Wortseliger Wirklichkeitsträumer

Dem Hausmann, Aushilfskellner und Dichter Walle Sayer zum Fünfzigsten

 

Von Helmut Engisch

 

„Eine lichte Mähne, einen Stoppelbart, laß ich mir wachsen ab heute. Kuriere die Sehnsucht aus. Nage die Stunden ab. Knüpfe ein Fluchtseil aus meinen Krawatten. Zünd eine herausgerissene Tagebuchseite an. Streiche alles Nichtzutreffende, bis nichts mehr übrig ist. Benütz ein Babyphon als Stimmverzerrer. Warte, bis jemand auf einen Glückspfennig rausgeben kann. Schenke der Nacht ein Sternendiadem. Nehm einen Kerzenstummel als Festbeleuchtung. Und halte ein leeres Versprechen.“

 

Ob das hilft? Und wenn ja, gegen welche Missstimmung, gegen welchen Katzenjammer? „Gegenzauber“ hat Walle Sayer diese Prosa-Miniatur genannt, und zu finden ist sie in seinem Buch Von der Beschaffenheit des Staunens. „Gegenzauber“ – also muss da ja wohl etwas aus der Welt gehext werden. Schwindelgefühle vor dem Sprung in das sechste Lebensjahrzehnt vielleicht? Ein kleines Seelenzipperlein angesichts der sich rundenden Jahresringe?

Wie immer ist Walle Sayer auch in diesem Text, wenn überhaupt, nur ein flüchtiger Gast. Allenfalls die Anspielung auf eine leicht gelichtete Mähne und auf Spuren eines Stoppelbarts könnten auf seine Text-Präsenz hindeuten. Der Vorsatz dagegen, ein „Fluchtseil“ aus Krawatten zu knüpfen, weist geradewegs ins Abseits auf dem Spielfeld autobiografischer Mutmaßungen. Zu solcherlei textilen Knüpfkünsten ist der Dichter aus schlichtem Materialmangel außerstande. Das Motiv der ausgeprägt kargen Festbeleuchtung wiederum könnte zum unprätentiösen Meister der Selbstbescheidung passen. Ausnahmsweise aber, zu seinem Jubeltag am 13. September, sollen ihm fünfzig strahlende Kerzenlichter auf- und angesteckt werden. An deren Schein und Widerschein soll er sich bis zum letzten Wachstropfen wärmen.

Aber vielleicht lässt er sich ja zum Aufbruch ins neue Jahrzehnt lieber ein hochsommerliches Morgenlüftchen um die Bartstoppeln wehen. So, wie er’s auch an weniger zahlenmagischen Tagen hält: acht Kilometer im Laufschritt durch den Wald hinterm Haus am Rand des Horber Stadtteils Dettingen. Und wenn er für die morgendliche Ertüchtigungstour weniger als eine Stunde braucht, ist er zufrieden mit seiner persönlichen Fitness-Bilanz. Überhaupt ist ja die Ausdauerstrecke seine Spezialdisziplin. Auch und gerade auf dem Hindernisparcours der Poesie.

 

Vor einem Vierteljahrhundert ist im Verlag von Klaus Gasseleder in Bremen Walle Sayers erster Gedichtband erschienen. Sein Titel hatte Programmcharakter: Die übriggebliebenen Farben. Als ein unbestechlicher Archivar des Erinnerns hat sich der gelernte Bankkaufmann zu Wort gemeldet, als ein wortseliger Wirklichkeitsträumer ist er bis heute den Farbtönen verblichener Hoffnungen, den Konturen unscheinbarer Verzweiflungen auf der Spur. Und oft führt diese Spur nach Bierlingen, in seine Kinderwelt. In diesem Bauerndorf über dem Neckartal ist er aufgewachsen, dort hat er die Mäusespuren der Menschen lesen gelernt und aufgeschaut zu den Luftspiegelungen noch ungerichteter Sehnsüchte: „Weithin der hohe Kirchturm, / seine Glocken, / die zu Taufen läuten und zum Tod, / darunter wir, / eine ganze Kindheit lang, / schauend, empor / zu seiner Spitze, / bis zwischen Licht und Wolken / er für immer anfing / still zu schwanken.“

 

Nach der Schulzeit zeigte sich ihm die Zukunft als Rätsel, eine Lehre zum Bankkaufmann bei der Kreissparkasse Tübingen sollte als Lösung taugen. In jener Zeit hat Walle Sayer „die Dichtung entdeckt als lebensnotwendige Gegenwelt“. Und nach und nach hat er sich eingerichtet in dieser Gegenwelt, auch „selber Gedichte probiert“. Und einen anderen Beruf als den des Dichters konnte sich der Nachwuchs-Banker bald beim besten Willen zum weniger Unkonventionellen nicht mehr vorstellen. Der Alltag aber wurde nun zum Überlebens-Puzzle. „Ich hab’ halt ‚rumgejobbt. Als Sprudelfahrer, als Praktikant im Kindergarten, als Deutschlehrer für Asylbewerber.“ Und als Virtuose der Zapfanlage hinterm Tresen im Nordstetter „Maier“, der alternativen Dorfkneipe des soziokulturellen „Projekt Zukunft“. „Wir machen die Provinz lebendig“, war der wildentschlossene Wahlspruch dieser jugendbewegten Initiative, die heute im edlen Ambiente des Horber Kulturklosters daheim ist. Auch literarisch hat Walle Sayer von seinen „zwölf Semestern Alltagsstudien in der Kneipe“ profitiert als ein diskret-distanzierter Beobachter der Bierfilz-Kumpaneien.

