunächst als Werbetexterin für Harper’s
Bazaar, ab 1949 als Reporterin des New Yorker.
In
Harper’s Bazaar schrieb sie vorwiegend über Mode; sie
selbst war eine Stilikone à la Audrey Hepburn: immer sorgfältig
geschminkt und frisiert, meistens in elegante schwarze Roben
gekleidet, die ihre zierliche Figur betonten. Diese äußerst
anmutige, zerbrechlich wirkende Dame von Welt wohnte zwar zeitlebens
in New York, führte dort aber ein sehr unstetes Leben, zog von
Appartement zu Appartement, später von Absteige zu Absteige. New
York war für Maeve Brennan die „beschwerlichste,
rücksichtsloseste, ehrgeizigste, konfuseste, komischste,
traurigste, kälteste und menschlichste aller Städte“. Sie hat
diese Stadt bis auf wenige Reisen nach Europa, meistens nach Irland,
nicht verlassen, ein Zuhause war sie ihr nicht. Gefunden hat sie das
wohl eher im Blick nach innen und im Schreiben.
Ihr
schriftstellerisches Talent entfaltete Maeve Brennan beim New
Yorker in ihren Prosaskizzen, Buchbesprechungen, Essays, in
einer Kolumne „Talk of the Town – Mitteilungen unserer Freundin,
der weitschweifigen Dame“ und vor allem in ihren Kurzgeschichten.
Die erste, „Der Morgen nach dem großen Feuer“, erschien dort
1950. Zu ihren Lebzeiten wurden die meisten in zwei Bänden
zusammengefasst und veröffentlicht, literarische Aufmerksamkeit
erregten sie aber erst in Neuauflagen nach ihrem Tod.
Der überwiegende Teil der Geschichten spielt im Irland ihrer Kindheit, genauer gesagt in Dublin, noch genauer in den Häusern, in denen Maeve Brennan ihre Kindheit verbracht hat: 10, Belgrave Road und 48, Cherryfield Avenue. In diesen Häusern geht sie ein und aus. Das gilt für die rein autobiografischen Texte in dem Band Der Morgen nach dem großen Feuer und auch für die Sammlungen Mr. und Mrs. Derdon und Der Teppich mit den großen pinkfarbenen Rosen. So angeordnet wie in der deutschen Übersetzung fügen sich diese beiden zu Romanen, die um die Ehepaare Hubert und Rose Derdon beziehungsweise Martin und Delia Bagot kreisen. Beide Zyklen ähneln sich stark: Geradezu manisch erforscht Maeve Brennan die seelische Gestimmtheit ihrer Figuren, ihre Einsamkeit, ihre Verlorenheit, ihre Sehnsucht nach Liebe.
Die bescheidenen Dubliner Reihenhäuschen, in denen die fiktiven Familien Derdon und Bagot leben, weisen den gleichen Grundriss auf. Es gibt ein Wohnzimmer mit Kamin, einen schönen, wenn auch verblichenen Teppich, zwei Schlafzimmer, einen Hund und Katzen, Farne und einen kleinen Garten mit Rosensträuchern, von der jeweiligen Besitzerin liebevoll gepflegt. Die Rolle der Frau ist immer die der Hausfrau und Mutter, die Rolle des Mannes immer die des abwesenden Versorgers. Zwischen ihnen leben Kinder wohlerzogen und auf gewisse Weise geborgen und behütet. Die Erziehung und das Zusammenleben unterliegen strengen Ritualen, zwischen den Partnern herrscht eine geradezu erschütternde Sprach- und Hilflosigkeit. Von großen Hoffnungen getragen, waren sie in die Ehe eingetreten und mussten dann erleben, dass sich von ihren Wünschen, die sie richtig nicht einmal sich selbst eingestanden hatten, keiner erfüllt hat.
Man muss kein schlechter Mensch sein, um am anderen vorbeizuleben, um schuldig zu werden – das ist das zugrundeliegende Beziehungsmuster, das Brennan in ihrer eigenen Familie vielleicht nicht so erlebt, aber gefühlt haben muss. Die Personen sind gefangen in Konventionen, in einem strengen irisch-katholischen Glauben, vor allem aber in einer Einsamkeit, die an die Glasglocke von Sylvia Plath erinnert. Paradoxerweise ist gerade die Biederkeit des Interieurs ein Lichtblick in diesem Beziehungsdunkel. Die Gegenstände sind verlässlich, weil sie eine Geborgenheit vermitteln, die es im Inneren der Menschen nicht gibt.
Brennan schwelgt nicht in nostalgischen Irland-Bildern, im Gegenteil. Sie liebt Details, aber keine beschwörenden Metaphern. Sie schreibt, wie sie sich präsentierte: akkurat. Ihre Sätze sind eher kurz, ihre Formulierungen prägnant, das Gegenteil von geschwätzig. Ihr Prosastil gleicht einem Eisberg, der nur einen kleinen Teil zeigt und den wesentlichen Teil verbirgt. Es ist ein Genuss, der eleganten Präzision und den Unterströmungen der Sprache auch in der deutschen Übersetzung von Hans-Christian Oeser zu folgen.
Oeser zitiert in einem Nachwort W. B. Yeats: „Nur das, was nicht predigt, was nicht aufschreit, was nicht zuredet, was nicht von oben herab kommt, was nicht erklärt, ist unwiderstehlich.“ In diesem Sinne sind Brennans Erzählungen unwiderstehlich und Meisterwerke dieses Genres. Denn wo sonst, wenn nicht in der klassischen „short story“, wird aus der Schilderung eines scheinbar unwichtigen Details ein ganzes Leben destilliert.
In den Erzählungen, die sich nicht um die Paare Derdon und Bagot drehen, zeigt Brennan eine weitere Facette ihrer literarischen Möglichkeiten: boshaften Biss und satirische Schärfe. Brennans „New Yorker Geschichten“ karikieren die snobistischen Bewohner aus „Herbert’s Retreat“, einer in sich geschlossenen Wohnsiedlung vor den Toren New Yorks, und entlarven deren bourgeoises Gehabe. Die wunderbar porträtierten Dienstmädchen der feinen Herrschaften sind junge Irinnen, die unentwegt über ihre Arbeitgeber spotten.
Erst 1999, sechs Jahre nach dem Tod der Schriftstellerin, fand der Lektor des Houghton Mifflin Verlags, Christopher Carduff, in den Archiven einer amerikanischen Universität das Manuskript der Novelle Die Besucherin, die Maeve Brennan bereits Ende der vierziger Jahre verfasst, aber nie veröffentlicht hatte. In ihr kehrt die junge Anastasia aus Paris nach Dublin zurück, um nach dem Tod der Mutter wieder bei ihrer Großmutter zu leben. Die kalte Frau, die Anastasias Mutter für den Tod ihres einzigen Sohnes verantwortlich macht, nimmt sie über die Weihnachtstage auf, weist sie dann aber aus dem Haus. Eine Exilantin kommt heim, findet aber keinen Platz im Haus und im Herzen derjenigen, die sie mit glücklichen Kindheitstagen verbindet. Am Schluss dieser Novelle ist Anastasia wie ihre Großmutter emotional verarmt, obdachlos und verfällt dem Wahnsinn.
Ob Maeve Brennan schon als junge Frau geahnt hat, dass ihr ein gleiches Schicksal bevorsteht? Wenn sie in New York von Zimmer zu Zimmer zog, dann legte sie auf bestimmte Dinge besonderen Wert: Es musste einen Kamin geben, einen Teekocher und Platz für ihren Hund Bluebell und die Katzen. Sie war kinderlos und nur einmal kurz mit einem Kollegen verheiratet.
In den späten Siebzigern wurde Maeve Brennan sonderbar und vernachlässigte sich. Sie litt unter schizophrenen Schüben und musste mehrfach hospitalisiert werden. Herzerschütternd sind die Beschreibungen ehemaliger KollegInnen darüber, wie sie viele Jahre in einer Abstellkammer neben der Damentoilette in den Redaktionsräumen des New Yorker hauste. Zuletzt verkümmerte sie in der Psychiatrie. 1993 starb sie einsam, verarmt und vergessen.
In Die Besucherin heißt es: „Sie sah, wie sich das
elende Tor ihrer Niederlage bereits vor ihr auftat. Es blieb ihr nur
noch, darauf zuzulaufen, darunter hindurchzugehen und es hinter sich
zu bringen.“
Das Prädikat „Weltliteratur“ wurde den
Texten von Maeve Brennan leider erst postum verliehen.
Am 29. November um 20.15 Uhr stellen Astrid Braun und Christiane Weiss (SWR) bei den Stuttgarter Buchwochen Maeve Brennan mit Vortrag und Lesung im Buchcafé vor.
Zum Weiterlesen:
Die Besucherin. Novelle. 2003. 95 Seiten, 14 Euro (als TB 7 Euro)
Mr. und Mrs. Derdon. Geschichten einer Ehe. 2006. 192 Seiten, 16 Euro (als TB 8 Euro)
Der Teppich mit den großen pinkfarbenen Rosen. Erzählungen. 2007. 174 Seiten, 16 Euro
Der Morgen nach dem großen Feuer. Erzählungen. 2009. 160 Seiten, 16 Euro
Der Tanz der Dienstmädchen. New Yorker Geschichten. 2010. 224 Seiten, 18 Euro
Alle auf Deutsch erschienenen Bücher von Maeve Brennan sind im Steidl Verlag, Göttingen, lieferbar und von Hans-Christian Oeser übersetzt, der damit für den Deutschen Buchpreis 2009, Kategorie Übersetzung, nominiert wurde.
Astrid Braun, Jahrgang 1958, studierte Germanistik und Romanistik. Sie war viele Jahre als Verlagsredakteurin, Literatur- und Kulturjournalistin tätig und ist seit 2005 Geschäftsführerin des Stuttgarter Schriftstellerhauses.