Der unbeirrbare Wort- und Erinnerungs-Destillateur hat dann 1982 „im Eigenverlag was herausgegeben – da war ich größenwahnsinnig!“ Im Rückblick erschrickt er fast vor dieser Mutprobe. Und seine Fortschritte in den poetischen Künsten beschreibt er ausgesprochen lakonisch: „Mr lauft halt weiter von Gedicht zu Gedicht.“ So wurde das Schreiben zur Lebensform. „Nix anderes hätt’ ich machen wollen.“ Der Illusion, als Dichter vom Schreiben leben zu können, hat er sich jedoch nie hingegeben. Weil er im Leben abseits der Dichterstube eben doch kein Träumer ist, sondern ein sanft melancholischer Realist. So ist die Brotarbeit bis heute die eine Seite seiner Poetenexistenz. Und wer ihn nach seinem Beruf fragt, dem legt er als Antwort einen Dreierpack zur Auswahl vor: „Hausmann, Aushilfskellner, Autor.“ Genau in der Reihenfolge. Irgendwo dazwischen aber steckt oder versteckt sich der Dichter.

 

Natürlich ist Walle Sayer nichts anderes als ein Dichter, ein Feinmechaniker der Sprache und ein Magier der knappen Form. Und ein vielfach mit Preisen Bedachter obendrein: Vera-Piller-Poesiepreis 1989, Thaddäus-Troll-Preis 1994, Förderpreis zum Hölderlinpreis der Stadt Bad-Homburg 1997, Berthold-Auerbach-Preis der Stadt Horb 1997, Förderpreis der Hermann-Lenz-Stiftung 1999, Ludwig-Uhland-Förderpreis 2009. Und die Staufer-Medaille des Landes Baden-Württemberg ist 2005 dazwischengerutscht. Zum Zeichen dafür, dass man auch im Ländle weiß, was man an ihm hat. Was Walle Sayer von solcherlei Auszeichnungen und ihren pekuniären Begleiterscheinungen hat, klingt prosaischer: Annehmlichkeiten, „um ein Jahr ruhig angehen zu können“.

 

Eine Sondergratifikation des Schicksals ist für Walle Sayer sein Tübinger Verleger Hubert Klöpfer. „Gutes Programm, schöne Bücher“, was will ein Poet mehr. So hat sich die literarische Geschäftspartnerschaft mit den Jahren zur Freundschaft ausgewachsen, die in verlässlicher Regelmäßigkeit mit einem neuen Gedichtband oder mit einer Sammlung von Prosa-Miniaturen besiegelt wird. Bald schon ist’s wieder Zeit für ein Bändchen mit „klassischen Gedichten, die vom Aussparen leben“. Mit Gedichten also, die vom stillen Unglück im Winkel erzählen oder von Sehnsuchtsfäden, die den Provinzalltag durchziehen. Die spinnt Walle Sayer gewöhnlich nach seinem Morgenlauf, wenn der 18-jährige Sohn Lukas und die 14-jährige Tochter Leonie zur schulischen Ertüchtigung aufgebrochen sind, wenn Ehefrau Jutta sich der Erziehung der Nordstetter Kinderschulschar widmet. Dann sitzt Walle Sayer in seiner Poesie-Werkstatt, gräbt in seinen Notizen und feilt an Gedichtentwürfen. Ausdauernd, die Worte auf der Goldwaage austarierend, den Wortklängen nachlauschend, die Silbenrhythmen auf feinste Unebenheiten prüfend. Damit das Gedicht sein Eigenleben entfaltet, denn „je dichter ein Gedicht ist, desto mehr weiß es, auch mehr als der Autor selbst“.

 

Zur Mittagszeit aber drängen sich die Hausmannspflichten wieder in den Tag. Donnerstags und sonntags wird gekellnert. Und mit ebenso verlässlicher Regelmäßigkeit lockt die Sportbegeisterung den Dichter zum Fußballtraining auf den Dettinger Kickplatz. Sein Stammplatz im Sturm der Altherrenmannschaft ist Walle Sayer so sicher wie sein Rang in der zeitgenössischen Lyrik. Aber Training muss sein: nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Und nach dem Gedicht ist vor dem Gedicht.

 

Zum Weiterlesen:

 

Irrläufer. Gedichte. 2000. 108 Seiten, 14,40 Euro

Kohlrabenweißes. Menschenbilder, Ortsbestimmungen, Prosazyklen. 2001. 172 Seiten (antiquarisch)

Von der Beschaffenheit des Staunens. Miniaturen, Notate und ein Panoptikum. 2002. 150 Seiten, 16 Euro

Den Tag zu den Tagen. Gedichte. 2006. 99 Seiten (antiquarisch)

Kerngehäuse. Eine Innenansicht des Wesentlichen. Prosagedichte. 2009. 111 Seiten, 16 Euro

(Alles bei Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen. Dort erscheint im Frühjahr 2011 ein Sammelband, der auch die vergriffenen Bücher enthält)

 

 

Helmut Engisch, geboren 1950 in Oberndorf, freier Journalist und Autor, hat sich nach jahrzehntelangem Genuss schwäbischer Hauptstadt-Turbulenzen wieder in die beschauliche Enge des oberen Neckartals zurückgezogen. Auch dort vergnügt er sich schreibend mit landesgeschichtlichen und literarischen Themen.